Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 04/2012

1.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.11.2011 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 24.11.2011, – B 14 AS 121/10 R –

Heizkostennachforderung muss das Jobcenter bezahlen, dabei sind auch Zeiträume zu berücksichtigen, in denen der Arbeitslose noch keine Hilfeleistung erhalten hat.

Die Abgrenzung von Schulden für eine Unterkunft von den übrigen Kosten der Unterkunft und Heizung ist nach der Rechtsprechung beider Senate unabhängig von der zivilrechtlichen Einordnung zu treffen.

Ausgehend von dem Zweck der Leistungen nach dem SGB II ist danach zu unterscheiden, ob es sich um einen tatsächlich eingetretenen und bisher noch nicht von dem SGB II-Träger gedeckten Bedarf handelt oder nicht (vgl BSG Urteil vom 22.3.2010 – B 4 AS 62/09 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 38 RdNr 17 und Urteil vom 17.6.2010 – B 14 AS 58/09 R – BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr 41, RdNr 17).

Diese Abgrenzung ist auch maßgeblich, soweit es sich um Verpflichtungen aus dem Mietverhältnis handelt, die bereits vor Eintritt der Bedürftigkeit begründet worden sind. Lediglich wenn der Hilfebedürftige seinen fälligen Verpflichtungen aus dem Mietverhältnis in Zeiträumen nicht nachkommt, in denen er keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen hat, sind solche Belastungen als Schulden anzusehen und nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des § 22 Abs 5 SGB II übernahmefähig.

Unerheblich für die Abgrenzung ist dagegen, dass hinzutretende Verbindlichkeiten teilweise auf dem Verbrauch in Zeiträumen beruhen, in denen keine Hilfebedürftigkeit bestand. Soweit Verbindlichkeiten erst nach Eintritt der Bedürftigkeit entstanden sind, gehören sie – jedenfalls solange die Wohnung weiterhin bewohnt wird – zu den Aufwendungen iS des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II (vgl BSG Urteil vom 17.6.2010 – B 14 AS 58/09 R – BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr 41, RdNr 19).

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Anmerkung von Willi 2:BSG, Urteil vom 20.11.2011, – B 4 AS 9/11 R –

Eine Heiz- und Betriebskostennachforderung ist für eine zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Nachforderung vom Arbeitsuchenden nicht mehr bewohnte Wohnung gem § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 als Unterkunftskostenbedarf im Fälligkeitsmonat vom Jobcenter zu übernehmen.
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2.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 06.01.2012, – L 7 AS 1107/11 B –

Klage auf Gewährung von Grundsicherung ohne Anrechnung des Elterngeldes als Einkommen ab 01.01.2011 hat keine Aussicht auf Erfolg.

Zur Begründung wird auf die Ausführungen des SG im angegriffenen Beschluss, die sich der Senat nach Prüfung zu eigen macht (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG) sowie auf die der SG Landshut, Augsburg und Marburg (Urteil vom 07.12.2011 – S 10 AS 484/11 Rn. 23 ff. juris; Urteil vom 22.11.2011 – S 17 AS 1102/11 Rn. 18 ff. juris; Urteil vom 12.08.2011 – S 8 AS 169/11 Rn. 20 ff) verwiesen.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die Ausgestaltung des Elterngeldes als Einkommensersatzleistung nicht gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) verstößt (Beschluss vom 09.11.2011 – 1 BvR 1853/11 Rn. 7 ff., 19). Das Elterngeld wird den berechtigten Hilfebedürftigen grundsätzlich gewährt, die Berücksichtigung als Einkommen ist Folge der verfassungsrechtlich zulässigen Qualifizierung als Entgeltersatz und führt zu der Vereinheitlichung der Rechtslage im Hinblick auf die bereits in der Vergangenheit erfolgten Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

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Anmerkung von Willi 2:Sozialgericht Landshut Urteil vom 07.12.2011, – S 10 AS 484/11 –

Hartz IV – Elterngeld ist anrechenbares Einkommen
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2.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.01.2012, – L 18 AS 1172/10 –

Ein Umzug ist erforderlich, wenn ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliegt, von dem sich auch ein Nichtleistungsempfänger leiten lassen würde (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2009 – L 29 AS 1196/09 B ER -; Sächsisches LSG, Beschluss vom 4. März 2011 – L 7 AS 753/10 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 8. Dezember 2009 – L 2 AS 4587/09 -,).

Vom Vorliegen eines solchen Grundes konnte sich der Senat mangels substantiierten Vorbringens der Klägerin nicht überzeugen. Soweit die Klägerin behauptet hat, dass die Lärmbelästigung in ihrer bisherigen Wohnung deutlich zu hoch gewesen sei, um dort – wegen des Schichtbetriebs – uU auch tagsüber schlafen zu können, lässt ihr Vorbringen nähere Einzelheiten zur Art der Lärmquelle und zur Frage, ob der Lärm das Maß des Üblichen in einer Großstadt wie Berlin überschritt, vermissen. Sachverhalt und Beteiligtenvortrag legten Nachforschungen nicht nahe (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 1995 – 5 RJ 26/94 = SozR 3-2200 § 1248 Nr. 12 m.w.N.).

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Anmerkung von Willi 2: BSG, Urteil vom 13.04.2011, – B 14 AS 32/09 R-

Hartz IV – Das Alter des Leistungsbeziehers und seine lange Wohndauer sind – auch in Kombination – keine Gründe, die gegen einen Umzug sprechen.

Hinsichtlich des soziales Umfeldes ist zu bedenken, dass jeder Umzug in gewissem Maße mit einer Veränderung des sozialen Umfelds einhergeht und dies eine normale Folge ist, die sich aus der gesetzlichen Regelung ergibt (vgl schon BSG vom 19.2.2009 – B 4 AS 30/08 R – BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 (München), RdNr 32 ff; BSG vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 27 (Essen), RdNr 33 ff).

Einem Umzug entgegenstehende Gründe können sein, wie etwa eine Behinderung oder die Ausübung des Umgangsrechts mit einem Kind (vgl § 22b Abs 3 Satz 2 SGB II idF des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes, BGBl I 2011, 453; ähnlich schon BSG vom 19.2.2009 – B 4 AS 30/08 R – BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 (München), RdNr 33 ff; BSG vom 17.12.2009 – B 4 AS 27/09 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 27 (Essen), RdNr 33).

Gründe wie, der HB bewohne die Wohnung bereits seit dem Jahr 1959; zum anderen bewahre er in ihr ein umfassendes Archiv insbesondere zu den Themen Sport, Ministerium für Staatssicherheit und Fußball auf, in denen er als wissenschaftlicher Experte international anerkannt ist, lassen nicht erkennen, warum er über den abgelaufenen Sechs-Monats-Zeitraum des § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II hinaus einen höheren Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft als die angemessenen haben sollte.

Die wissenschaftlichen Forschungen des Klägers und sein Archiv sowie dem in der Revisionsbegründung angeführten Art 5 Abs 3 GG stehen einem Umzug nicht entgegen. Das BSG hat bereits entschieden, dass § 22 SGB II keine Rechtsgrundlage zur Übernahme von Kosten für beruflich genutzte Räume ist (BSG vom 23.11.2006 – B 11b AS 3/05 R – SozR 4-4200 § 16 Nr 1 RdNr 15).
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2.3 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 12.01.2012, – L 5 AS 2097/11 B ER

§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II stellt keine Rechtsgrundlage dafür dar, eine bereits abgeschlossene und weiterhin geltende Eingliederungsvereinbarung durch einen Verwaltungsakt zu ergänzen, zu ändern oder zu ersetzen.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II sollen die in einer Eingliederungsvereinbarung zu treffenden Regelungen durch Verwaltungsakt erfolgen, wenn eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande kommt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist das Nichtzustandekommen einer Eingliederungsvereinbarung zwar keine Voraussetzung für einen ersetzenden Verwaltungsakt. Vielmehr steht dem Grundsicherungsträger diese Alternative schon dann zu, wenn sie ihm als der besser geeignete Weg erscheint (Bundessozialgericht, Urteil vom 22. September 2009, B 4 AS 13/09 R).

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Behörde eine bereits abgeschlossene und weiterhin geltende Eingliederungsvereinbarung durch einen Verwaltungsakt ergänzen, ändern oder ersetzen darf, wenn sie dies für erforderlich hält. Bereits aus dem Wort-laut der Vorschrift wird deutlich, dass sie nur anwendbar ist, wenn keine Eingliederungsvereinbarung besteht.

Das ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung. Danach konkretisiert die Eingliederungsvereinbarung das Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Erwerbsfähigen und der Agentur für Arbeit. Sie enthält verbindliche Aussagen zum Fördern und Fordern des Erwerbsfähigen, insbesondere zu den abgesprochenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit und den Mindestanforderungen an die eigenen Bemühungen um berufliche Eingliederung nach Art und Umfang. Die Eingliederungsvereinbarung soll für sechs Monate gelten. Gelingt die Eingliederung in diesem Zeitraum nicht, ist eine neue Vereinbarung zu schließen, dabei sind die gewonnenen Erfahrungen zu berücksichtigen.

Durch die Befristung sollen eine intensive Betreuung und eine zeitnahe kritische Überprüfung der Eignung der für die berufliche Eingliederung eingesetzten Mittel sichergestellt werden. Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, können die vorgesehenen Festlegungen auch durch einen Verwaltungsakt getroffen werden (BT-Drucksache 15/1516, S. 54).

Der Gesetzgeber ist also davon ausgegangen, dass eine einmal abgeschlossene Eingliederungsvereinbarung grundsätzlich bis zum Ablauf der Befristung gilt. Da es sich zudem bei einer Eingliederungsvereinbarung um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag im Sinne des § 53 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) handelt (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 2011, L 3 AL 120/09; Urteil vom 19. Juni 2008, L 3 AS 39/07; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juli 2007, L 7 AS 689/07; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 17. März 2006, L 7 AS 118/05; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Oktober 2008, L 7 AS 251/08 B ER, L 7 AS 252/08 B ER, L 7 AS 253/08 B ER; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21. Oktober 2009, L 12 AS 12/09), unterliegt sie gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II den Vorgaben der §§ 53 bis 62 SGB X.

Die gesetzlichen Regelungen für eine nachträgliche Vertragsanpassung und eine Kündigung ergeben sich aus § 59 SGB X. Haben sich danach die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, seit Abschluss des Vertrages so wesentlich geändert, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist, so kann diese Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag schriftlich kündigen.

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Anmerkung von Willi 2:Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.08.2011, – L 7 AS 2367/11 ER-B –

Die Abänderung eines eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts während dessen Geltungszeitraum durch einen weiteren Ersetzungsbescheid nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II ist nur unter Beachtung der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 SGB X zulässig.
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2.4. – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Beschluss vom 27.12.2011, – L 5 AS 473/11 B ER –

Ein Rechtsmittel gegen die Tilgungspflicht eines Mietkautions- Darlehens hat aufschiebende Wirkung gem. § 39 SGB II.

Widerspruch gegen den die Aufrechnung verfügenden Bescheid hat nach § 86a SGG aufschiebende Wirkung und wird nicht vom Hart IV-Sonderrecht des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung des § 39 SGB II umfasst.

Die Entscheidung in dem angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Fälligkeit der Einbehaltung eines Teils der Regelleistungen zur Tilgung des Darlehens ist keine Aufhebung gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), keine Rücknahme gemäß § 45 SGB X und auch kein Widerruf gemäß § 46 SGB X.

Es handelt sich auch nicht um die Minderung des Auszahlungsanspruchs, der – durch das Wort „und“ ersichtlich – Folge einer Pflichtverletzung gemäß § 31a SGB II sein muss. Auch ein Übergang eines Anspruchs gemäß § 33 SGB II liegt nicht vor.

Die Auffassung des Beschwerdegegners eines gesetzlich angeordneten Wegfalls der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe lässt sich auch nicht aus den Gesetzesmaterialien herleiten. Hinsichtlich der Textfassung von § 39 SGB II in der Zeit von 1. Januar 2005 bis 31. September 2008 enthalten die Gesetzesmaterialien keine Begründungen im Einzelnen (vgl. BT-Drucksachen 15/1638 S. 18, 15/1728 S. 189 f., 15/1749 S. 33). Hinsichtlich der Neureglung des § 39 SGB II mit Wirkung vom 1. Januar 2009 – der hinsichtlich der hier maßgeblichen Fallkonstellationen unverändert geblieben ist – hat der Gesetzgeber klargestellt, dass Widersprüche gegen Erstattungsbescheide künftig aufschiebende Wirkung haben sollen, da diese keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeit regelten (BT-Drucksache 16/10810, S. 50). Damit sollte der verbreitete Streit zum Anwendungsbereich von § 39 SGB II auf Erstattungsbescheide geklärt werden.

Keinesfalls hat der Gesetzgeber, wie der Beschwerdegegner behauptet, § 39 SGB II auf die Fälle des § 42a SGB II ausgedehnt. Mit der Neufassung des § 39 SGB II zum 1. April 2011 sollte klargestellt werden, dass Widerspruch und Klage gegen einen die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellenden Verwaltungsakt nach § 31b Absatz 1 und 31c SGB II keine aufschiebende Wirkung haben (BT-Drucksache 17/3404 S. 114). Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber in der Neufassung des § 31b Abs. 1 SGB II die Minderung des Auszahlungsanspruchs des Betroffenen bei pflichtwidrigem Verhalten kraft Gesetzes angeordnet hat (BT-Drucksache 17/3404, S. 112), war die Neufassung des § 39 SGB II erforderlich. Denn durch den Sanktionsbescheid soll der Leistungsanspruch weder aufgehoben noch gemindert oder widerrufen werden; lediglich der Auszahlungsbetrag soll sich vermindern.

Weitere Verwaltungsakte, die eine „Minderung des Auszahlungsanspruchs“ bewirken, wie etwa eine Aufrechnung, fallen nicht unter § 39 SGB II. Hierzu hätte es aus den genannten Gründen einer ausdrücklichen Regelung bzw. eines gesetzgeberischen Willens bedurft. Denn die Fälligkeit der Tilgung eines Darlehens berührt ebenfalls nicht den sich nach dem Bedarf richtenden Leistungsanspruch an sich, sondern nur den Auszahlungsanspruch. Die Aufrechnung trifft somit keine Entscheidung über Grundsicherungsleistungen.

Somit gilt hier der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs (so auch: Münder, Grundsicherung für Arbeitsuchende, 4. Auflage, § 39 Rdnr. 12; Kommentar Beckonline, Buchstabe B. zu § 39 SGB II; Hauck/Noftz-Hengelhaupt, § 39 SGB II, Rdnr. 72 zur Rechtslage ab dem 1. Januar 2009 hinsichtlich Aufrechnungs-Verwaltungsakten gemäß § 23 Absatz 1 Satz 3 SGB II a.F.).

Für die Frage der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ist auch entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners nicht von Bedeutung, ob die Festlegung von Tilgungsraten gesetzlich vorgeschrieben oder im Ermessen steht.

Ebenso wenig ist die Rechtsnatur der Rückzahlungsverpflichtung von Belang. Der Verweis des Beschwerdegegners auf Kommentarstellen zur § 43 SGB II a.F. führt ebenfalls nicht weiter, da dort ein anderer Sachverhalt geregelt ist. Im Übrigen sind die Überlegungen des Sozialgerichts Berlin zur Unzulässigkeit der Kürzung des Regelbedarfs über einen längeren Zeitraum hier nicht von Bedeutung; aufgrund der gesetzlichen Regelung hat keine Güterabwägung hinsichtlich der Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzufinden.

Der Beschwerdegegner war im Rahmen der Vollzugsfolgenbeseitigung entsprechend § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG zu verpflichten, die seit Juni 2011 einbehaltenen Beträge auszubezahlen. Es handelt sich bei einem Betrag von 10% der Regelleistung der Bedarfsgemeinschaft nicht um einen Bagatellbetrag. Dieser wird vom Senat im Regelfall bei 5% der Regelleistung angenommen. Diese Grenze ist hier weit überschritten, zumal es sich nicht um eine einmalige Einbehaltung der dem Existenzminimum dienenden Grundsicherungsleistungen handelt.

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3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Berlin Urteil vom 16.12.2011, – S 26 AS 10021/08 –

Soweit er sich auf Unionsbürger bezieht, die nicht Staatsangehörige eines Vertragsstaates des Europäischen Fürsorgeabkommens sind, und soweit er sich auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 bezieht, bestehen jedenfalls für Zeiträume vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit keine Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses aus § 7 Abs 1 S 2 N. 2 SGB 2 (in der seit 28.08.2007 geltenden Fassung) mit höherrangigem Recht.

Die Republik Polen ist (bislang) kein Signatarstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens und damit nicht Partei dieses völkerrechtlichen Vertrages.

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3.2 – Sozialgericht Berlin Beschluss vom 03.01.2012, – S 96 AS 7837/11 –

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist im Rahmen einer Untätigkeitsklage jedenfalls dann nicht erforderlich im Sinne des § 121 Abs 2 ZPO, wenn der Kläger selbst mit dem Rechtsinstitut der Untätigkeitsklage vertraut ist und über umfangreiche Erfahrungen mit sozialgerichtlichen Verfahren verfügt und der Rechtsanwalt nicht ohnehin schon im Rahmen des Vorverfahrens mit der Sache befasst war.

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3.3 – Sozialgericht Berlin Beschluss vom 10.01.2012, – S 96 AS 26664/11 –

Das zeitgleiche Stellen einer Vielzahl von Anträgen durch den Leistungsberechtigten stellt in der Regel einen zureichenden Grund für eine längere Bearbeitungszeit im Sinne des § 88 SGG dar.

Eine Untätigkeitsklage kann rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Leistungsberechtigte das Überschreiten der Bearbeitungsfrist des § 88 SGG durch das zeitgleiche Stellen einer Vielzahl von Anträgen bewusst provoziert hat.

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3.4 – Sozialgericht Hildesheim Beschluss vom 08.12.2011, – S 55 AS 1910/11 ER –

Nach § 21 Abs. 6 SGB II sind die Beitragsrückstände – aus der Vergangenheit – der Antragstellerin in der privaten Krankenversicherung zu übernehmen.

Denn besteht nach § 21 Abs. 6 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung ein Anspruch der Antragstellerin auf Übernahme der Beitragsrückstände in geltend gemachter Höhe.

Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Wie oben dargelegt droht der Antragstellerin als Folge des Ruhens des Krankenversicherungsschutzes, dass sie im Krankheitsfall nicht oder nur sehr eingeschränkt behandelt werden würde.

Dies führt zwanglos zur Annahme eines unabweisbaren Mehrbedarfs, der auch eine Übernahme der bereits bestehenden Beitragsrückstände rechtfertigt. Soweit 21 Abs. 6 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung fordert, dass es sich um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf handeln muss, ist diese Regelung nach Sinn und Zweck der Vorschrift so zu verstehen, dass (auch) laufende Bedarfe aus einem in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen Zeitraum erfasst werden. Die hier streitigen Beitragszuschläge wurden von der G. für den Zeitraum von Anfang September 2009 bis Ende Dezember 2010, also für 16 Monate, erhoben, mithin existierte ein laufender Bedarf.

Diesen Bedarf hat der Antragsgegner durch einen Zuschuss, nicht durch ein Darlehen vorläufig zu befriedigen. Denn nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung dieser Norm kommt die Gewährung eines Darlehens nur dann in Betracht, wenn im Einzelfall ein vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf nicht gedeckt werden kann. Bei den Beiträgen zur Krankenversicherung handelt es sich jedoch nicht um einen vom Regelbedarf umfassten Bedarf (vgl. Schwabe in ZfF 2011, 97ff).

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3.5 – Sozialgericht Würzburg Beschluss vom 18.11.2011, – S 15 AS 772/11 ER –

Keine Übernahme von Kosten für eine Zahnersatzbehandlung

Denn dafür findet sich im SGB II keine Anspruchsgrundlage. Die Die Gewährung eines Mehr- oder Sonderbedarfs im SGB II ist nur in den ausdrücklich gesetzlich normierten Fällen möglich (BSG, Urteil vom 19.8.2010 – B 14 AS 13/10 R – Rn. 14), zu denen die streitgegenständliche Kostenübernahme für die geplante zahnärztliche Behandlung nicht gehört.

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Anmerkung von Willi 2:
Es liegt keiner der in § 21 Abs. 2 bis 5 SGB II geregelten Mehrbedarfe vor. Aber auch aus § 21 Abs. 6 SGB II ergibt sich kein Anspruch auf Übernahme der anfallenden Kosten. Hiernach erhalten Leistungsberechtigte einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Bei den Kosten für die geplante zahnärztliche Behandlung handelt es sich jedoch nicht um einen laufenden, sondern vielmehr um einen einmaligen Sonderbedarf.
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4.   Aufsatz info also 6/2011

Helga Spindler: Verfassungsrecht trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen? (PDF, 126 KB)

info also – Informationen zum Arbeitslosenrecht und Sozialhilferecht – Nomos – Heft 6

www.info-also.nomos.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de