Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 09.02.2011 – Az.: S 54 AS 2449/08

Beschluss
 
In dem Rechtsstreit
xxx
Vertreten durch xxx
Klägerin,
 
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx
Beklagter,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 54. Kammer – am 9. Februar 2011 beschlossen:

Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte erstatten.

Gründe:
Die Kammer hat gemäß § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf Antrag durch Beschluss zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren — wie hier durch Klagerücknahme — anders als durch Urteil beendet wird.

Die Kostengrundentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, wobei unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes insbesondere auf die Erfolgsaussichten abzustellen ist (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 9. Auflage 2008, § 193 Rn. 13 m.w.N.). Weitere Kriterien für die Kostenentscheidung sind vor allem das erreichte Prozessergebnis, die Umstände, die zur Erhebung der Klage führten, sowie die Umstände, die zur Erledigung des Rechtsstreits geführt haben (vgl. Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Auflage 2005, Rn. 610 und 613 m.w.N.). Daran anknüpfend hat das Bundesverfassungsgericht (2. Kammer des 1. Senates) in seinem Nichtannahmebeschluss vom 01.10.2009 (Az.: 1 BA 1969/09, NZS 2010, S. 384 ff. = juris, namentlich Rn. 17) Folgendes ausgeführt:

„aa) Die nach § 193 Abs. 1 SGG zu treffende Entscheidung, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander – außergerichtliche – Kosten zu erstatten haben, liegt mangels besondere Regelungen über den Inhalt der zu treffenden Entscheidung im sachgemäßen Ermessen des Gerichts; die Regelungen der §§ 91 ff. ZPO finden keine unmittelbare Anwendung (vgl. BSG, Beschluss vom 24. Mai 1991 – 7 RAr 2/91 -, juris, Rn. 3 f.; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 193 Rn. 12; Knittel, in: Hennig, SGG, § 193 Rn. 22 <August 2009>; Groß, in: Lüdtke, Handkommentar-SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 20). Vielfach orientieren sich die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit an den Grundgedanken der §§ 91 ff. ZPO und der §§ 154 ff. VwGO (vgl. Knittel, in: Hennig, SGG, § 193 Rn. 23 <August 2009>; Groß, in: Lüdtke, Handkommentar-SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 20). So besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Kostengrundentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG bei Erledigung des Rechtsstreits z.B. durch übereinstimmende Erledigungserklärung, wie sie hier erfolgt ist, entsprechend dem Rechtsgedanken des § 91a ZPO und des § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu erfolgen hat. Maßgebend sollen dabei vor allem die mutmaßlichen Erfolgsaussichten der Klage sein (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Mai 2007 – B 7b AS 40/06 R juris, Rn. 5; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 193 Rn. 13 m.w.N.; Groß, in: Lüdtke, Handkommentar-SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 23 m.w.N.). Darüber hinaus hat das Gericht aber nach verbreiteter Ansicht auch alle anderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und insbesondere die Gründe für die Klageerhebung und die Erledigung zu prüfen (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 193 Rn. 12b, 13 m.w.N.; Groß, in: Lüdtke, Handkommentar-SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 22; Straßfeld, in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 8; siehe auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Januar 1998 – L 13 Ar 3633/97 aK-B-, juris, Rn. 4: "auch andere für eine gerechte Verteilung der Kosten bedeutsame Umstände zu berücksichtigen."). Diese sonstigen Gesichtspunkte werden meist unter den Begriffen des "Veranlassungsprinzips" oder des "Veranlassungsgrundsatzes" zusammengefasst (vgl. BSG, Beschluss vom 16.Mai 2007 – B 7b AS 40/06 R juris, Rn. 5; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 193 Rn. 12b m.w.N.; Groß, in: Lüdtke, Handkommentar-SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 20, 22 f.; Straßfeld, in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 8). Danach kann die Behörde zur Übernahme der außergerichtlichen Kosten des Klägers verpflichtet sein, obwohl die Klage ohne Aussicht auf Erfolg gewesen wäre, weil sie zum Beispiel durch eine unzutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids oder durch eine sonstige falsche Sachbehandlung Anlass für die Klageerhebung gegeben hat (vgl. BSGE 88, 274 <288>; BSG, Beschluss vom 16. Mai 2007 B 7b AS 40/06 R juris, Rn. 8). Umgekehrt kann der Kläger seine Kosten selbst zu tragen haben, obwohl er in der Hauptsache obsiegt hat oder hätte (vgl. BSG, Beschluss vom 24. Mai 1991 – 7 RAr 2/91 -, juris, Rn. 4). Insoweit kann auch maßgeblich sein, ob der Kläger unnötige Kosten verursacht hat (vgl. Leitherer, Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 193 Rn. 12b). So wird auch vertreten, dass eine Kostentragung der beklagten Behörde zu Lasten eines an sich erfolgreich gebliebenen Klägers im Einzelfall ausgeschlossen sein kann, wenn es dem Kläger möglich und zumutbar gewesen ist, ein Gerichtsverfahren zur Verwirklichung seines Anspruchs zu vermeiden (vgl. Straßfeld, in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 193 Rn. 9), insbesondere auf die frühzeitige Einlegung eines an sich zulässigen Rechtsbehelfs zu verzichten (vgl. z.B. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.Februar 2008 – L 19 B 98/07 AS -, juris, Rn. 14, 16; Beschluss vom 14. April 2008 – L 7 B 311/07 AS -, juris, Rn. 10)."

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze führt die Ausübung des der erkennenden Kammer nach § 193 Abs. 1 SGG eingeräumten Ermessens vorliegend zu dem Ergebnis, dass der Beklagte der minderjährigen Klägerin, der die Kammer bereits mit Beschluss vom 18.01.2010 ratenfreie Prozesskostenhilfe gewährt hat, ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten hat. Dabei berücksichtigt die Kammer ausgehend vom e.g. Erfolgsprinzip zum einen, dass die auf Gewährung einer einmaligen Beihilfe i.H.v. 70,84 € für die Anschaffung von Schulmaterialien für das Schuljahr 2008/2009 gerichtete, inhaltlich auf § 73 SGB XII und auf die Verfassungswidrigkeit des gesetzlich nach § 28 i.V.m. § 20 SGB II festgelegten, den Bedarf schulpflichtiger Hilfeempfänger nicht ausreichend berücksichtigenden Sozialgeldes gestützte Klage im Ergebnis ohne Erfolg geblieben wäre, weil das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 — 1 BvL 1/09 u.a. — (BVerfGE 125, 175 ff.) die e.g. Normen des SGB II nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar, indes bis zum Inkrafttreten einer nicht rückwirkend vorzunehmenden Neuregelung des Gesetzgebers, die bis zum 31.12.2010 zu erfolgen hatte, weiterhin für anwendbar erklärt hat und daneben durch das Urteil des BSG vom 28.10.2009 — B 14 AS 44/08 R — (SozR 4-4200 § 7 Nr. 15) im Laufe des Klageverfahrens höchstrichterlich entschieden wurde, dass § 73 SGB XII als Anspruchsgrundlage für die Gewährung weitergehender Leistungen zur Deckung von Bedarfen, die bei Schulpflichtigen durch den Schulbesuch ausgelöst werden, ausscheidet.

Zum anderen erscheint es der Kammer aufgrund des berücksichtigungsfähigen Veranlassungsgedankens unbillig, die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens allein der Klägerin aufzubürden, denn zutreffend weist die Klägerin darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09.02.2010 (a.a.O., Rn. 219) betont hat, die Verfassungswidrigkeit der ihm vorgelegten Vorschriften des SGB II und ihrer Nachfolgeregelungen sei bei den Kostenentscheidungen zugunsten der klagenden Hilfebedürftigen angemessen zu berücksichtigen, soweit dies die gesetzlichen Bestimmungen — hier § 193 Abs. 1 SGG — ermöglichten. Inwieweit die Verfassungswidrigkeit der §§ 20, 28 SGB II zu einer konkreten prozentualen Aufteilung der außergerichtlichen Kosten anhängiger bzw. anhängig gewesener sozialgerichtlicher Klageverfahren zwingt, ist aus den e.g. Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht ersichtlich; dem erkennenden Gericht steht auch insoweit Ermessen zu. Es ist deshalb vom Ansatz her nichts zu erinnern, wenn die 38. Kammer des erkennenden Gerichtes in seinem vom Beklagten in Bezug genommenen Beschluss vom 14.04.2010 – S 38 AS 2113/09 – die außergerichtlichen Kosten der Klägerin nur zu einem Viertel für erstattungsfähig erklärt, weil sie das Erfolgsprinzip bei der Ermessensausübung stärker gewichtet hat.

Gleichwohl folgt die erkennende Kammer der von der 38. Kammer vorgenommene Quotelung nicht und hält eine weitergehende — konkret hälftige — Kostentragungspflicht des Beklagten für im Ergebnis sachlich gerechtfertigt. Dabei würdigt die erkennende Kammer zum einen den Umstand, dass z.B. die 3. Kammer des 1. Senates des Bundesverfassungsgerichtes in Ausübung seines Ermessens den erfolglosen Beschwerdeführern im Verfahren 1 BvR 395/09 mit Nichtannahmebeschluss vom 24.03.2010 gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG die volle Erstattung ihrer notwendigen Auslagen für das dortige Verfassungsbeschwerdeverfahren zugebilligt hat (zit. nach juris, Rn. 8), obwohl sie klarstellt, dass auch die dortigen Beschwerdeführer bei einem Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde keine höheren Grundsicherungsleistungen unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen hätten beanspruchen können (zit. nach juris, Rn. 6 a.E.). Zum anderen haftet den vom Beklagten erlassenen, im vorliegenden Klageverfahren angefochtenen und nunmehr wegen Klagerücknahme bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen, die er maßgeblich auf die vollständige Bedarfsdeckung durch Zahlung des Sozialgeldes gemäß § 28 i.V.m. § 20 SGB II gestützt hat, der Makel der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz ebenso an wie den e.g. gesetzlichen Normen selbst. Der Beklagte kann sich insoweit seiner kostenrechtlichen Verantwortung für den vorliegenden Rechtsstreit nicht mit der Begründung vollständig entziehen, er habe als Teil der Exekutive keinen Einfluss auf den Inhalt der §§ 20, 28 SGB II gehabt und sei zu deren Vollzug verpflichtet gewesen. Hiervon ausgehend tritt die erkennende Kammer der von der Klägerin in Bezug genommenen Kommentierung von Leitherer (in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008, § 193 Rn. 13a m.w.N.) im Ansatz bei, wonach derjenige die Kosten eines Verfahrens trägt, der sich auf verfassungswidrige Normen beruft, ohne hieraus in Fällen der bloßen Unvereinbarkeitserklärung von Streit entscheidenden gesetzlichen Normen durch das Bundesverfassungsgericht, verbunden mit dem Auftrag an den Gesetzgeber zur Neuregelung ohne Rückwirkung, einen Anspruch auf vollständige Kostenerstattung des Bürgers herzuleiten.

In Abwägung zwischen Erfolgs- und Veranlassungsprinzip rechtfertigt sich daher im vorliegenden Fall die von der Kammer im Tenor ausgesprochene hälftige Teilung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG.