Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Az.: L 8 SO 242/10 NZB

S 34 SO 177/08 (Sozialgericht Hildesheim)

Beschluss

In dem Rechtsstreit

xxx,
Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx,
Beklagter und Beschwerdegegner,

Prozessbevollmächtigte:
xxx,

hat der B. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 26. Januar 2012 in Celle durch die Richter xxx – Vorsitzender – und xxx sowie die Richterin xxx beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 24. Februar 2010 zugelassen.

Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt.

Der Klägerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam, Göttingen, bewilligt.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte der 19xx geborenen und im Wesentlichen durch einen Diabetes mellitus Typ IIb, eine Laktoseintoleranz mit ausgeprägter Reizdarmsymptomatik, eine chronische Gastritis und eine Fettstoffwechselstörung sowie ein Fibromyalgiesyndrom gesundheitlich beeinträchtigten Klägerin zusätzlich zu den bewilligten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum vom 1. September 2007 bis 30. Juni 2008 (weiterhin; zum streitigen Zeitraum vgl im Einzelnen den PKH-Beschluss des Senats vom 8. Juni 2010 im Verfahren L 8 SO 102/10) einen Mehrbedarfszuschlag für kostenaufwändigere Ernährung zu gewähren hat.

Die nach erfolglosem Verwaltungsverfahren (ablehnender Bescheid der für den Beklagten handelnden Stadt Göttingen vom 29. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 8. September 2008) am 1. Oktober 2008 erhobene Klage der Klägerin – gerichtet auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen, die um den geltend gemachten Mehrbedarfszuschlag erhöht sind – hat das Sozialgericht Hildesheim (SG) mit Gerichtsbescheid vom 24. Februar 2010 abgewiesen. Die Voraussetzungen eines Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs 5 SGB XII seien nicht erfüllt. Nach den maßgeblichen aktualisierten Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulage in der Sozialhilfe (3. völlig neu bearbeitete Auflage 2008) bestehe bei Diabetes mellitus kein ernährungsbedingter Mehrbedarf. Die Frage, ob eine Laktoseintoleranz einen ernährungsbedingten Mehrbedarf begründe, werde von den Empfehlungen des Deutschen Vereins nicht beantwortet. Aus den Stellungnahmen des Amtsarztes xxx vom Gesundheitsamt der Stadt Göttingen vom 28. Januar und 6. November 2008 sowie vom 17. Dezember 2009 ergebe sich jedoch, dass die Klägerin wegen ihrer Erkrankungen keiner kostenaufwändigeren Ernährung bedürfe. Nach der Stellungnahme vom 6. November 2008 betreffe eine Laktoseintoleranz größere Teile der Bevölkerung und stelle damit eine weit verbreitete Normvariante der menschlichen Verdauungsenzyme dar, die nicht notwendigerweise zu finanziellem Mehraufwand für die Ernährung führe. Die Erkrankungen der Klägerin begründeten keinen ernährungsbedingten Mehrbedarf, weil jeweils eine Ernährung mit Vollkost leidensgerecht sei bzw. laktosehaltige Nahrungsmittel ohne die Verursachung von Mehrkosten vermieden werden könnten. Für das Gericht sei kein Anhaltspunkt ersichtlich, der geeignet sei, an den Ausführungen des xxx zu zweifeln und weitere Ermittlungen anzustellen. Soweit die Klägerin die Fachkompetenz des xxx anzweifle, fehle es hierfür gänzlich an Anhaltspunkten. Auch die von ihr vertretene Auffassung, die Kombination der verschiedenen bei ihr vorhandenen Erkrankungen begründe einen Mehrbedarf, entbehre jeder Grundlage. Hierbei handele es sich um eine Vermutung „ins Blaue“ hinein, die nicht geeignet sei, weitere Ermittlungen des Gerichts zu rechtfertigen. Die Auffassung des Gerichts werde im Übrigen durch die von dem Beklagten überreichte Broschüre „Laktoseintoleranz – Laktosefreie Ernährung“ des Bundesverbandes für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz e.V. gestützt.

Die Klägerin hat zunächst am 16. März 2010 entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des Gerichtsbescheides des SG Berufung eingelegt. Nachdem der Senat die Berufung mit Beschluss vom 15. Juni 2010 – L 8 SO 102/10 – (unter Bezugnahme auf seinen ablehnenden PKH-Beschluss vom 8. Juni 2010) wegen des Nichterreichens des Beschwerdewertes des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG als unzulässig verworfen hatte, hat die Klägerin am 21. Juli 2010 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Das Verfahren habe grundsätzliche Bedeutung, weil zu klären sei, ob die Kombination der bei ihr vorliegenden verschiedenen Erkrankungen – die jeweils für sich allein keinen Mehrbedarf auslösten – einen ernährungsbedingten Mehrbedarf auslösen können. Zudem sei die Frage, ob bei einer Erkrankung an Laktoseintoleranz ein ernährungsbedingter Mehrbedarf bestehe, bisher nicht abschließend entschieden. Darüber hinaus weiche der angegriffene Gerichtsbescheid des SG hinsichtlich der Verneinung eines Mehrbedarfs bei Laktoseintoleranz von dem insoweit eindeutigen Beschluss des 6. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen vom 21. Oktober 2008 – L 6 AS 458/08 ER – ab. Schließlich liege ein Verfahrensfehler vor, weil das SG seine Amtsermittlungspflicht nicht ausreichend beachtet habe. Die Stellungnahmen des Gesundheitsamtes des Beklagten seien nicht ausreichend gewesen. Das SG hätte einen unabhängigen Sachverständigen zur Frage eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs hören müssen. Die Stellungnahme des Gesundheitsamtes lasse die erforderliche besondere Sachkunde nicht erkennen.

Der Beschwerdegegner erwidert im Wesentlichen, die Sache habe keine grundsätzliche Bedeutung. Das SG sei auch nicht von einem den Beschluss des 6. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen vom 21. Oktober 2008 – L 6 AS 458/08 ER – tragenden Rechtssatz abgewichen. Ebenso wenig liege ein Aufklärungsmangel des SG vor. Denn es hab hier keine aussagekräftige fachärztliche Bescheinigung, aus der sich (im konkreten Einzelfall) eine erforderliche Ernährung verbunden mit einem finanziellen Mehraufwand im Vergleich zur gesunden Bevölkerung ergebe, vorgelegen. Die hausärztliche Bescheinigung habe keine Begründung enthalten. Eine Auseinandersetzung mit den gesundheitsamtlichen Ausführungen oder gar deren Infragestellung sei nicht erfolgt.

II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist formgerecht sowie innerhalb der wegen der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG gemäß § 66 Abs 1 iVm Abs 2 SGG geltenden Jahresfrist eingelegt und der Wert des Beschwerdegegenstandes überschreitet nicht die Beschwerdegrenze des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG von 750,00 €.

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 24. Februar 2010 ist gemäß § 144 Abs 2 Nr 3 SGG zuzulassen, weil mit der von der Klägern geltend gemachten Verletzung der Amtsermittlungspflicht ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel vorliegt, auf dem der Gerichtsbescheid des SG beruhen kann. Die von der Klägerin gerügte Verletzung der dem SG gemäß § 103 SGG obliegenden Amtsermittlungspflicht stellt dann einen Verfahrensmangel dar, wenn sich das Gericht zu weiteren Ermittlungen aus seiner rechtlichen Sicht hätte gedrängt fühlen müssen (Leitherer in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008 § 144 Rdnr 34 und § 103 Rdnr 20 jeweils mwN). Das SG hätte sich aus seiner rechtlichen Sicht zu – von der Klägerin im Laufe des Verfahrens auch nachdrücklich geforderten – weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Nach seiner zutreffenden rechtlichen Sicht kommt es für die Beantwortung der Frage, ob die Klägerin gemäß § 30 Abs 5 SGB XII einen Anspruch auf Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändigerer Ernährung hat, darauf an, ob die bei der Klägerin bestehende Laktoseintoleranz und/oder die Kombination dieser Unverträglichkeit mit den übrigen Erkrankungen der Klägerin eine spezielle Ernährung erforderlich macht, deren Kosten höher („aufwändiger“) ist als dies für Personen ohne solche gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Fall ist. Für die hinreichend verlässliche Beurteilung dieser streitentscheidenden Frage sind die vom SG herangezogenen Stellungnahmen des Amtsarztes xxx vom Gesundheitsamt der Stadt Göttingen vom 28. Januar und 6. November 2008 sowie vom 17. Dezember 2009 keine hinreichend verlässliche Grundlage. Das BSG hat jedenfalls für Fälle, in denen – wie hier hinsichtlich der Laktoseintoleranz bzw. der Kombination mehrerer Erkrankungen – die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulage in der Sozialhilfe keine Beurteilung enthalten, die Notwendigkeit betont, im Einzelfall im Wege der Amtsermittlung medizinische und/oder ernährungswissenschaftliche Stellungnahmen oder Gutachten zur Klärung einzuholen (vgl. nur Urteile vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 32/06 R -, juris Rn. 39, vom 9. Juni 2011 – B 8 SO 11/10 R -, juris Rn. 24 und vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 49/10 R -, juris Rn. 25). Der Senat verkennt zwar nicht, dass in zahlreichen Supermärkten eine Vielzahl von laktosefreien Lebensmitteln ohne nennenswerte Mehrkosten angeboten werden. Daraus ergibt sich aber (noch) nicht eine allgemeinkundige Tatsache bzw. ein allgemeines Erfahrungswissen des Gerichts des Inhalts, dass eine Laktoseintoleranz keine Mehrkosten für Ernährung verursacht. Ebenso wenig verfügte das SG in dieser Frage über ausreichende eigene Sachkunde. Auch aus den genannten Stellungnahmen des xxx wird nicht erkennbar, über welche Sachkunde der Verfasser verfügt und auf welchen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Grundlagen er seine Aussagen stützt. So sind diese Stellungnahmen nicht ausreichend nachvollziehbar und tragfähig. Daher hätte sich das SG zur weiteren Sachverhaltsaufklärung durch Einholung eines medizinischen und/oder ernährungswissenschaftlichen Sachverständigengutachtens gedrängt fühlen müssen.

Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt. Der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht mehr, § 145 Abs 5 Satz 1 SGG.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten, weil die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgen.

Der Klägerin ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen. Ihre Beschwerde hat – wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt – die gemäß § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg. Als Bezieherin von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII erfüllt sie auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH ohne Ratenzahlung. Die Beiordnung des Rechtsanwalts beruht auf § 121 Abs 2 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.