Rechtsprechungsticker von Tacheles 38/2010

1.  Entscheidungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

 
Bayerisches Landessozialgericht Beschluss vom 22.08.2010, – L 16 B 508/08 AS PKH –

Eine schriftliche Kostensenkungsaufforderung seitens des Leistungsträgers stellt keinen Verwaltungsakt nach § 31 SGB X dar.

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++ Anmerkung: Bei dem Schreiben des Grundsicherungsträgers über die Unangemessenheit der Unterkunftskosten und Aufforderung zur Kostensenkung handelt es sich um ein Informationsschreiben mit Aufklärungs- und Warnfunktion und nicht um einen Verwaltungsakt(BSG, Urteil vom 19.2.2009, B 4 AS 30/08 R, Rdnr. 40; BSG, Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 10/06 R, BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2).

Bayerisches Landessozialgericht Beschluss vom 14.10.2008,- L 16 B 848/07 AS PKH –

Die Schonfrist von sechs Monaten gilt auch für die Heizkosten und es sind die tatsächlichen Heizkosten unabhängig von der Angemessenheit in analoger Anwendung von § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II für diese sechs Monate zu tragen.

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Landessozialgericht Sachsen-Anhalt , Beschluss vom 16.06.2010,- L 5 AS 383/09 B ER –

Unter 25 – jährige Hartz IV -Empfängerin erhält nur 80 % der Regelleistung, wenn sie ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers nach § 22 Abs. 2a SGB II umgezogen ist.

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Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.09.2010, – L 7 AS 801/10 B –

Prozesskostenhilfe ist auch bei einem Sparguthaben in Höhe von 2.270,15 EUR zu bewilligen.

Denn im einstweiligen gerichtlichen Verfahren muß ein Schonvermögen (hier gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4, Satz 2 Nr. 1 SGB II), sofern ein solches vorhanden ist, nicht immer und ausnahmslos zur Verneinung des Anordnungsgrundes führen, dies ist vielmehr anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls festzustellen und zu würdigen.

Der Verweis auf das Schonvermögen hätte der HB und der bei ihr lebenden minderjährigen Enkelin somit den letzten finanziellen Freiraum genommen.(vgl. zur Problematik Wünderich, SGb 2009, S. 267, 269 m.w.N.).

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Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.07.2010,- L 1 AS 11/07 –

Monatliche Grundgebühren für die Nutzung eines Breitbandkabelanschlusses sind ihrer Art nach erstattungsfähige Kosten der Unterkunft, wenn der Hilfebedürftige sie kraft Mietvertrags zu tragen hat und es sich um angemessene Aufwendungen handelt (BSG, Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 48/08 R).

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.09.2010,- L 25 AS 1046/10 B PKH –

Die Bewilligung von Leistungen für die Beschaffung eines Kraftfahrzeuges setzt voraus, dass der Behinderte entweder an einem bestimmten Ort eine Arbeit; Ausbildung oder sonstige Bildungsmaßnahme aufnehmen will oder diese bereits aufgenommen hat.

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Sozialgericht Berlin, Urteil vom 28.07.2010, – S 174 AS 21449/07 –
Kosten für einen Ersatzneubau einer Fäkaliengrube sind keine Kosten der Unterkunft.

Denn nur Instandhaltungs-/Instandsetzungskosten sind als Kosten der Unterkunft anzuerkennen und dies auch nur dann, soweit diese nicht zu einer Verbesserung des Standards führen und angemessen sind.

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Sozialgericht Hildesheim Urteil vom 09.07.2010,- S 26 AS 1737/09 –

Nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (3:Auflage) – kann – bei einem Morbus Crohn ein ernährungsbedingter Mehrbedarf vorliegen.

Grundsätzlich ist jedoch bei dieser Erkrankung Vollkost die allgemein empfohlene Ernährungsform. Bei einem schweren Erkrankungsverlauf oder wenn besondere Umstände vorliegen, z. B. eine gestörte Nährstoffaufnahme, kann jedoch ausnahmsweise ein krankheitsbedingter Mehrbedarf vorliegen. So kann bei erkrankungsbedingtem Untergewicht (BMI unter 18,5) und/oder schnellem, krankheitsbedingten Gewichtsverlust (über 5 % des Ausgangsgewichts in den vorausgegangenen drei Monaten; nicht bei willkürlicher Abnahme bei Übergewicht), regelmäßig von einem erhöhten Ernährungsbedarf ausgegangen werden. (Abschnitt II. 2. Gliederungsnr. 4.2).

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2.  Entscheidungen zur Sozialhilfe ( SGB XII)

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 18.08.2010, – L 6 SO 5/10 –

Geistig Behinderter hat Anspruch Übernahme von Schulgeld im Wege der Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Hilfe zu einer angemessenen Schulausbildung.

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++ Anmerkung: Vgl. dazu Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.05.2010,- L 20 B 168/08 SO -; veröffentlicht im Rechtsprechungsticker von Tacheles 30/2010)

Gemäß § 12 Nr. 1 der EinglH-VO umfasst die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung neben heilpädagogischen auch sonstige Maßnahmen zu Gunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Es kommen insoweit grundsätzlich alle Maßnahmen in Betracht, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen (vgl. Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, 19. Erg.-Lfg. II/10, § 54 SGB XII Rn. 41, 44 unter Verweis auf BSG, Urteil vom 25.06.2008 – B 11b AS 19/07 R).

Grundsätzlich kann deshalb zwar – entsprechend einem zu zahlenden Schulgeld – auch die Übernahme von Beschulungskosten, wie sie auch im vorliegenden Fall streitig sind, als Eingliederungshilfe in Betracht kommen. Solche Kosten müssten dann Voraussetzung für den Besuch der betreffenden Schule zur Gewährleistung einer angemessenen Schulbildung sein (vgl. zur Übernahme eines Schulgeldes für den Besuch einer privaten Montessori-Grundschule Sozialgericht (SG) Marburg, Urteil vom 28.04.2008 – S 9 SO 38/07).

Ist Aufgabe der Eingliederungshilfe jedoch lediglich die Hilfeleistung zu einer angemessenen Schulbildung, so kann nicht jedwede ggf. darüber hinausgehende Hilfeleistung zu einer nach den Vorstellungen des Hilfeempfängers beziehungsweise seiner Erziehungsberechtigten bestmöglichen Schulbildung als Eingliederungshilfe verlangt werden (vgl. auch LSG NRW, Beschluss vom 31.03.2010 – L 12 B 19/09 SO ER, sowie BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 – 5 B 56/05).

3.  Was ändert sich für Arbeitslose aufgrund der Neuregelungen zur EU-Koordinierung?

Aufsatz von RiSG Berlin Udo Geiger in der info also 4/2010, ab S. 147

1. Einleitung

Am 1. Mai 2010 ist die VO Nr. 883/2004 vom 29.4.2004 und die zugehörige Durchführungsverordnung VO Nr. 987/2009 vom 16.9.2009 in Kraft getreten. Die für die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit bis dahin geltenden Art. 67-71 der VO Nr. 1408/71/EWG sind damit weitgehend abgelöst (1) worden.

Die Koordinierung von Ansprüchen auf Arbeitslosenunterstützung, die auf Beitrags- oder Versicherungszeiten beruhen, wie das Alg I nach dem SGB III, ist künftig in den Art. 61-65 VO Nr. 883/2004 geregelt. Die Art. 54-57 der Durchführungsverordnung VO Nr. 987/2009 ergänzen die Art. 61-65 der VO Nr. 883/2004 um Hinweise zur praktischen Umsetzung und zur Zusammenarbeit der Arbeitsverwaltungen der beteiligten Staaten.

Die Art. 61-65 VO Nr. 883/2004 gelten auch für Bezieher von Alg II, solange sie den Zuschlag nach § 24 SGB II erhalten. Das Alg II ohne Zuschlag ist in Anhang X. der VO Nr. 883/2004 als »beitragsunabhängige Geldleistung« aufgeführt, für die Art. 70 VO Nr. 883/2004 eine eigenständige Regelung bereithält.
(1) Die VO 1408/71 gilt weiter für Staatsangehörige von Drittstaaten

Weiter:

www.info-also.nomos.de (pdf)

4.  LSG NRW: Leistungen für Asylbewerber sind verfassungswidrig- Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.07.2010, – L 20 AY 13/09 – (Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 33 / 2010).

Dazu eine Kurzanmerkung von Christian Armborst und Uwe Berlit (info also 4/2010 ab S. 181):

Nicht erst seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelleistungen im SGB II sind gravierende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG geäußert worden. Schon bei Erlass des Gesetzes war die Legitimität und Zulässigkeit der Absenkung der Leistungen umstritten. Die Kürzung auf das für den Lebensunterhalt Unerlässliche (80% des Regelsatzes) mit der Begründung, es fehle an der Notwendigkeit, den Bedarf zur Teilhabe an der Gesellschaft zu berücksichtigen, lässt nicht nur die Frage offen, ob nicht zusätzliche Bedarfe durch die besondere Zwangslage der Asylsuchenden begründet werden. Insbesondere ist eine Berechtigung zur Absenkung der Leistungen für Kinder nicht anzuerkennen. Das gilt erst recht angesichts des regelmäßig längeren Aufenthalts im Bundesgebiet. Auch sonst hatten sich die Bedenken verstärkt, inwieweit sich Ungleichbehandlungen von Asylbewerbern und sonstigen geduldeten Ausländern gegenüber zum Bezug von Sozialhilfe- bzw. Grandsicherungsleistungen berechtigten Ausländern verfassungsrechtlich (eingehend S. Horrer, Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001) und vor dem Hintergrund des gemeinschaftsrechtlich geschaffenen Asyl(verfahrens)regimes rechtfertigen lassen. Diese Zweifel hatten sich allerdings in der Rechtsprechung nicht durchgesetzt; das BVerwG hatte die in § 2 AsylbLG vorgenommene Differenzierung (und damit auch die Leistungsabsenkung) mit der bestehenden Ausreisepflicht gerechtfertigt; dieser entspreche eine normativ schwächere Bindung an das Bundesgebiet, die auch die aus dem Sozialstaatsgebot folgende Einstandspflicht des Gesetzgebers für die auf seinem Gebiet lebenden Ausländer beeinflusst (BVerwG, Urt. v. 3.6.2003 – BVerwG 5 C 32.02 – FEVS 55, 114; s.a. Beschluss vom 29. September 1998 – BVerwG 5 B 82.97 – NVwZ 1999, 669). Diese Begründung wird indes um so weniger tragfähig, je länger die Vorbezugszeit abgesenkter Leistungen bemessen wird; bei Personen, die nach den strikten Kriterien der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (zuletzt BSG, Urteil vom 2. Februar 2010 – B 8 AY 1/08 R -) durch »rechtsmissbräuchliches Verhalten« ihre Aufenthaltsdauer beeinflusst haben und daher dauerhaft auf Grandleistungen verwiesen sind, nicht selten aber absehbar dauerhaft im Bundesgebiet verbleiben werden, versagt dieser Begründungsansatz vollständig. Hier hilft dann nur eine Veränderung des aufenthaltsrechtlichen Status, der aus humanitären Gründen den faktischen Daueraufenthalt in einen auch rechtlich abgesicherten Daueraufenthalt wandelt. Vor diesem Hintergrund hätte auch Anlass bestanden, die Dauer der – rückwirkend verlängerten – Vorbezugszeit zu überprüfen.

Mit dem Regelleistungsurteil vom 9. Februar 2010 haben sich jedenfalls die Zweifel an der Verfassungsgemäßheit der Höhe der Grundleistung zur Gewissheit ihrer Verfassungswidrigkeit verdichtet (s. etwa Hohm ZfSH/SGB, 2010, 269 ff.; Kingreen, NVwZ 2010, 558; Rothkegel, ZAR 2010 [i.E.]). Da die Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG seinerzeit vom BSHG abgeleitet worden und diese bis heute nicht angepasst worden sind, spricht alles dafür, dass alle Gründe, die zur Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geführt haben, in noch viel stärkerem Maße die Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Grundgesetz begründen dürften. Der Menschenwürdekern des Grundrechts auf menschenwürdige Existenzsicherang schützt und begünstigt auch Asylbewerber. Die materiellrechtlichen und prozeduralen Aussagen des Urteils sind daher im dogmatischen Ansatz auch auf das Leistungssystem des Asylbewerberleistungsgesetzes zu übertragen. Die seit fast zwei Jahrzehnten unveränderte Höhe ist dabei eine fiskalisch und einwanderungspolitisch motivierte Setzung; sie ist noch nicht einmal mehr eine ebenso unzulässige »Schätzung ins Blaue« hinein (s.a. Kingreen, NVwZ 2010, 558 [562]). Zumindest wegen des Festsetzungsverfahrens sind daher die Leistungen verfassungswidrig. Diskussionswürdig ist allein, ob die Höhe der Grundleistung bei einer eingeschränkten Prüfung auch im Ergebnis als evident unangemessen niedrig zu beanstanden ist (so etwa Kingreen, NVwZ 2010, 558 <559>) oder hier – bei verfassungskonformer Auslegung – der Rückgriff auf die Leistungen nach § 6 AsylbLG die evidente Verfassungswidrigkeit ausschließen (dazu OVG Bremen, Urteil v. 25. September 2009
– S 3 A 272/07 – InfAuslR 2010, 170, das allerdings die Darlegungsanforderungen im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem die Untersuchungsmaxime gilt [§ 103 SGG], vorschnell den Darlegungsanforderungen bei einer Verfassungsbeschwerde anpasst).

Als – soweit ersichtlich – erstes Landessozialgericht hat das LSG Essen inzwischen (Beschluss vom 26. Juli 2010 – L 20 AY 13/09 -) ein Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 sowie § 3 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das LSG hält die zentrale Bestimmung zur Leistungshöhe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar. Es hält die Leistungen sogar für evident unzureichend, weil der Gesetzgeber zwar befugt sei, für Asylbewerber ein eigenes Konzept zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu entwickeln, aber keine Gründe ersichtlich seien, das Existenzminimum nach dem SGB II bzw. SGB XII um ein knappes Drittel zu unterschreiten. Ein ersichtlich zu niedrig bemessenes Niveau der Grundleistungen könne auch nicht durch eine »extensive Nutzung« der Härtefallregelung (§ 6 AsylbLG) ausgeglichen werden.

Parallel dazu dürfte sich die Frage nach der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses in § 23 Abs. 2 SGB XII mit der Verfassung stellen. Zumindest dann, wenn die Leistungshöhe auch im Ergebnis als evident zu niedrig anzusehen ist, kommt eine übergangslose Kassation in Betracht.

S.a:

§§ 1 ff. AsylbLG; Art 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG; § 73a SGG
Verfassungskonformität des Asylbewerberleistungsgesetzes

Landessozialgericht Baden-Württemberg

Beschluss vom 30. April 2010 – L 7 AY 3482/09 B

Leitsatz:

Es ist offen, ob die Höhe der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 u.a.) an die Bemessung existenzsichernder Leistungen zu stellen sind.

Quelle: Willy V

www.elo-forum.org

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de