S 54 AS 1604/10 (Sozialgericht Hildesheim)
xxx
Klägerin und Beschwerdeführerin,
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,
gegen
xxx
Beklagter und Beschwerdegegner,
hat der 11. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 26. April 2011 in Celle durch den Richter xxx – Vorsitzender – und die Richterinnen xxx und xxx beschlossen:
Der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. Oktober 2010 wird abgeändert. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam bereits ab Antragstellung (13. August 2010) gewährt.
Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin wehrt sich mit ihrer Beschwerde dagegen, dass das Sozialgericht (SG) Hildesheim Prozesskostenhilfe (PKH) für das erstinstanzliche Klageverfahren S 54 AS 1604/10 erst mit Wirkung ab 27.August 2010 und nicht bereits ab Antragstellung (13.August 2010) gewährt hat. In dem Klageverfahren geht es um die Übernahme der Nebenkostennachzahlung für das Jahr 2009 durch den Beklagten nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Mit der am 13. August 2010 beim SG Hildesheim eingegangenen Klage hat die Klägerin zugleich die Gewährung von PKH beantragt und angekündigt, die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen umgehend nachzureichen. Nachdem die von der Klägerin angekündigten Unterlagen am 27. August 2010 beim SG Hildesheim eingegangen waren, hat das SG PKH mit Wirkung ab 27. August 2010 bewilligt (Beschluss vom 4. Oktober 2010).
Mit ihrer am 18. Oktober 2010 eingelegten Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die PKH-Bewilligung erst ab dem 27. August 2010 anstatt ab Antragstellung. Sie verweist zur Begründung auf die Rechtsprechung des SG Hildesheim, wonach bei kurzfristig nachgereichten Unterlagen in aller Regel PKH bereits ab erstmaliger anwaltlicher Tätigkeit zu bewilligen sei (Beschluss vom 22. Dezember 2009 – S 25 SF 131/09 E). Aufgrund der Bewilligung von PKH erst ab dem 27. August 2010 bestehe die Gefahr, dass im späteren Kostenfestsetzungsverfahren nur die ab dem 27. August 2010 angefallene anwaltliche Tätigkeit berücksichtigt werde (vgl. zu dieser Rechtsprechung: Beschluss des SG Hildesheim vom 3. August 2010 – S 25 SF 59/10 E).
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig. Gegen die Statthaftigkeit der Beschwerde spricht auch nicht, dass der Streitwert in der Hauptsache unter 750,01 Euro liegen dürfte. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats ist der Beschwerdeausschluss nach § 127 Abs 2 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar (Beschlüsse vom 26. November 2009 – L 11 B 2/07 SB, 22. Dezember 2009 – L 11 AL 70/09 B und 15. April 2010 – L 11 AY 110/09 B).
Die Beschwerde ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von PKH bereits ab Antragstellung und nicht erst ab 27. August 2010.
Zwar wird im Allgemeinen vertreten, dass PKH grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt zu gewähren ist, zu dem der Antrag vollständig begründet und belegt ist. Hierzu gehört auch die Vorlage des einschlägigen Formulars (Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen) sowie der erforderlichen Belege (vgl. etwa: Kalthoener/Büttner/Wobel-Sachs, PKH und Beratungshilfe, 4. Auflage 2005, Rn 500 ff; Motzer in: Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Auflage 2008, Rn 52 ff; Geimer in: Zoller, ZPO, 28. Auflage 2010, § 119 Rn 38 ff, jeweils mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Zu beachten ist jedoch, dass diese Grundsätze in erster Linie für zivilgerichtliche Verfahren entwickelt wurden, in denen sowohl die Gerichts- als auch die Rechtsanwaltsgebühren zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen. In den gemäß § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gerichtskostenfreien sozialgerichtlichen Verfahren fällt dagegen für die anwaltliche Vertretung zwingend nur eine einzige Gebühr an (Betragsrahmengebühr nach § 3 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) i.V.m. Nr 3102 der Anlage 1 zum RVG). Lediglich für die Wahrnehmung eines Termins tritt u.U. noch die Betragsrahmengebühr nach Nr 3106 der Anlage 1 zum RVG hinzu.
Bei der Bemessung der o.g. Rahmengebühren sind alle Umstände des Einzelfalls, vor allem der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers sowie u.U. auch das Haftungsrisiko des Rechtsanwalts zu berücksichtigen (§ 14 Abs 1 RVG). Angesichts dieser Vielzahl von gesetzlich vorgegebenen Bemessungskriterien erscheint es dem Senat weder erforderlich noch sinnvoll, PKH – letztlich im Vorgriff auf die Kostenfestsetzung – hinsichtlich nur einiger weniger Tage der Verfahrenslaufzeit abzulehnen, ansonsten aber zu gewähren. Zwar ist die Bewilligung von PKH erst ab einem deutlich nach Antragstellung liegenden Zeitpunkt u.a. dann geboten, wenn für nennenswerte Teilzeiträume des gerichtlichen Verfahrens die für die Gewährung von PKH geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wenn der PKH-Antrag erst deutlich nach Klage bzw. Antragseingang gestellt wird oder aber vom Gericht gesetzten Fristen zur Vorlage des Formulars oder von Belegen fruchtlos verstrichen sind. Werden dagegen sowohl das einschlägige Formular als auch die Belege wie vorab angekündigt kurzfristig nachgereicht (hier: innerhalb von ca. 2 Wochen seit Antragstellung bzw. innerhalb von weniger als 10 Tagen seit Eingangsbestätigung), ist PKH bereits ab Antragstellung zu gewähren. Insoweit stimmt der erkennende Senat der entsprechenden Rechtsprechung des SG Hildesheim (etwa: Beschluss vom 22. Dezember 2009 – S 25 SF 131/09 E) ausdrücklich zu (im Ergebnis ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. Januar 2007 – L 8 B 4/05 EG). Selbst in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass in bestimmten Sachverhaltskonstellationen bei einem unverzüglichen Nachreichen der Unterlagen bzw. bei späterer Bezugnahme auf einen früher gestellten Sachantrag PKH nicht erst mit Wirkung ab Eingang der vollständigen Unterlagen, sondern bereits ab Antragstellung zu gewähren ist (BGH, Beschluss vorn 8. Oktober 1991 – XI ZR 174/90 NJW 1992, 839; Motzer in: Münchener Kommentar zur ZPO, a.a.O., § 119 Rn 53). Zudem entspricht es in der niedersächsischen Sozialgerichtsbarkeit ständiger und – soweit ersichtlich – bislang auch „sanktionslos" geduldeter Übung, dass Anlagen auf dem normalen Postweg nachgereicht werden dürfen, wenn eine Klage vorab per Fax eingelegt wird. Bei konsequenter Anwendung der vom SG vertretenen Rechtsauffassung müssten jedoch auch in all diesen Fällen die wenigen Tage, die bis zum Eingang der als Anlage übersandten Belege verstreichen, von der PKH-Gewährung ausgeschlossen werden. Dies erfolgt in der Praxis nicht und würde zudem – wie bereits dargelegt – angesichts der Vielzahl der in § 14 Abs ,1 RVG für die Bemessung von Betragsrahmengebühren vorgegebenen Kriterien auch weitestgehend folgenlos bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).