Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 32/2010

1.  Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09) folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – bis zur Schaffung einer entsprechenden Regelung durch den Gesetzgeber – dass ein unmittelbarer Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums bei unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfen besteht.

Der Anspruch besteht nicht für die Vergangenheit, sondern erst für die Zeit ab Urteilsverkündung am 9. Februar 2010, wie das BVerfG in einer weiteren Entscheidung noch einmal ausdrücklich klargestellt hat (Beschluss vom 24. März 2010 – 1 BvR 395/09).

1.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen , Beschluss vom 28.07.2010,- L 7 AS 864/10 B –

Bei einer einmaligen Übernahme von Übersetzungskosten handelt es sich um keinen laufenden Bedarf, der nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Voraussetzung für einen Härtefall ist.

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1.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.07.2010, – L 7 B 204/09 AS –

Keine Übernahme von Passbeschaffungskosten aufgrund der Härtefallregelung des BVerfG.

Auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gemäß Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Zwar hat der 20. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 10.03.2008 (L 20 AY 16/07, InfAuslR 2008, S. 320 = FEVS 60, S. 163) entschieden, dass Passbeschaffungskosten in voller Höhe zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Fall 4 AsylbLG erforderlich sind. Diese Entscheidung hatte aber das AsylbLG zum Gegenstand. Die sozialen Sicherungssysteme des AsylbLG einerseits und des SGB II andererseits sind (bereits) nicht vergleichbare Sicherungssysteme, weil sie unterschiedlich ausgestaltet sind und – jedenfalls hinsichtlich der Grundleistungen des § 3 AsylbLG – ein sehr unterschiedliches Leistungsniveau aufweisen.

Auch keine Übernahme der Passbeschaffungskosten gemäß § 73 SGB XII, denn danach können Leistungen der Sozialhilfe auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen (Satz 1), wobei die Leistungen als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden können (Satz 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist aber Voraussetzung hierfür, dass eine besondere, atypische Lebenslage vorliegt, die eine Nähe zu den anderen im Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geregelten Bedarfslagen, den unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) so bezeichneten "Hilfen in besonderen Lebenslagen", aufweist (zuletzt BSG, Urteil vom 28.10.2009, B 14 AS 44/08 R, m.w.N.).

Hinsichtlich der Übernahme von Passbeschaffungskosten liegt keine besondere, atypische Lebenslage vor, die eine Nähe zu den anderen im Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist. Denn die Übernahme von Passbeschaffungskosten weist keine Nähe zu den Hilfen bei Gesundheit (Fünftes Kapitel des SGB XII), der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Sechtes Kapitel), der Hilfe zur Pflege (Siebtes Kapitel) oder der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Achtes Kapitel) auf.

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1.3 – Landessozialgericht Sachsen- Anhalt , Beschluss vom 02.06.2010, – L 2 AS 138/10 B ER-

Ein Anspruch auf Übernahmen der Kosten für Nachhilfeunterricht gemäß § 21 Abs. 6 SGB II besteht dann, wenn der erfolgreiche Abschuss der Schullaufbahn gefährdet ist.

Hinweis: Das LSG hatte in der zitierten Entscheidung keine Gefährdung der Schullaufbahn angenommen, weil der Hilfebedürftige in keinem Fall schlechter als mit der Note befriedigend beurteilt worden war.

Zum Anspruch auf Nachhilfekosten auch ohne konkrete Gefährdung der Versetzung: Zimmermann, Das Hartz-IV-Mandat, Baden-Baden 2010, § 3 Rn. 86 ff.. mit Beispielrechnung zur Errechnung eines atypischen Bedarfes , welcher als Zuschuss vom Leistungsträger zu erbringen wäre .

Quelle : Nomos Hartz IV: Sozialrecht Das Existenzsicherungsrecht , Das Hartz-IV-Mandat von RA Ludwig Zimmermann, FASozR u FAArbR

www.hartz4.nomos.de

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++ Anmerkung: Siehe dazu – Zum Anspruch auf Nachhilfekosten auch ohne konkrete Gefährdung der Versetzung: Rechtsanwalt Ludwig Zimmermann, Das Hartz-IV-Mandat, Baden-Baden 2010, § 3 Rn. 86 ff.. – Leseprobe vom Nomos- Verlag hier veröffentlicht (Seite 11).

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2.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.06. 2010 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

BSG , Urteil vom 17.06.2010, – B 14 AS 17/10 R –

Nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 (Az 1 BvL 4/09) bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass die Regelleistung für Kinder gemäß § 28 Abs 1 Satz 3 Nr 1 SGB II im Jahr 2005 207 Euro betragen hat.

Es besteht keine Veranlassung zu dieser Frage nach Art 234 EGV den Europäischen Gerichtshof anzurufen oder eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu erwirken.

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3.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 01.06. 2010 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

BSG, Urteil vom 01.06.2010, – B 4 AS 60/09 R –

Keine Begrenzung der Unterkunftskosten bei Umzug in ein anderes Bundesland (Berlit in Münder, LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 22 RdNr 48, 51; Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 22 RdNr 47b; Knickrehm/Voelzke in Knickrehm/Voelzke/Spellbrink, Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II, DGST Praktikerleitfaden, 2009, S 21; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II Stand IX/2009 § 22 RdNr 95)

§ 22 Abs 1 Satz 2 SGB II findet bei Umzügen, die über die Grenzen des Vergleichsraums im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (siehe Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R) hinausgehen, keine Anwendung. Dies entspricht insbesondere der systematischen Stellung der Vorschrift, denn die Höhe der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten im Rahmen der abstrakten Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II wird ebenfalls im Vergleichsraum, also im kommunalen Bereich ermittelt. Zudem besteht auch die Obliegenheit zur Kostensenkung bei unangemessen hohen Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II nur innerhalb dieses Vergleichsraums. Schließlich ist die Reduktion des Anwendungsbereichs verfassungsrechtlich durch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit der durch Art 11 des Grundgesetzes gewährleisteten Freizügigkeit geboten.

juris.bundessozialgericht.de

4.   Entscheidungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 24.02.2010,- L 7 AS 1446/09 B ER –

Auch bei niedrigen Beiträgen (hier 33,66 EUR)im Eilverfahren ist eine Kürzung von Grundsicherungsleistungen um 20 % bis zur Durchführung des Hauptsacheverfahrens für Hartz IV – Empfänger unzumutbar

Denn auch bei niedrigen Beiträgen handelt es sich nicht mehr um Bagatellbeiträge .Diese Bewertung gebietet bereits der Charakter von Grundsicherungsleistungen als Sicherung des unbedingt notwendigen soziokulturellen Existenzminimums. Der verweigerte Rechtsschutz wird nicht dadurch plausibler und erträglicher, wenn dem Antragsteller zugemutet wird, nicht an einer bestimmten Zahl von Tagen pro Monat nichts zu essen oder zu trinken, sondern an jedem Tag im Monat 10 % weniger zu essen und zu trinken. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09; Pressemitteilung Nr 5/10) wird dieser Begründung endgültig der Boden entzogen).

Ein über Art 1 GG als Existenzminimum gewährleistetes Wohnen bedeutet nicht nur ein Dach über den Kopf t, sondern auch das Wohnen in Räumen mit einer angemessenen Raumtemperatur (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 28.05.2009, – L 7 AS 546/09 ER-).

Artikel 1 Grundgesetz gewährleistet ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das bedeutet nicht nur die Sicherung der physischen Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe an gesellschaftlichem, kulturellem und politischem Leben. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss vom Grundsicherungsträger und notfalls durch die Rechtsschutz gewährenden Instanzen eingelöst werden.

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++ Anmerkung: Anderer Auffassung SG Neuruppin , Beschluss vom 22.07.2010, – S 26 AS 463/10 ER – (Rechtsprechungsticker von Tacheles 30/2010)

Kein besonderes Eilbedürfnis liegt vor, wenn der von den Antragstellern gemeinsame begehrte Betrag in Höhe von 98,00 EUR für Kosten der Unterkunft, der etwa einem Anteil von 15 Prozent der für die Antragsteller addierten Regelleistung von 646,00 EUR entspricht.

Denn dieser Betrag liegt noch unterhalb der Höhe des in der Regelleistung enthaltenen Ansparbetrages für einmalige Bedarfe in Höhe von etwa 20 Prozent (vgl. die ausführliche Darstellung der Gesetzesentstehung bei Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 09. Februar 2010, – 1 BvL 1/09, – 1 BvL 3/09 und – 1 BvL 4/09- ). Dementsprechend genügen grundsätzlich 80 Prozent der Regelleistung, um den gegenwärtigen Bedarf zu befriedigen und eine Notlage abzuwenden (für einen Abschlag von bis zu sogar 30 Prozent: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02. Februar 2006, – L 14 B 1157/05 AS ER; für einen Abschlag von 20 Prozent: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007, – L 7 SO 5672/06 ER-B-).

++ Anmerkung: Vergleiche dazu auch LSG NSB , Beschluss vom 23.06.2009, – L 7 AS 456/09 B ER- (Rechtsprechungsticker von Tacheles 29 KW / 2009)

Leistungen der Unterkunft und Heizung können vorläufig auch ohne unmittelbares Bevorstehen der Wohnungslosigkeit und Notlage gewährt werden , denn es ist nämlich nicht ersichtlich, was die Anspruchsvoraussetzungen für die Übernahme von Mietschulden gemäß § 22 Abs. 5 SGB II mit der Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums durch Gewährung von Arbeitslosengeld II, zu dem gemäß § 19 Satz 1 auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung gehören, zu tun haben. Vielmehr ist beim Streit um Arbeitslosengeld II in aller Regel ohne Weiteres ein Anordnungsgrund zu bejahen, weil gerade diese Leistung dazu bestimmt ist, den Lebensunterhalt und ein menschenwürdiges Wohnen zu gewährleisten.

++ Anmerkung: Vergleiche dazu auch LSG NRW , Beschluss vom 08.07.2009, – L 7 B 188/09 AS ER- (Rechtsprechungsticker von Tacheles 29 KW / 2009)

Hartz IV: Regelleistung darf im EA – Verfahren nicht auf 70 % begrenzt werden.

Eine Begrenzung der Regelleistung kommt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf 70 % unter Hinweis auf eine ansonsten eintretende Vorwegnahme der Hauptsache nach der Rechtsprechung des Senats bei Vorliegen eines glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs nicht in Betracht (Beschluss des erkennenden Senats vom 14.05.2009 – L 7 B 72/09 AS ER; ebenso LSG NRW, Beschluss vom 0205.2007 – L 20 B 310/06 AS ER; LSG NRW, Beschluss vom 29.09.2006 – L 9 B 87/06 AS ER). Ein Abwarten auf das Hauptsacheverfahren ist im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der pauschalierten Regelleistung nach § 20 SGB II und des Bedarfsdeckungsgrundsatzes nicht zumutbar. Es ist Bestandteil des effektiven Rechtsschutzes, dass, wenn ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht wird, die notwendigen Leistungen zeitnah zur Verfügung stehen sollen. Denn jede Einschränkung der Leistungshöhe auf einen Betrag unterhalb der ungekürzten Regelleistung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren stellt einen erheblichen Eingriff dar. Würde insoweit einstweiliger Rechtsschutz nicht umfassend gewährt, käme es auch zu einer Ungleichbehandlung gegenüber den Fallgestaltungen nach § 86b Abs. 1 SGG.

4.1 – Landessozialgericht Niedersachsen- Bremen, Urteil vom 17.06.2010, – L 15 AS 96/10 -, Revision zugelassen

Kein Arbeitslosengeld II während Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe

Maßgeblich für den gesetzlichen Leistungsausschluss ist , dass auch während der Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe ein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung erfolgt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch). Damit besteht vom Tag der Aufnahme an kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II.

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++ Anmerkung: LSG Baden-Württemberg L 3 AS 668/09, Urteil vom 07.10.2009, Revision anhängig beim BSG – B 14 AS 81/09 R-

Auch die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB ist eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II (Rechtsprechungsticker von Tacheles 31/2010).

4.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen , Beschluss vom 27.07.2010 , – L 7 AS 925/10 B –

Rechtsfolgenbelehrungen des Grundsicherungsträgers müssen den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 30/09 R Rn. 22; Urteil vom 18.02.2010 – B 14 AS 53/08 R Rn. 20 ff.) genügen.

Denn das BSG fordert in diesem Zusammenhang, dass insbesondere eine Umsetzung der in Betracht kommenden Verhaltensanweisungen und möglicher Maßnahmen auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalls erfolgt. Zur Begründung weist das BSG darauf hin, dass diese strengen Anforderungen an den Inhalt der Rechtsfolgenbelehrung vor allem deshalb geboten sind, weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungsleistungen, wie aus der Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) hervorgeht, um einen schwerwiegenden Eingriff handelt.

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4.3 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.07.2010, – L 7 AS 864/10 B –

Gewährung von Prozesskostenhilfe zu der Frage, ob Übersetzungskosten einen Bedarf darstellen, der von den Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II umfasst ist.

Insoweit könnte sich eine vergleichbare Fallgestaltung zur der streitigen Frage der Übernahme von Passbeschaffungskosten nach dem SGB II ergeben (vgl. Landessozialgericht NRW, Beschluss vom 22.07.2010, L 7 B 204/09 AS).

Auch aus dem Grundgesetz (GG) kann der Leistungsanspruch nicht hergeleitet werden, denn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09 – BGBl. I S. 193) entschieden, dass die Regelleistung des § 20 SGB II nicht denjenigen besonderen, laufenden, nicht nur einmaligen und unabweisbaren Bedarf zu erfassen vermag, der zwar seiner Art nach berücksichtigt wird, dies jedoch nur in durchschnittlicher Höhe. Tritt in Sondersituationen ein höherer, überdurchschnittlicher Bedarf auf, erweise sich die Regelleistung als unzureichend. Auch hier könnten einmalige oder kurzfristige Spitzen im Bedarf durch ein Darlehen nach § 23 Abs. 1 SGB II ausgeglichen werden. Bei einem längerfristigen, dauerhaften Bedarf sei das indessen nicht mehr möglich. Deshalb bedürfe es neben den in §§ 20 ff. SGB II vorgegebenen Leistungen noch eines zusätzlichen Anspruchs auf Leistungen bei unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligem und besonderem Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Anspruch entstehe aber erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen – das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Dieser zusätzliche Anspruch dürfte angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen Fällen entstehen.

Ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger und besonderer Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums in dem vorgenannten Sinne liegt hier nicht vor. Denn die Klägerin begehrt die einmalige Übernahme von Übersetzungskosten, so dass es bereits an einem laufenden Bedarf fehlt, der nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Voraussetzung für einen Härtefall ist.

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4.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.07.2010, – L 7 AS 60/09 –

Aufwendungen für Schönheitsreparaturen können gemäß § 22 Abs. 1 SGB II Aufwendungen für die Unterkunft im Sinne dieser Norm sein (BSG, Urteil vom 19.03.2008, B 11b AS 31/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 10).

Ein Anspruch scheitert jedoch daran, dass zwar eine vertragliche Regelung vorliegt, aufgrund dessen sie als Mieterin zur Durchführung der Schönheitsreparaturen verpflichtet ist, diese jedoch zivilrechtlich unwirksam ist. Es verbleibt daher bei dem Grundsatz des § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach die Schönheitsreparaturen als Aufwendungen zur Erhaltung der Mietsache vom Vermieter durchzuführen sind.

Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft, die auf einer zivilrechtlich unwirksamen Grundlage beruhen, können und dürfen nicht dauerhaft aus öffentlichen Mitteln bestritten werden (BSG, Urteil vom 22.09.2009, B 4 AS 8/09 R (Rn. 21)).

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4.5 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 12.05.2010, – L 16 AS 829/09 –

Bei einer Zahlungsaufforderung der Bundesagentur für Arbeit, mit der diese die Rückzahlung von Leistungen anmahnt, ist der Widerspruch gegen die Festsetzung der Mahngebühren zulässig.

Ein Verwaltungsakt ist in § 31 Satz 1 SGB X als hoheitliche Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalls mit Rechtswirkung nach außen definiert. Der Beklagten ist zwar zuzustimmen, dass die Mahnung als unselbständige Vorbereitungshandlung zur Vollstreckungsanordnung (§ 3 Abs. 4 VwVG) oder zu den eigentlichen Vollstreckungshandlungen nicht anfechtbar ist (vgl. u.a. BSG, Beschluss vom 05.08.1997, Az. 11 Bar 95/97 unter Bezugnahme auf Appt/Engelhardt, VwVG/VwZG, 4. Auflage, 1996, § 3 RdNr. 4).

Jedoch stellt die Festsetzung von Mahngebühren in bestimmter Höhe auf gesetzlicher Grundlage ein hoheitliches Handeln mit Außenwirkung zur Regelung eines Einzelfalls dar. Die Regelung besteht darin, dass der Antragsteller unmittelbar dadurch verpflichtet wird, die Mahngebühr zu zahlen (vgl. auch Sächsisches LSG, Urteil vom 25.02.2010, L 2 AS 451/09, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.02.2010, L 22 LW 2/10 B ER, Hessischer VGH, Beschluss vom 05.11.2008, 6 A 713/08, Appt in Engelhardt-Appt, VwVG und VwZG, 8. Auflage 2008, § 19, RdNr. 7).

++ Anmerkung: Sächsisches LSG, Urteil vom 25.02.2010, – L 2 AS 451/09 -, Revision anhängig beim BSG – B 14 AS 54/10 R – (Rechtsprechungsticker von Tacheles 12/2010)

Mahngebührenfestsetzungen der Bundesagentur für Arbeit wegen ALG II-Rückforderungen sind rechtswidrig.

4.6 – Sozialgericht Dresden , Beschluss vom 28.07.2010, – S 6 AS 2932/10 ER –

Bei der Blindenhilfe gemäß § 72 Abs. 1 SGB XII handelt es sich um eine zweckbestimmte Einnahme im Sinne von § 11 Abs. 3 SGB II.

Der Gesetzgeber wollte mit dem pauschalierten Bedarf den blinden Menschen ermöglichen in freier Entscheidung Anschaffungen zu tätigen, welche ihm das Leben erleichtert (vgl. zum Ganzen BVerwGE 32, 89; 51, 281, 289 m. w. N.). Er soll unter Anderem auch in die Lage versetzt werden bei Bedarf Hilfspersonen anzustellen und bezahlen zu können Auf den Nachweis der Zweckverwendung hat der Gesetzgeber bewusst verzichtet. Die Möglichkeit die Blindenhilfe zu versagen, wenn deren Zweck nicht erreichbar war (§ 67 Abs. 4 Satz 2 BSHG) hat der Gesetzgeber abgeschafft.

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4.7 – Sozialgericht Berlin , Urteil vom 15.07.2010, – S 128 AS 36212/08 –

Für die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe c SGB II müssen drei Voraussetzungen gegeben sein.

Neben einer auf Dauer angelegten eheähnlichen oder nicht eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und dem wechselseitigen Willen, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, ist auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt im Sinne einer Wohn- und Wirtschaftgemeinschaft erforderlich (vgl. Hänlein in Gagel, SGB III, § 7 SGB II, Rn. 46 ff.; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7, Rn. 44 ff., Landessozialgericht (LSG) Sachsen, Beschluss vom 10. September 2009 – L 7 AS 414/09 B ER – ). Für ein Zusammenleben ist ein auf Dauer angelegtes gemeinsames Wohnen notwendig (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2007 – B 11a/7a AL 52//06 R – SozR 4-4300 § 144 Nr. 16). Der Begriff der Wirtschaftsgemeinschaft wird gegenüber der Wohngemeinschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder nicht nur vorübergehend in einer Wohnung leben, sondern einen gemeinsamen Haushalt in der Weise führen, dass sie aus einem "Topf" wirtschaften (vgl. zur Haushaltsgemeinschaft BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 68/07 R – BSGE 102, 258-263). Die Anforderungen an das gemeinsame Wirtschaften gehen daher über die gemeinsame Nutzung von Bad, Küche und gegebenenfalls Gemeinschaftsräumen hinaus. Auch der in Wohngemeinschaften häufig anzutreffende gemeinsame Einkauf von Grundnahrungsmitteln, Reinigungs- und Sanitärartikeln aus einer von allen Mitgliedern zu gleichen Teilen gespeisten Gemeinschaftskasse begründet noch keine Wirtschaftsgemeinschaft (vgl. ebenfalls zur Haushaltsgemeinschaft BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 – B 14 AS 6/08 R – SozR 4-4200 § 9 Nr. 6). Die letztgenannten Entscheidungen des BSG zur Haushaltsgemeinschaft gelten für die Bedarfsgemeinschaft erst Recht. Denn der Begriff der Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 5 SGB II ist nicht so weitgehend wie der einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die darüber hinaus eine enge Bindung der Partner in Form einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft voraussetzt (vgl. Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 9, Rn. 52).

Unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 3a SGB II kann der oben genannte wechselseitige Wille vermutet werden, um den Leistungsträger von der Ausforschung im Bereich der privaten Lebenssphäre der Betroffenen zu entbinden, Eingriffe in deren Intimsphäre zu vermeiden und diese nicht zu nötigen, gegen ihren Willen auch allerpersönlichste, innerste Gedanken und Motive für das Zusammenleben mitzuteilen (vgl. BSG, Urteile vom 5. Mai 2009 – B 13 R 53/08 R – SozR 4-2600 § 46 Nr. 5 – und B 13 R 55/08 R – SozR 4-2600 § 46 Nr. 6 – zu § 46 Abs. 2a SGB des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch unter Hinweis auf § 7 Abs. 3a SGB II). Die Vermutung kann widerlegt werden (Beweis des Gegenteils, § 294 der Zivilprozessordnung) und wirkt sich nur auf die Darlegungslast des Leistung begehrenden Hilfebedürftigen aus, wobei an den Gegenbeweis keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind. Sie befreit weder den Leistungsträger noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit von ihrer Amtsermittlungspflicht.

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5.   Entscheidungen zur Sozialhilfe (SGB XII)

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.06.2010, – L 9 SO 163/10 –

Ein geistig behinderter Sozialhilfeempfänger kann Anspruch haben auf Übernahme der Kosten für die Ferienfreizeit im Sommer 2010.

Als Anspruchsgrundlage für das Begehren kommen allein die §§ 53 Abs. 1, 3 u. 4, 54 Abs. 1 SGB XII, 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 7, 58 Nr. 1 SGB IX in Betracht, deren Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen.

Ein Anspruch auf die begehrte Kostenübernahme scheitert allerdings daran, dass die Teilnahme an der Ferienfreizeit, deren Kostenübernahme begehrt wird, im Hinblick auf den Kläger nicht zur Erfüllung der besonderen Aufgaben der Eingliederungshilfe dient. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, ihm die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (vgl. § 53 Abs. 3 SGB XII). Nach §§ 53 Abs. 4, 54 Abs. 1 SGB XII, 55 Abs. 1 SGB IX werden Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft als Leistung der Eingliederungshilfe erbracht, die dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern. Dies sind gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX insbesondere auch Leistungen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen kulturellen Leben, wie sie in § 58 SGB IX weiter konkretisiert werden. Nach § 58 Nr. 1 SGB IX wiederum umfassen die Leistungen nach § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nicht behinderten Menschen, wozu auch Urlaubsreisen und Ferienlager gehören können (Luthe in Juris PK, Stand: 01.02.2010 Rn. 16 zu § 58 SGB IX).

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6.   Folienvortrag ALG II – Stand 04.08.2010 von Harald Thome

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Quelle Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de