1. Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 26.05.2011 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – BSG, Urteil vom 26.5.2011, – B 14 AS 86/09 R –
Hartz IV – Die abstrakte Prüfung der Angemessenheit der Leistung für die Unterkunft in – Sachsen – kann nicht ohne Berücksichtigung des verfügbaren Wohnraums erfolgen.
Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II, der insofern ebenfalls zwischenzeitlich nicht geändert wurde).
Der Begriff der Angemessenheit unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle (stRspr, vgl nur BSG vom 19.2.2009 – B 4 AS 30/08 R – BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München>, jeweils RdNr 12 mwN). Zwischen der Leistung für die Unterkunft und der Leistung für die Heizung ist zu unterscheiden, wie schon dem Wortlaut der Vorschrift mit der Verwendung des Plurals „Leistungen“ sowie der Rechtsprechung des Senats zu entnehmen ist (BSG vom 2.7.2009 – B 14 AS 36/08 R – BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23; zuletzt BSG vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R, RdNr 18).
Zur Ermittlung der Leistung für die Unterkunft, auf die der dem Grunde nach Leistungsberechtigte Anspruch hat, ist in mehreren Schritten vorzugehen. Zunächst ist die abstrakt angemessene Leistung für die Unterkunft unter Zugrundelegung der sog Produkttheorie in einem mehrstufigen Verfahren festzustellen und als Grundlage für alle weiteren Berechnungen zuerst die angemessene Wohnungsgröße zu bestimmen (vgl unter Anderem BSG vom 7.11.2006 – B 7b AS 18/06 R – BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3; BSG vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R -, RdNr 20 ff; zuletzt BSG vom 13.4.2011 – B 14 AS 106/10 R-).
Hinsichtlich der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße von 45 qm für Alleinlebende im Freistaat Sachsen – kann dem LSG jedoch nicht gefolgt werden.
Zur Festlegung der angemessenen Wohnfläche ist auf die Wohnraumgrößen für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau abzustellen (stRspr seit BSG vom 7.11.2006 – B 7b AS 18/06 R – BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, jeweils RdNr 19; zuletzt BSG vom 13.4.2011 – B 14 AS 106/10 R).
Hinsichtlich der Überlassung von gefördertem Mietwohnungsbau verweisen sowohl § 27 Abs 4 als auch § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung vom 13.9.2001 (BGBl I 2376: „Wohnungsförderungsgesetz“ im Folgenden: WoFG) wegen der maßgeblichen Wohnungsgröße auf die „Bestimmungen“ des jeweiligen Landes.
Nach den Feststellungen des LSG gibt es in Sachsen keine derartigen Bestimmungen nach dem WoFG. Soweit das LSG aufgrund dessen meint, die außer Kraft getretene VwV-SächsBelG weiterhin anwenden zu können, kann dem nicht gefolgt werden.
Speziell zur Situation im Freistaat Sachsen hat der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom 22.9.2009 (B 4 AS 70/08 R – RdNr 14 f) ausgeführt:
Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Praktikabilität sei auf die auf der Grundlage des § 10 WoFG von den Ländern festgelegten Werte zurückzugreifen, bis der Verordnungsgeber eine nach § 27 SGB II mögliche Verordnung erlassen habe.
Diese Begründung für die VwV-Ersatzwohnraumförderung zeigt jedoch, dass diese in Übereinstimmung mit dem 4. Senat gerade der Angemessenheitsprüfung nach dem bundesrechtlichen § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II zu Grunde gelegt werden muss und nicht die ältere VwV-SächsBelG.
Denn die abstrakte Angemessenheit der Leistung für die Unterkunft kann nicht ohne Berücksichtigung des verfügbaren Wohnraums erfolgen (vgl BSG vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R – (Berlin) RdNr 27 f; BSG vom 13.4.2011 – B 14 AS 106/10 R – (Freiburg)).
Dass zur Bestimmung der Angemessenheit nach § 22 Abs 1 SGB II auf die Wohnungsgrößen nach den Vorschriften des sozialen Wohnungsbaus abgestellt wird, folgt aus § 1 Abs 2 WoFG („Gesetz über die soziale Wohnraumförderung“), der lautet: „Zielgruppe der sozialen Wohnraumförderung sind Haushalte, die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können und auf Unterstützung angewiesen sind.
Unter diesen Voraussetzungen unterstützt die Förderung von Mietwohnraum insbesondere Haushalte mit geringem Einkommen. Zu diesen Haushalten mit geringem Einkommen, die Schwierigkeiten haben sich am Markt mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, gehören die Haushalte, deren Mitglieder Leistungen nach dem SGB II beziehen, weil sie hinsichtlich ihrer möglichen Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft entsprechend begrenzt sind.
Anmerkung: Vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Vgl. dazu BSG kippt Freiburger Mietobergrenzen für Hartz IV-Empfänger- Prüfung der Angemessenheit der Leistung für die Heizung (BSG, Urteil vom 13.04.2011, – B 14 AS 106/10 R -)
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2. Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 13.04.2011 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – BSG, Urteil vom 13.04.2011, – B 14 AS 98/10 R –
Werden Hartz-IV-Empfängern rechtswidrige Ein-Euro-Jobs zugewiesen, steht ihnen die Nachzahlung des Tariflohns zu.
Soweit der Träger der Grundsicherung den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in eine bestimmte Arbeitsgelegenheit nach g 16 Abs 3 Satz 2 SGB ll zum 1.1.2009 in § 16d S. 2 SGB ll geregelt zuweist, handelt es sich nach dem Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelungen regelmäßig um einen VA iS des $ 31 Saiz 1 SGB X.
Die auf den Einzelfall bezogenen Anforderungen an solche Arbeitsgelegenheiten, die systematisch zum Katalog der Eingliederungsleistungen (vgl § 14 SGB II) gehören, und die daraus folgenden Obliegenheiten des Hilfebedürftigen lässt der maßgebliche Gesetzestext weder in § 2 Abs 1 Satz 2 SGB ll („Grundsatz des Forderns“) noch in § 3 Abs 1 SGB ll („Leistungsgrundsätze“) noch in §§ 14, 16 Abs 3 SGB ll ohne weitere Umsetzungen ausreichend konkret erscheinen. Der Gesetzgeber gibt für den Einsatz von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei im öffentlichen Interesse liegenden zusätzlichen Arbeiten vielmehr einen weit gesteckten Rahmen vor, der im Einzelfall durch Festiegungen hinsichtlich des konkreten Inhalts der Arbeitsgelegenheit und der Erbringung der Mehraufwandsentschädigung auszufüllen ist (Voelzke in Hauck/Noftz, SGB ll, § 16d SGB II, RdNr 53 f, Stand 12/201O, Luthe in jurisPR-SozR 27/2005 Anm 1; Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, ll.4 RdNr 25, Stand 1. Februar 2009).
Jedenfalls wenn in einer Eingliederungsvereinbarung {oder einem sie ersetzenden Verwaltungsakt) keine Konkretisierung über eine Arbeitsgelegenheit vorgenommen worden ist, bedarf es dieser Festlegungen „im Nachgang“, die – sofern keine ergänzenden Vereinbarungen zwischen Träger der Grundsicherung und Hilfebedürftigem geschlossen werden – durch einseitige Regelung des Trägers erfolgen. Anders als etwa ein Arbeitsangebot iS von § 144 Abs 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 3 (vgl. insoweit BSG, Beschluss vom 27.10.2003 – B 7 AL 82/03 B) oder ein Angebot einer Trainingsmaßnahme nach g 48 ScB lll (vgl BSG Urteil vom 19.1.2005 – B 11a/11 AL 39/04 R – SozR 4-1300 § 63 Nr 2) erschöpft sich die Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit regelmäßig nicht im Nachweis einer Gelegenheit zum Vertragsschluss mit einem Maßnahmeträger und bedeutet nicht lediglich behördliche Vorbereitungshandlungen, die einer eigentlichen Sachentscheidung (etwa einer Sanktion) vorangehen. Die Zuweisung bestimmt vielmehr abschließend gegenüber dem Hilfebedürftigen, welche Leistungen zu seiner Eingliederung in Arbeit vorgesehen sind, damit er auf dieser Grundlage seine Entscheidung über die Teilnahme an der Maßnahme treffen kann(BSG, Urteil vom 16.12.2008 – B 4 AS 60/07 R – BSGE102,201 =SozR 4 – 4200 § 16 Nr 4, RdNr 3l).
Da mit der Zuweisung – auch – über die Gewährung einer Eingliederungsleistung entschieden wird (vgl § 3 Abs 1 SGB II), ist für die Verwaltungsaktualität unerheblich, dass das vom Hilfebedürftigen erwartete Verhalten vom Träger nicht vollstreckt werden kann (Luthe in jurisPR – SozR 27/2005 Anm 1).
Der Kläger macht hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Zuweisungsbescheides in erster Linie geltend, es fehle an der Zusätzlichkeit der Maßnahme nach § 16 Abs 3 Satz 2 SGB ll. Die insoweit notwendige an § 261 Abs 2 Satz 1 SGB lll orientierte Prüfung (vgl dazu BSG Urteil vom 16.12.2008 – B 4 AS 60/07 R – BSGE 102, 201 = SozR 4-4200 § 16 Nr 4 RdNr 27) hat das SG ausgehend von seiner Rechtsauffassung, ein anfechtbarer Verwaltungsakt liege nicht vor, vollständig unterlassen. Dies wird das LSG nachzuholen haben.
Anspruchsgrundlage für das klägerische Leistungsbegehren kann allein ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch als gewohnheitsrechtlich anerkanntes und aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts abgeleitetes eigenständiges Rechtsinstitut sein.
Dieser Anspruch gleicht eine mit der Rechtslage nicht übereinstimmende Vermögenslage aus und verschafft dem Anspruchsinhaber ein Recht auf Herausgabe des Erlangten, wenn eine Leistung ohne Rechtsgrund oder ohne eine sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebung erfolgt ist (vgl zu allem nur BSG Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 11/08 R – FEVS 61, 385 = juris RdNr 11 sowie grundlegend BSGE16, 151 =SozR Nr.1 zu § 28 BVG).Seine Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen entsprechen. soweit sie nicht spezialgesetzlich geregelt sind, denen des zivilrechtlichen
Bereicherungsanspruchs (vgl BSG aaO FEVS 61, 385 unter Hinweis auf BVerwG71l, 85,88,87, 169, 172f, 100,56,59, 112,351,353f).
Ein solcher Anspruch kommt im Anwendungsbereich des SGB ll in Betracht, wenn vom Hilfebedürftigen nach Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung Arbeiten geleistet worden sind, die sich als rechtsgrundlos erweisen (dazu Urteil des Senats vom 13.4.2011 – B 14 AS 98/10 R – zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
Quelle :Tacheles – Leser
Anmerkung: vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
BSG Urteil vom 13.04.2011, – B 14 AS 98/10 R –
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2.2 – BSG, Urteil vom 13.04.2011, – B 14 AS 85/09 R-
Das Bundessozialgericht gibt vor, wie die angemessenen Kosten der Unterkunft für Berliner – Hartz IV – Empfänger anhand des Berliner Mietspiegels zu ermitteln sind.
Mit Urteil vom 13.4.2011, – B 14 AS 85/09 R – hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass bei der Bestimmung der angemessenen KdU als maßgeblichen Vergleichsraum das gesamte Stadtgebiet von Berlin heranzuziehen ist.
Im Einzelnen hat das BSG bei der Bestimmung der angemessenen KdU anhand des Berliner Mietspiegels folgendes geurteilt:
KdU werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit sie angemessen sind. Die Prüfung der Unterkunftskosten hat getrennt von den Kosten der Heizung zu erfolgen (vgl nur BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23).
Die Angemessenheit von KdU ist unter Zugrundelegung der sog Produkttheorie in einem mehrstufigen Verfahren zu konkretisieren: Zunächst ist die angemessene Wohnungsgröße zu ermitteln. Alsdann ist festzustellen, ob die angemietete Wohnung dem Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard entspricht, der sich in der Wohnungsmiete niederschlägt. Vergleichsmaßstab sind insoweit die räumlichen Gegebenheiten am Wohnort des Hilfebedürftigen, wobei die örtlichen Gegebenheiten auf dem Wohnungsmarkt zu ermitteln und zu berücksichtigen sind. Der Begriff der Angemessenheit unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle. Im Streitfall ist das der Bestimmung der Kosten zugrunde liegende Konzept damit von den Gerichten in vollem Umfang zu überprüfen und ggf ein solches Konzept durch eigene Ermittlungen zu ergänzen.
Für einen Zweipersonenhaushalt ist eine Wohnungsgröße von 60 qm als angemessen anzusehen. Bei der Bestimmung der angemessenen Wohnfläche ist auf die anerkannte Wohnraumgröße für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau abzustellen (stRspr seit BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, jeweils RdNr 19). An Einzelpersonen darf Wohnraum bis zu 50 qm und an Zwei-Personen-Haushalte Wohnraum von bis zu 60 qm überlassen werden (vgl bereits BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R, SozR 4-4200 § 22 Nr 42 RdNr 22 mwN).
Bei der Bestimmung der angemessenen KdU ist als maßgeblichen Vergleichsraum das gesamte Stadtgebiet von Berlin heranzuziehen, denn auch ein Arbeitnehmer mit vergleichbar geringem Einkommen wird eine Ersatzwohnung innerhalb des gesamten Stadtgebiets für den Fall suchen, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine innegehabte Wohnung nicht (mehr) finanzieren kann.
Den besonderen Belangen und der konkreten Situation des jeweiligen Hilfebedürftigen (zB von Alleinerziehenden oder von Familien mit minderjährigen schulpflichtigen Kindern) ist nicht bereits bei der (abstrakt-generell vorzunehmenden) Festlegung der Vergleichsräume, sondern erst im Rahmen der Zumutbarkeitsregelung des § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II Rechnung zu tragen (vgl BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19, jeweils RdNr 23).
Zugrunde zu legen ist ein einfacher, im unteren Marktsegment liegender Standard (BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, jeweils RdNr 24); die Wohnung muss hinsichtlich ihrer Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügen (BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, jeweils RdNr 20). Die festgestellte angemessene Referenzmiete oder die Mietobergrenze muss mithin so gewählt werden, dass es dem Hilfebedürftigen möglich ist, im konkreten Vergleichsraum eine „angemessene“ Wohnung anzumieten. Die Mietobergrenze ist nach der Rechtsprechung des BSG auf Grundlage eines diese Vorgaben beachtenden schlüssigen Konzepts zu ermitteln (vgl BSG Urteil vom 18.6.2008 – B 14/7b AS 44/06 R – FEVS 60, 145).
Die vom Grundsicherungsträger herangezogenen Ausführungsvorschriften (AV-Wohnen) zur Bestimmung eines angemessenen Quadratmeterpreises innerhalb des örtlichen Vergleichsmaßstabs (des gesamten Stadtgebiets von Berlin) sind nicht geeignet zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft, denn sie beruhen nicht auf einem schlüssigen Konzept, das eine hinreichende Gewähr dafür bietet, dass es die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes wiedergibt (BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 42 RdNr 26).
Qualifizierte Mietspiegel iS des § 558d Bürgerlichen Gesetzbuches (<BGB> wie der Berliner Mietspiegel) können Grundlage der Bestimmung der Referenzmiete nach § 22 Abs 1 SGB II sein (vgl im Einzelnen für den Berliner Mietspiegel BSG aaO RdNr 27 mwN). Wenn der Träger der Grundsicherung – wie in Berlin – keine Daten und/oder Auswertungen vorlegt, muss das Gericht auf solche bereits vorhandene Datengrundlagen (soweit sie geeignet erscheinen) bei der Bestimmung eines angemessenen Referenzwertes zurückgreifen, bevor es seine Amtsermittlungspflicht auf die Feststellung der „Obergrenze“ nach den Tabellenwerten des § 8 Wohngeldgesetz aF (jetzt § 12; ggf erhöht um einen Zuschlag) reduziert (vgl BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 27 RdNr 23 <Essen>).
Sollen aus Daten eines qualifizierten Mietspiegels grundsicherungsrelevante Schlüsse abgeleitet werden, ist eine Beschränkung auf Daten bestimmter Baualtersklassen grundsätzlich nicht zulässig (vgl bereits BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 RdNr 25 <München>). Dies gilt – wie der Senat ebenfalls bereits dargelegt hat (BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 42 RdNr 29) – allerdings nicht für die im Berliner Mietspiegel in den Spalten 1 und 3 noch gesondert abgebildeten Baualtersklassen bis 1918 und bis 1949 Wohnungen mit besonders niedrigem Ausstattungsgrad (Wohnungen ohne Sammelheizung und/oder ohne <Dusch->Bad), unabhängig davon, mit welcher Häufigkeit solche Wohnungen noch verfügbar sind.
Zur Bildung eines grundsicherungsrelevanten Mietwertes sind diese Werte nicht mit heranzuziehen, denn auf Wohnungen mit diesem untersten Ausstattungsgrad können Hilfebedürftige bei der Wohnungssuche grundsätzlich nicht verwiesen werden.
Die Bildung eines arithmetischen Mittelwerts aus den (verbleibenden) Mittelwerten der Baualtersklassen als abschließenden Schritt zur Berechnung einer grundsicherungsrelevanten Nettokaltvergleichsmiete erfüllt die Anforderungen an ein mathematisch-statistisch nachvollziehbares Konzept nicht.
Eine Differenzierung nach Wohnungsgrößen ist bei Rückgriff auf einen qualifizierten Mietspiegel deshalb geboten, weil nach den Besonderheiten des jeweils maßgebenden örtlichen Wohnungsmarktes, insbesondere aus Gründen der Bevölkerungs- und Sozialstruktur und wegen städtebaulicher Entwicklungen sowohl das Angebot als auch die Nachfrage hinsichtlich kleinerer und größerer Wohnungen erheblich differieren können. Insbesondere kleinere Wohnungen weisen oftmals einen höheren Quadratmeterpreis auf (vgl BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 26 RdNr 18).
Es sind dann aber Rückschlüsse aus den Werten des Mietspiegels zu ziehen, die die Wohnungsgrößen abbilden, in denen ggf eine Ersatzwohnung in erster Linie zu suchen ist. Das ist im vorliegenden Falle das Marktsegment der Wohnungen von 40 bis unter 60 qm. Die Wohnungen, die exakt 60 qm groß sind, werden davon statistisch zwar nicht erfasst. Diese Ungenauigkeit ist aber hinzunehmen, wenn diese Wohnungen für eine abstrakt angemessene Vergleichswohnung die Obergrenze bilden und sämtliche übrigen Wohnungen bis unter 90 qm wegen ihrer Größe nicht das maßgebliche Marktsegment darstellen.
Die Bildung eines arithmetischen Mittelwertes bietet zum anderen bei einem so weitgehend ausdifferenzierten Tabellen-Mietspiegel wie dem Berliner Mietspiegel nicht die Gewähr dafür, dass der abgebildete Wert als solcher tatsächlich den Schwerpunkt eines Mietpreises im einfachen Segment abbildet (im Einzelnen bereits BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 50/10 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 42 RdNr 30).
Weil die Werte der einzelnen Rasterfelder nicht (im Sinne einer gleichmäßigen Verteilung der hier wiedergegebenen Mietpreise) aufeinander aufbauen, bleiben arithmetische Mittelwerte mit einem hohen Grad an Zufälligkeit belastet, besonders wenn einzelne Werte – wie vorliegend der Wert für Neubauwohnungen der letzten 15 Jahre – stark von den übrigen Werten abweichen. Das arithmetische Mittel für sich genommen bietet damit nicht die Gewähr, dass das einfache Mietsegment realistisch abgebildet wird.
Das LSG wird daher nach Wiedereröffnung des Berufungsverfahrens zu prüfen haben, ob sich aus den Grundlagendaten des qualifizierten Mietspiegels oder anderen Quellen weitergehende Schlüsse grundsicherungsspezifischer Art ziehen lassen (zur grundsätzlichen Eignung der Grundlagendaten für diese Prüfung bereits BSG aaO RdNr 31). Für solche notwendig erscheinenden Auswertungen ist in erster Linie der kommunale Träger im Rahmen der Mitwirkungspflichten heranzuziehen (grundlegend dazu BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 26). Dies gilt erst recht dann, wenn die vom Grundsicherungsträger bei seiner Entscheidung herangezogenen Daten als Entscheidungsgrundlage ungeeignet sind, wie dies in Berlin mit der AV-Wohnen der Fall ist.
Es könnten sich im Ergebnis weitergehender Auswertungen durch den Träger der Grundsicherung durchaus Anhaltspunkte ergeben, dass eine bestimmte Baualtersklasse statistisch nachvollziehbar über alle Bezirke hinweg so häufig vorhanden ist und zugleich den einfachen Standard nachvollziehbar abbildet, dass allein auf diesen Wert (ggf um einen Aufschlag erhöht) zurückzugreifen ist. Lassen sich solche weitergehenden Schlüsse aus vorhandenem Datenmaterial nicht ziehen, bietet es sich an, einen gewichteten arithmetischen Mittelwert nach Verteilung der in der Grundgesamtheit abgebildeten Wohnungen in den jeweiligen Baualtersklassen zu bilden (dazu Schifferdecker/Irgang/Silbermann, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2010, 28; SG Berlin Urteil vom 30.6.2010 – S 174 AS 21949/07 – juris RdNr 46).
Ein solcher Mittelwert böte immerhin die Gewähr, dass ein einzelner Wert für eine bestimmte Baualtersklasse entsprechend seiner tatsächlichen Häufigkeit auf dem Markt in einen grundsicherungsrelevanten Mittelwert einfließt. Dabei erscheint es zulässig, einen Wert auf Grundlage der jeweiligen Mittelwerte der Rasterfelder zu bilden. Er bestimmt eine nach den weiteren Ausstattungsmerkmalen, die im Mietspiegel nicht schon in den Rasterfeldern ihren Niederschlag finden (Bad, Küche, Wohnung, Gebäude, Wohnumfeld), durchschnittliche Wohnung. Also gibt der Mittelwert sowohl die schlecht ausgestatteten Wohnungen in einer bevorzugten, einfachen Wohnlage als auch die gut ausgestatteten Wohnungen in sehr einfachen Wohnlagen (zB an einer Durchgangsstraße) wieder. Mit dem Mittelwert aus der einfachen Wohnlage werden schließlich auch schlechter ausgestattete Wohnungen in mittlerer und guter Wohnlage erfasst.
Neben der Nettokaltmiete sind auch die angemessenen Betriebskosten iS des § 556 Abs 1 und 2 BGB iVm der Verordnung zur Berechnung der Wohnfläche, über die Aufstellung von Betriebskosten und zur Änderung anderer Verordnungen (<BetrKV> vom 25.11.2003, BGBl I 2346) – mit Ausnahme der Heizkosten – abstrakt zu bestimmen und als Faktor in das Produkt mit einzubeziehen.
Auch insoweit erscheint es zulässig, zur Erstellung eines Konzepts auf bereits vorliegende Daten aus Betriebskostenübersichten zurückzugreifen, im Ausgangspunkt allerdings auf örtliche Übersichten und insoweit auf die sich daraus ergebenden Durchschnittswerte (vgl im Einzelnen BSG aaO RdNr 33 f). Nur wenn sich konkret Anhaltspunkte dafür ergeben, dass vom Deutschen Mieterbund für das gesamte Bundesgebiet aufgestellte Übersichten gerade das örtliche Niveau besser abbilden, kann auf diese zurückgegriffen werden.
juris.bundessozialgericht.de
Anmerkung: Vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Müssen Berliner Hilfebedürftige nach dem SGB 2 bald die „Kiezen“ von Berlin verlassen?
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3. Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 25.08.2011 zur Sozialhilfe(SGB XII)
3.1 – BSG Urteil vom 14.04.2011, B 8 SO 12/09 R –
Kein höherer Freibetrag gem. § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII für einen über 70 jährigen.
Denn die vom HB als Grund für die Anwendung der Vorschrift geltend gemachte Unzumutbarkeit der Beschäftigung im Hinblick auf sein Alter ist gerade der Regelfall des SGB XII, das Hilfe zum Lebensunterhalt (3. und 4. Kapitel des SGB XII) nur für über 65-jährige und Erwerbsunfähige vorsieht. Für die besonderen Sozialhilfeleistungen des 5. bis 9. Kapitels, die auch anderen Personen bei Bedürftigkeit zustehen, gelten für die Anrechnung von Einkommen die Regelungen der § § 85 ff SGB XII.
Ein höherer Freibetrag nach § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII ist nicht gerechtfertigt. Danach kann abweichend von Abs 3 Satz 1 in begründeten Fällen ein anderer Betrag vom Einkommen abgesetzt werden. Einen begründeten Fall hat der Senat für ein nach § 104 Abs 1 Nr 3 iVm § 107 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) geleistetes Ausbildungsgeld mit Rücksicht auf die besondere Situation behinderter Menschen in Werkstätten aus Gleichheitsgründen angenommen (BSGE 106, 62 ff RdNr 29 ff = SozR 4-3500 § 82 Nr 6; Urteil vom 23.3.2010 – B 8 SO 15/08 R – RdNr 18). Darüber hinaus soll eine Erhöhung des Freibetrages insbesondere als zusätzliche Motivation bei schweren gesundheitlichen oder persönlichen Beeinträchtigungen dienen (Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 82 SGB XII RdNr 50; Lücking in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 82 RdNr 76, Stand Juni 2008; ähnlich wohl auch Brühl in Lehr- und Praxiskommentar SGB XII <LPK-SGB XII>, 8. Aufl 2008, § 82 SGB XII RdNr 78).
Nach Sinn und Zweck der Regelung ist es jedenfalls nicht zulässig, allein aufgrund des Alters einen erhöhten Freibetrag für Einkünfte aus einer ausgeübten Tätigkeit einzuräumen. Die Funktion des § 82 Abs 3 SGB XII besteht zwar allgemein darin, einen Anreiz zu schaffen, (trotz des Alters bzw einer vollen Erwerbsminderung) Arbeit aufzunehmen, die Arbeitsleistung zu steigern und den Arbeitswillen zu erhalten (vgl: BSGE 106, 62 ff RdNr 35 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6; Lücking, aaO, K § 82 RdNr 76, Stand Juni 2008; Brühl, aaO, § 82 SGB XII RdNr 75). Abs 3 Satz 3 selbst soll allerdings dem Hilfeträger nur die Möglichkeit eröffnen, gegenüber der typisierenden Regelung des Abs 3 Satz 1 flexibel zu reagieren (BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 des Entwurfs; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 82 SGB XII RdNr 88; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/Asylbewerberleistungsgesetz, § 82 SGB XII RdNr 82 f, Stand Mai 2007; Schmidt in juris PraxisKommentar SGB XII <jurisPK-SGB XII> § 82 SGB XII RdNr 68 SGB XII). Ein anderer Freibetrag ist damit im Rahmen einer Ermessensentscheidung (BSG, aaO, RdNr 35) nur zulässig, wenn kein Regelfall vorliegt.
Die Situation des Klägers entspricht jedoch gerade dem Regelfall des § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII. Anders als im früheren Recht des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) – § 76 Abs 2a (Absetzung in angemessener Höhe für Einkünfte bestimmter Personen) – werden vom SGB XII bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nämlich ohnedies lediglich noch Personen erfasst, die voll erwerbsgemindert, also nicht mindestens drei Stunden täglich unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein können (§ 21 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm § 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – <SGB II>), oder noch nicht bzw – wie der Kläger – nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind (vgl hierzu: Hohm, aaO, § 82 SGB XII RdNr 47; Schmidt, aaO, RdNr 66; Eicher in jurisPK-SGB XII, § 21 SGB XII RdNr 1, 9, 15 f). Ob das Beispiel des Ferienjobs eines Schülers in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 des Entwurfs) für die Annahme eines begründeten Falls iS des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII geglückt ist, mag bezweifelt werden; denn Schüler dürften regelmäßig als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft unter das SGB II fallen.
Das Beispiel in der Gesetzesbegründung rechtfertigt jedenfalls nicht die vom Kläger für seinen Fall gewünschte Auslegung der Norm. Die Anwendung des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII generell auf Einkommen aus Tätigkeiten von über 65-Jährigen ohne zusätzliche Umstände, wäre geradezu systemwidrig. Der Gesetzgeber hat vielmehr mit der Neuregelung des Sozialhilferechts ab 1.1.2005 als einfache, praktikable und einheitliche Lösung eine prozentuale Einkommensfreistellung für den Regelfall gewählt (vgl BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 Abs 3).
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
4.1 – Bayerisches Landessozialgericht Beschluss vom 05.07.2011. – L 7 AS 334/11 B PKH –
Für eine Verfassungswidrigkeit des neuen Regelbedarfsgesetzes gibt es keine Anhaltspunkte.
Wie sich aus der Begründung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (Drucksache Bundestag 17/3404, S. 42 ff) ergibt, hat sich der Gesetzgeber an die Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 gehalten. Auf Grundlage einer Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) von 2008 wurden die Bedarfe von Erwachsenen und Kindern im Einzelnen ermittelt. Abschläge von einzelnen Verbrauchspositionen wurden entweder nicht mehr vorgenommen (z.B. bei Bekleidung) oder durch Sonderauswertungen berichtigt (z.B. Heizstromanteil, Personennahverkehr, Telefonkosten). Die Fortschreibung der Regelbedarfe wurde an die Preisentwicklung und die Nettolöhne angebunden (vgl. § 20 Abs. 5 SGB II), statt an die Rentenentwicklung. Zu den Leistungen für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche wurden gesonderte Anspruchsgrundlagen geschaffen (§§ 28, 29 SGB II). Für den Mehrbedarf in atypischen Härtefällen wurde bereits mit Gesetz vom 27.05.2010 (BGBl I, S. 1706) in § 21 Abs. 6 SGB II eine Anspruchsgrundlage erstellt, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht.
Einzelne Punkte der Ermittlung des neuen Regelbedarfs werden politisch unterschiedlich bewertet, etwa die Abgrenzung der unteren Einkommensschicht nach § 4 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG), die festlegt, welche Referenzhaushalte der EVS für die Berechnung der Bedarfe herangezogen werden. Dies darf aber nicht mit der Frage verwechselt werden, ob die getroffene Regelung verfassungswidrig ist. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O., Rn. 168) festgestellt, dass die Wahl der Referenzgruppe auf sachgerechten Erwägungen beruhen muss. Eine sachfremde Festlegung der Referenzgruppe kann das Beschwerdegericht nicht erkennen.
Außerdem wurden die Bedarfsermittlungen im RBEG für alle Personen auf der Grundlage vorgenommen, dass die Kosten für Warmwasser aus dem Regelbedarf zu bezahlen sind. Erst in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens wurden die Kosten für Warmwasser zu den Kosten der Unterkunft umsortiert (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1, § 21 Abs. 7 und § 77 Abs. 6 SGB II). Die Regelbedarfe wurden aber nicht mehr entsprechend korrigiert.
Insgesamt ist festzustellen, dass für eine Klage gegen die neuen Regelbedarfe eine Erfolgsaussicht nicht erkennbar ist. Für eine Vorlage des Gesetzes über die neuen Regelbedarfe an das Bundesverfassungsgericht sind ebenso keine Gründe erkennbar.
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Anmerkung: Vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Hartz IV Regelsätze- Und sie sind doch verfassungswidrig
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4.2 – Bayerisches Landessozialgericht Beschluss vom 21.07.2011, – L 11 AS 430/11 B ER –
Ablehnende Beschlüsse auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erwachsen, wenn kein Rechtsmittel mehr möglich ist, in Rechtskraft, und ein erneuter Antrag ist unzulässig, wenn er den abgelehnten Antrag – bei unveränderter Sach- und Rechtslage – lediglich wiederholt (vgl Beschluss des Senats vom 18.03.2009 – L 11 AS 125/09 ER; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 9.Aufl, § 86b Rdnr 45a).
4.3 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.09.2011, – L 19 AS 1304/11 B –
Monatliche Privatentnahmen sind bei Selbständigkeit um den Freibetrag nach § 11b SGB II zu bereinigen.
Der Senat hat bereits entschieden (Beschluss vom 01.02.2008 – L 19 B 128/07 AS ER), dass Privatentnahmen berücksichtigungsfähig sind, soweit die Entnahmen aus den laufenden Jahreseinnahmen erfolgen.
Denn für die Gewinnermittlung des laufenden Jahres kann es keinen Unterschied machen, ob die Einnahmen bis zum Jahresende beim Betriebsvermögen verbleiben und sodann im Rahmen der Steuerfestsetzung als Gewinn berücksichtigt werden oder ob sie zuvor entnommen und über § 4 Abs. 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) dem Gewinn zugerechnet werden müssen.
Nur wenn in zurückliegenden Jahren entsprechender Gewinn beim Betrieb verblieben ist und dessen Vermögen bildet, ist die Privatentnahme lediglich Vermögensverzehr und nicht dem Gewinn zuzurechnen (vgl. BSG SozR 2200, § 180 Nr. 19 S. 61; s.a. Geiger, Die Anrechnung von Einkommen Selbständiger in ZSFH/SGB 2009, S. 9).
§ 11 Abs. 2 in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung (nunmehr § 11b SGB II) regelt, dass auch das Einkommen Selbständiger um zahlreiche Absetzungsbeträge zu bereinigen ist, bevor es zur Leistungsberechnung heranzuziehen ist(BSG, Urteil vom 21.06.2011 – B 4 AS 21/10 R, Rn 29).
Grund hierfür ist nicht nur ein Anreiz für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, sondern auch, nur diejenigen Einkünfte tatsächlich bei der Höhe des Alg II-Anspruchs zu berücksichtigen, die tatsächlich zur Lebensunterhaltssicherung eingesetzt werden können.
Die Dienstanweisung des Jobcenters regelt hierzu unter 6.6.2 Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Abs. 2, dass es auf Art und Umfang der Tätigkeit einer Beschäftigung nicht ankomme.
Auch Einkünfte/Vergütungen aufgrund einer Tätigkeit als Selbständiger fielen darunter.
4.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Urteil vom 30.06.2011, – L 7 AS 79/08 –
Ein schlichtes Zusammenwohnen von Personen in einer Wohnung macht diese noch nicht zu Partner im Sinne einer eheähnlichen Gemeinschaft, auch wenn sie gemeinsam das Haus bewirtschaften.
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Anmerkung: vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Lesen Sie dazu auch – Spricht das Schlafen in einem gemeinsamem Bett des Hartz IV- Empfängers mit seiner Bekannten für oder gegen eine eheähnliche BG gem. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II?
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4.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Urteil vom 30.06.2011, – L 7 AS 79/08 –
Zu der Frage, ob in der ausschließlichen Nutzung einzelner Räume eine Nutzungsabsprache zu sehen ist, die die Nutzung der Miteigentümer entsprechenden realen Grundstücks- und Gebäudeteil beschränkt, liegt bislang keine höchstrichterliche Entscheidung vor.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vertritt mit Urteil vom 30.06.2011, – L 7 AS 79/08 – Revision zugelassen, die Auffassung, dass beim Miteigentum auch die eigentumsrechtlichen Einschränkungen zu beachten sind.
So ist jeder Miteigentümer durch die Rechte der anderen Miteigentümer in seinem Nutzungsrecht, auch dem Wohnnutzungsrecht, eingeschränkt.
Deswegen ist für die Beurteilung der Größe des Hausgrundstücks auf das Gesamtobjekt abzustellen, wenn ein Miteigentümer durch andere Miteigentümer nicht gehindert wird, das ganz Hausgrundstück zu bewohnen.
Nur wenn die Wohnstatt des Miteigentümers durch die ihren Anteilen entsprechende Nutzung der anderen Miteigentümer auf einen seinem ideellen Miteigentumsanteil entsprechenden realen Grundstücks- oder Gebäudeteil beschränkt ist, kann für die Bewertung, ob das im Miteigentum stehende Hausgrundstück angemessen ist, auf den aufgrund des Miteigentumsanteils als Wohnstatt genutzten Teil des Grundstücks abgestellt werden (BVerwG, Urteil vom 25.06.1992, Az.: 5 C 19/89, Rdn. 12; BSG, Urteil vom 30.05.1990, Az.: 11 RAr 33/88, Rdn. 30, Urteil vom 17.12.2002, Az.: B 7 AL 126/01 R, Rdn. 36).
Das ist hier der Fall. Entsprechend der von der Klägerin im Verwaltungsverfahren überreichten Aufstellung sind die Wohnräume zwischen ihr und dem Zeugen aufgeteilt, lediglich die Dielen, die Abstellkammer und die Küche werden als Funktionsräume gemeinsam genutzt. Dabei können sowohl die Klägerin als auch der Zeuge die ihnen zugeordneten Räume erreichen, ohne die dem Miteigentümer zugeordneten Räume durchqueren zu müssen.
Die bei der Klägerin zu berücksichtigende Wohnfläche beträgt 75,9 qm und liegt damit sogar unterhalb der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht für Einfamilienhäuser als angemessen zu berücksichtigenden Größe von 90 qm (BSG, Urteile vom 16.05.2007, Az.: B 11b AS 37/06 R, Rdn. 25 f.; 07.11.2006, Az.: B 7b AS 2/05 R, Rdn. 17 ff; 07.11.2006, B 7b AS 2/05 R, Rdn. 22).
4.6 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Urteil vom 16.06.2011. – L 7 AS 4/08 –
Keine höheren individuellen Stromkosten nach dem SGB II – Zum Anspruch auf Mehrbedarf für Behinderung und Merkzeichen G – Bekleidungsbedingter Mehrbedarf bei erhöhten Hosenverschleiß – Betreuungskosten sind nicht einkommensmindernd zu berücksichtigen, wenn zur Erzielung des Unterhaltseinkommens die Betreuung nicht erforderlich war.
Mit der Ergänzung des § 20 Abs. 1 SGB II um den Bedarf „Haushaltsenergie“ ist keine inhaltliche Änderung des Umfangs der Regelleistung erfolgt – die Ergänzung ist lediglich zur Klarstellung vorgenommen worden, so dass auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung ab 1.8.2006 höhere individuelle Stromkosten nicht nach dem SGB II zu erbringen sind (BSG 19.02.2009 – B 4 AS 48/08 R).
Orthopädische Hilfsmittel (wie Rollator) sind Teil der in §§ 26 ff, 31 SGB IX angeführten Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation, die in die Verweisungskette in § 21 Abs. 4 SGB II nicht aufgenommen worden sind
Hilfen, die nicht als berufsbezogene, das Arbeitsleben betreffende Eingliederungsmaßnahmen erbracht werden, stellen keine sonstigen Hilfen iSd § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II dar (BSG vom 15.12.2010 – B 14 AS 44/09 R).
Die Vorschriften des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II bzw § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII beschränken ihre Gültigkeit auf nicht erwerbsfähige Personen.
Eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf dem Wege eines Analogieschlusses ist höchstrichterlich abgelehnt und ein Verstoß wegen der unterschiedlichen Behandlung von erwerbsfähigen und erwerbsunfähigen Hilfebedürftigen gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz verneint worden (BSG vom 21.12.2009 – B 14 AS 42/08 R – und vom 18.02.2010 – B 4 AS 29/09 R -).
Bekleidungsbedingter Mehrbedarf, der auf den erhöhten Hosenverschleiß als Folge der bestehenden behinderungsbedingten Sturzanfälligkeit zurückzuführen ist, führt nicht zu einem Anspruch aus § 73 SGB XII.
Eine solche Bedarfslage ist, insoweit der bei der Klägerin bestehenden Situation durchaus vergleichbar, z. B. anerkannt, sofern bei einer sog. C-leg-Versorgung ein erhöhter Wäscheverschleiß entsteht (BSG vom 15.12.2010 – B 14 AS 44/09 R).
Die von der Klägerin vorgetragene Bedarfserhöhung von höchstens 160 EUR jährlich hält sich aber noch in dem Rahmen, der von der Regelleistung abzudecken ist. Eine monatliche Mehrbelastung von knapp 14 EUR überschreitet die Bagatellgrenze noch nicht.
Das BSG hat bei regelmäßig anfallenden Kosten von 20,45 EUR die Bagatellgrenze als überschritten angesehen (BSG Urteil vom 19.08.2010 – B 14 AS 13/10 R), es gibt aber auch Überlegungen, die Grenze bei 10 % der Regelleistung zu ziehen (Düring in Gagel, Kommentar zum SGB II, § 21 Rn. 47).
Zur Erzielung des Unterhaltseinkommens war die Betreuung vom Sohn in der Ganztagsschule nicht erforderlich. Nach der Argumentation der Klägerin auch nicht, um ihr entsprechend der finalen Ausrichtung des SGB II einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Maßgebend für die Betreuung waren Verhaltensauffälligkeiten des Sohnes infolge seiner ADHS – Erkrankung, die eine pädagogisch geschulte Betreuung notwendig machte.
Das BSG hat zu den Betreuungskosten entschieden, dass solche Aufwendungen zwar grundsätzlich von dem zu berücksichtigenden Einkommen in Absatz gebracht werden können. Eine Absetzung als „Werbungskosten“ kann danach nur dann erfolgen, wenn die Betreuungsaufwendungen im Sinne einer finalen Verknüpfung infolge der Erwerbstätigkeit entstanden sind (BSG 9.11.2010 – B 4 AS 7/10 R).
4.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.09.2011, – L 19 AS 2219/10 B –
Voraussetzung für die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erfordert, deren Kosten aufwändiger sind als dies für Personen ohne diese Einschränkung der Fall ist (BSG Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R, Rn 16f).
Unabhängig von der Frage, ob die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 01.10.2008 (nachfolgend: Mehrbedarfsempfehlungen) als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind (vgl. Zusammenfassung des Meinungstandes in BSG Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R, Rn 23), können die Mehrbedarfsempfehlungen als Orientierungshilfe dienen und sind weitere Ermittlungen im Einzelfall nur erforderlich, sofern Besonderheiten, insbesondere von den Empfehlungen abweichende Bedarfe, substantiiert geltend gemacht werden (BSG Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R, Rn 23).
Die nach den Mehrbedarfsempfehlungen geforderte Ernährung mit einer sog. „Vollkost“ bei Diabetes mellitus II unterfällt nicht § 21 Abs. 5 SGB II, da es sich nicht um eine Krankenkost handelt, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt. Die Vollkost ist aus der Regelleistung zu bestreiten, die pauschaliert ist. § 21 Abs. 5 SGB II stellt insofern keinen Auffangtatbestand dar (BSG Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R, Rn 25, 26).
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Anmerkung: vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Durch die aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge vom 1.10.2008 wird die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltung und der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, die Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X bzw § 103 SGG), nicht aufgehoben.
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4.8 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.09.2011, – L 19 AS 205/11 B –
Eine Behörde hat die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu erstatten, wenn der Widerspruch erfolgreich ist.
Dies ist der Fall, wenn zwischen dem Rechtsbehelf und der begünstigenden Entscheidung der Behörde eine ursächliche Verknüpfung im Rechtssinne besteht. Ein Widerspruch ist nicht immer schon dann erfolgreich, wenn zeitlich nach der Einlegung des Rechtsbehelfs eine dem Widerspruchsführer begünstigende Entscheidung ergeht, wenn also der belastende Verwaltungsakt, der Widerspruch des Betroffenen hiergegen und ein „stattgebender“ Verwaltungsakt in zeitlicher Reihenfolge stehen. Erforderlich ist vielmehr, dass zwischen der Einlegung des Rechtsbehelfs und der begünstigenden Entscheidung der Behörde eine ursächliche Verknüpfung im Rechtssinne besteht (BSG Urteile vom 13.10.2010 – B 6 KA 29/09 R = juris Rn 16 mit weiteren Rechtsprechungshinweisen, vom 20.10.2010 – B 13 R 15/10 R, Rn 30 und vom 21.07.1992 – 4 RA 20/91 -, Rn 19).
Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts ist danach zu beurteilen, ob ein Widerspruchsführer es für erforderlich halten durfte, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützt zu werden. Dies beurteilt sich nicht aus subjektiver Sicht des Widerspruchsführers, sondern aus der Sicht eines verständigen Beteiligten, der bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Es kommt darauf an, ob vom Standpunkt einer vernünftigen Person ohne spezielle Rechtskenntnisse in der gegebenen Konstellation die Zuziehung eines Rechtsbeistandes geboten gewesen wäre. Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt, in dem die mit Aufwendungen verbundene Handlung vorgenommen worden ist (vgl. BSG Urteile vom 20.10.2010 – B 13 R 15/10 R, Rn 25 u. vom 20.11.2001 – B 1 KR 21/00 R, Rn 16).
4.9 – Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Beschluss vom 30.08.2011, – L 6 AS 402/11 B ER –
§ 199 Abs. 2 SGG findet auf Beschlüsse, mit denen das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs angeordnet hat, keine Anwendung.
Nach § 199 Abs. 2 S. 1 SGG kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, soweit ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Über den Antrag nach § 199 Abs. 2 S. 1 SGG entscheidet demnach der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts.
Der Antrag des Antragsgegners auf Aussetzung der Vollstreckung des Beschlusses des SG ist unzulässig. § 199 Abs. 2 SGG findet vorliegend weder unmittelbar noch entsprechend Anwendung. Die Vorschrift regelt die Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus einem vollstreckbaren Titel. Vollstreckungstitel sind nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG u.a. auch einstweilige Anordnungen. Allerdings ist nicht jede gerichtliche Entscheidung einer Vollstreckung fähig (Ruppelt in Hennig Kommentar zum SGG § 199 Rz 5 ff.).
So entfalten Gestaltungsurteile ihre Wirkung, ohne dass eine Vollstreckung möglich ist (BSG E27, 31). Auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruches nach § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG hat rechtsgestaltenden Charakter und ist daher kein vollstreckbarer Titel im Sinne der genannten Vorschrift (Adolf in Hennig § 86 b Rz 59).
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs bindet die Beteiligten bis zur Unanfechtbarkeit des Hauptsacheverfahrens (Keller in Mayer-Ladewig, Kommentar zum SGG § 86 b Rz 12). Nur dem Gericht der Hauptsache steht eine Änderungsbefugnis nach § 86 b Abs. 1 S. 4 SGG zu. Damit scheidet auch eine entsprechende Anwendung des § 199 Abs. 2 SGG im Sinne einer aufschiebenden Wirkung der Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des SG aus.
Anmerkung: vgl. dazu Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Beschluss vom 26.01.2011, – L 6 AS 616/10 B ER –
Monatsfrist zur Vollstreckung einstweiliger Anordnungen auch bei SGB-II-Leistungen.
4.10 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Beschluss vom 16.08.2011, – L 5 AS 65/11 B –
Die Argumentation, eine Zusicherung sei nicht erforderlich gewesen, da die neue Wohnung „die Grundkriterien der Zustimmungserfordernisse“ einhalte, geht fehl.
§ 22 Absatz 1 Satz 2 SGB II stellt ausdrücklich auf eine Erhöhung der angemessenen KdU nach einem Umzug ab. Das bedeutet, dass jeder Umzug, auch wenn sich die neue Miete im Rahmen der Angemessenheitskriterien bewegt, einer vorherigen Zustimmung oder aber der Erforderlichkeit bedarf, soweit die neue Miete höher liegt. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es nämlich, nicht erforderliche Umzüge in Wohnungen mit Mieten bis zur Angemessenheitsgrenze der KdU zu verhindern (vgl. BSG, Urteil vom1. Juni 2010, B 4 AS 60/09 R (21)).
Anmerkung: vgl. dazu auch den Beitrag im Blog von RA L. Zimmermann
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 04.07.2011, – L 5 AS 956/11 B ER –
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5. Alleinerziehung (insbesondere von schulpflichtigen Kindern) kann zu einer eingeschränkten Zumutbarkeit eines Wohnungswechsels führen.
Alleinerziehung (insbesondere von schulpflichtigen Kindern) kann zwar zu einer eingeschränkten Zumutbarkeit eines Wohnungswechsels führen (vgl BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19, RdNr 35), bestätigt durch Urteil des BSG vom 13.4.2011,- B 14 AS 85/09 R -.
Mit Urteil vom 13.4.2011, – B 14 AS 85/09 R – hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass bei der Bestimmung der angemessenen KdU als maßgeblichen Vergleichsraum das gesamte Stadtgebiet von Berlin heranzuziehen ist.
Den besonderen Belangen und der konkreten Situation des jeweiligen Hilfebedürftigen (zB von Alleinerziehenden oder von Familien mit minderjährigen schulpflichtigen Kindern) ist nicht bereits bei der (abstrakt-generell vorzunehmenden) Festlegung der Vergleichsräume, sondern erst im Rahmen der Zumutbarkeitsregelung des § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II Rechnung zu tragen (vgl BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19, jeweils RdNr 23).
Die tatrichterliche Würdigung, dass ein Wechsel der unmittelbaren Betreuungspersonen (insbesondere der Tagesmutter) bei einem Umzug in eine günstigere (und dabei in erster Linie kleinere) Wohnung in der Umgebung nicht notwendig gewesen wäre, ist von den Klägerinnen im Revisionsverfahren nicht mehr angegriffen worden. Sie haben bislang nichts vorgetragen, was gegen die Annahme des LSG sprechen könnte, dass ein Umzug in entferntere Ortsteile nicht erforderlich ist, um eine kostenangemessene Wohnung anzumieten.
Ein Umzug über nahegelegene Bezirksgrenzen hinweg ist für sich genommen jedenfalls kein Grund für dessen Unzumutbarkeit; auch das nähere soziale Umfeld geht damit nicht notwendigerweise verloren.
Anmerkung: Wann muss ein Hartz – IV Empfänger nach der neuesten Rechtsprechung des BSG – nicht umziehen? Welche Gründe stehen einem Umzug nicht entgegen?
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Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles
Quelle Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de