Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 12/2011

1.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18.01.2011 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

BSG Urteil vom 18.01.2011, – B 4 AS 108/10 R –

Privat krankenversicherte Bezieher von Arbeitslosengeld II haben Anspruch auf Beiträge in voller Höhe

Schließlich wäre das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum privat versicherter SGB II-Leistungsempfänger betroffen, wenn die von ihnen geschuldeten Beiträge zur privaten Krankenversicherung nicht vom Träger der Grundsicherung übernommen würden. Die planwidrige Regelungslücke bei der Tragung von Beiträgen zur privaten Krankenversicherung ist hinsichtlich der offenen Beitragsanteile daher durch eine analoge Anwendung der Regelung für freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Personen zu schließen. Hieraus ergibt sich eine Verpflichtung des Grundsicherungsträgers nach dem SGB II zur Übernahme der Beiträge in voller Höhe.

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2.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 09.11.2010 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

BSG, Urteil vom 09.11.2010, – B 4 AS 78/10 R –

Unterhaltszahlungen sind einkommensmindernd zu berücksichtigen, wenn diesen Zahlungen ein titulierter Unterhaltsanspruch – hier beim Jugendamt unterschriebene Unterhaltsurkunde- zu Grunde liegt, dem steht nicht entgegen, dass der erwerbsfähige Hilfebedürftige bereits seinen eigenen Unterhalt nicht aus seinem Einkommen bestreiten kann.

Bei einer Unterhaltsurkunde handelt es sich um einen Unterhaltstitel i. S. des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II. Der Umfang der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung ist nicht in jedem Einzelfall eigenständig festzustellen, sondern es ist regelmäßig auf den titulierten Unterhaltsanspruch abzustellen.

Die Unterhaltsverpflichtung bleibt nicht wegen der allgemeinen Pflicht zur Eigenaktivität nach § 2 SGB II außer Betracht. Dies folgt bereits daraus, dass die gesetzliche Regelung die vom HB gewählte Gestaltung ausdrücklich zulässt.

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3.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil vom 22.12.2010, – L 12 AS 5641/09 –

Die Ermittlungen des Grundsicherungsträgers im Landkreis Rhein-Neckar-Kreis genügen den Anforderungen des Bundessozialgerichts an ein schlüssiges Konzept und sind aussagekräftig in Bezug auf die abstrakte Angemessenheit von Unterkunftskosten im örtlichen Bereich.

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3.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg Beschluss vom 08.02.2011, – L 12 AS 4387/10 –


Mietkosten sind dann nicht als angemessene Unterkunftskosten zu übernehmen, wenn der Mietvertrag trotz eines bestehenden Wohnungsrechtes nach § 1093 BGB geschlossen wird, um bei bestehender Hilfebedürftigkeit weitere SGB II-Leistungen zu erhalten. Ein derartiger Mietvertrag ist sittenwidrig und nach § 138 BGB nichtig.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, wenn diese angemessen sind. Erforderlich ist, dass der Hilfebedürftige einer konkreten Zahlungsverpflichtung ausgesetzt ist (vgl. Bundessozialgericht (BSG) SozR 4-4200 § 22 Nr. 21; BSG, Urteil vom 20. August 2008 – B 14 AS 34/08 R – FEVS 61, 243). Dies ist hier nicht der Fall.

Rechtsgeschäfte, die nach Inhalt, Zweck und Beweggrund in erster Linie darauf angelegt sind, Vermögensverhältnisse zum Schaden der Sozialhilfeträger bzw. Träger der Leistungen nach dem SGB II und damit auf Kosten der Allgemeinheit zu regeln, verstoßen gegen die guten Sitten i.S.v. § 138 BGB, wenn nicht besondere Rechtfertigungsgründe vorliegen (vgl. BGHZ 86, 82, 86 ff.; Sock in Staudinger, BGB, § 138 Rdnr. 359 ff. m.w.N.). Grundsätzlich sind die Leistungen nach dem SGB II subsidiärer Natur und greifen erst dann nachrangig ein, wenn keine privaten Unterhaltsquellen zur Verfügung stehen (§§ 3 Abs. 3, 9 Abs. 1 Satz 1 SGB II).

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3.3 – Sächsisches Landessozialgericht Beschluss vom 04.03.2011, – L 7 AS 753/10 B ER –

Ein genereller Grundsatz dahingehend, dass jedem Kind unabhängig vom Alter ein eigenes Zimmer zur Verfügung stehen muss und schon aus diesem Grund der Umzug als notwendig anzusehen ist, besteht weder im Sozialhilferecht noch im Recht der Grundsicherung nach dem SGB II.

Die gegenwärtig bewohnte Wohnung liegt unterhalb des Angemessenheitsstandards. Da sie nur drei Wohnräume hat, entfällt nicht auf jede zum Haushalt gehörende Person ein Zimmer, denn die Flächenwerte sind Höchst- keine Mindestwerte und eine geringfügige Unterschreitung indiziert keine Wohnungsunterversorgung.

Ein Umzug ist nicht erforderlich, denn es ist in der Regel zumutbar, dass sich zwei Kinder im Vorschulalter ein gemeinsames Kinderzimmer teilen.

Es ist immer auf die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls abzustellen.

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3.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 09.03.2011, – L 19 AS 2058/10 B –

Die Auszahlung der Rente am letzten Tag des Monats führt nicht zu einer Berücksichtigung des Einkommens erst im Folgemonat (vgl. dazu BSG Urt. v. 30.07.2008 – B 14 AS 26/07 R Rn 27; BSG Beschl. v. 23.11.2006 – B 11b AS 17/06 B), die Änderung der Verhältnisse ist vielmehr im gesamten Monat des Einkommenszuflusses zu berücksichtigen.

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3.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 14.03.2011, – L 19 AS 347/11 NZB –

Nichtzulassungsbeschwerde abgewiesen, denn nach der Rechtsprechung des BSG ist hinreichend geklärt, inwieweit Kosten für die Warmwasserbereitung durch die SGB II-Leistungsträger zu übernehmen sind (vgl. etwa BSG Urt. v. 19.02.2009 – B 4 AS 48/08; Urt. v. 27.02.2008 – B 14/11b AS 15/07 R-).

Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich mit dieser Frage bereits befasst (vgl. Urt. v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 = NZS 2010, 270). Es hat dabei ausdrücklich festgestellt, dass der Gesetzgeber "die Abschläge der Abteilung 04 (Wohnen, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe) bei der Ausgabenposition Strom (Kürzung um 15%) und in der Abteilung 07 (Verkehr) bei der Ausgabenposition Ersatzteile und Zubehör für Privatfahrzeuge (Kürzung um 80%) nicht tragfähig begründet hat" (BVerfG aaO S. 279 Rn. 177). Daher ist die vom Antragsteller gerügte Verfassungswidrigkeit des pauschalierten Abzuges bereits festgestellt, gleichwohl hat das BVerfG die Fortgeltung der Regelsätze des § 20 Abs. 2 SGB II bis zum 31.12.2010 angeordnet (BVerfG aaO S. 284 Rn. 216), sodass für den hier streitigen Zeitraum auch in Ansehung der Verfassungswidrigkeit der geltenden Gesetzeslage vom Kläger keine höheren Leistungen erstritten werden können.

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4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Sozialgericht Osnabrück Urteil vom 02.12.2010, – S 5 SO 177/09 -, Berufung zugelassen

Kein Einkommenseinsatz und keine abweichende Festlegung des Regelbedarfs wegen kostenlosem Mittagessen im Krankenhaus

Denn nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII werden die Bedarfe abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn eine solche abweichende Festlegung ist nur zulässig, wenn der Bedarf durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt wird. Dies ist bei der Verpflegung im Krankenhaus nicht der Fall, da es sich dabei im Regelfall um eine Leistung nach dem SGB V handelt.

Eine bedarfsmindernde Berücksichtigung von Zuwendungen nach § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII kommt nur in Betracht, wenn diese von einem Träger der Sozialhilfe als Leistung nach dem SGB XII erbracht werden. Eine Berücksichtigung als Einkommen scheidet dann nämlich schon deshalb aus, weil nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII von dem Einkommensbegriff ausdrücklich ausgenommen sind. Dies ist der maßgebende Gesichtspunkt für die Abgrenzung beider Vorschriften. Der Anwendungsbereich des § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII ist deshalb zur Vermeidung von Doppelleistungen dann eröffnet, wenn es bei der Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt – etwa als Teil der Eingliederungshilfeleistung – zu Überschneidungen mit den durch den Regelsatz nach § 28 Abs 1 Satz 1 SGB XII pauschal abgegoltenen tatsächlichen Bedarfen kommt. Einer solchen Überschneidung kann nicht im Rahmen der Einkommensberücksichtigung, sondern allein durch Minderung des Bedarfs nach § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII begegnet werden, soweit die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Absenkung des Regelsatzes vorliegen. In anderen Fällen, in denen – wie hier – die Leistung nicht (institutionell) als Sozialhilfe erbracht wird, ist im Rahmen der normativen Abgrenzung eine Berücksichtigung als Einkommen iS von § 82 SGB XII zu prüfen; Einkommen mindert also im Sinne der gesetzlichen Regelung nicht bereits den Bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2010 – B 8 SO 17/09 R). Im vorliegenden Fall wurde der Bedarf nicht durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt, denn die HB ist gesetzlich krankenversichert, so dass die Kosten des Krankenhausaufenthaltes von ihrer Krankenkasse getragen wurden.

Die kostenlose Verpflegung im Krankenhaus kann auch nicht als Einkommen gem. § 82 Abs. 1 SGB XII auf die Leistungen angerechnet werden, denn dies würde zu einer Ungleichbehandlung im Vergleich mit Beziehern von Leistungen nach dem SGB II führen. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (ALG II-VO) ist Verpflegung, die außerhalb der in den §§ 2, 3 und 4 Nummer 4 genannten Einkommensarten bereitgestellt wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Eine solche Regelung findet sich in der Verordnung zur Durchführung des § 82 SGB XII nicht. § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO ist entsprechend anzuwenden, denn die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII dürfen insoweit nicht schlechter gestellt werden (vgl. Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, § 28, Rn. 58; allgemein zur Notwendigkeit einer Harmonisierung von SGB II und SGB XII: Stölting/Greiser, SGb 2010, 631 ff.).

Entsprechend sind unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Bezieher von Leistungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII bei der Bewertung von Sachbezügen gleich zu behandeln, soweit kein (rechtfertigender) Grund für eine unterschiedliche Behandlung erkennbar ist. Insoweit existiert bei der Bewertung von kostenlosem Essen als Einkommen im Recht des SGB II kein Bezug zu der dem SGB II immanenten Erwerbsbezogenheit (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2010 – B 8 SO 17/09 R). In Anbetracht dieser Rechtsprechung – der sich die Kammer anschließt – ist § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO im vorliegenden Verfahren aus verfassungsrechtlichen Gründen entsprechend anzuwenden, denn es ist nicht ersichtlich, wie sich die unterschiedliche Anrechnung von kostenloser Verpflegung im SGB II und im SGB XII rechtfertigen ließe. Wenn es sich nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO nicht um Einkommen handelt, dann muss dies auch für die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII gelten.

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Anmerkung: Über die Frage der analogen Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO auf die Leistungen nach dem SGB XII ist – soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht entschieden worden.

++ Anmerkung: Vgl. dazu Sozialgericht Detmold Gerichtsbescheid vom 01.06.2010, – S 2 SO 74/10 -, Nichtzulassungsbeschwerdewurde eingelegt Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – L 12 SO 321/10 NZB -, veröffentlicht im Rechtsprechungsticker von Tacheles 29/2010.

Regelsatzkürzung bei Sozialhilfeempfänger aufgrund von Krankenhausverpflegung rechtswidrig, wenn der Sozialhilfeträger keine individuellen Ermittlungen geführt, welche Aufwendungen tatsächlich durch den Krankenhausaufenthalt erspart worden sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.12.2007, B 8/9b SO 21/06 R)

Denn es liegt auch keine anderweitige Bedarfsdeckung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vor. Ein Bedarf ist grundsätzlich anderweitig gedeckt, wenn der Leistungsberechtigte einzelne Leistungen von Dritten erhält. Andererseits sind Kompensationsüberlegungen dergestalt, dass an anderer Stelle durch die besondere Situation höhere Kosten entstehen, zu berücksichtigen (dazu Grube-Wahrendorff, Kommentar zum SGB XII, § 28 Rdnr.1 2; Schellhorn, Kommentar zum SGB XII, § 28 Rdnr. 12 und 13 dort mit dem Beispiel eines Obdachlosen, der zwar keine Haushaltsenergie verbraucht, aber anderweitig höhere Kosten etwa für den Kauf warmer Mahlzeiten hat, gerade weil er auf der Straße lebt). Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung.

4.2 – Sozialgericht Aachen Urteil vom 01.03.2011, – S 20 (19) SO 139/09 –

Für die Frage, welcher Sozialleistungsträger bei einer Mehrfachbehinderung in Form geistiger und seelischer Störungen vorrangig leistungsverpflichtet ist, kommt es nicht darauf an, wo der Schwerpunkt des Bedarfs und der erbrachten Hilfe liegt.

Entscheidend für die Anwendung der Regelung über den Vorrang zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist, dass sowohl ein Anspruch des HE auf Leistungen der Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bestanden hat und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 26/98; Hess. LSG, Urteil vom 18.02.2008 – L 9 SO 44/07).

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5.   Entscheidung zur Arbeitsförderung nach dem (SGB III)

Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil vom 25.02.2011, – L 8 AL 3458/10 –

Die Voraussetzungen einer Sperrzeit sind bei Verlust der Fahrerlaubnis wegen einer privaten Trunkenheitsfahrt eines als Omnibusfahrer beschäftigten Versicherten grundsätzlich erfüllt. Dies ist als arbeitsvertragswidriges Verhalten zu werten, das ohne vorherige Abmahnung eine fristlose, außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung durch den Arbeitgeber rechtfertigen kann. Von einer allein zulässigen personenbedingten, keine Sperrzeit begründenden Kündigung ist dabei nicht auszugehen (ebenso Hessisches LSG, Urteil vom 22.06.2010 – L 6 AL 13/08).

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6.   Folienvortrag ALG II / Stand: 16. März 2011,erarbeitet von Harald Thome

 

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de