Landgericht Lüneburg – Beschluss vom 29.02.2012 – Az.: 10 T 5/11

Beschluss

In der Beschwerdesache
zum Verwaltungsvollstreckungsverfahren

gegen

xxx,
– Beschwerdeführer und  Betroffener –

Verfahrensbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

xxx,
– Beteiligte –

hat die 10. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht xxx, die Richterin am Landgericht xxx und den Richter xxx am 29.02.2012 beschlossen:

Auf die sofortige  Beschwerde der Beteiligten wird der Beschluss des  AG Dannenberg (Elbe) vom 17.11.2010 insoweit abgeändert, als festgestellt wird, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen am 17.11.2010 zwischen ca. 05:00 Uhr und 08:30 Uhr rechtswidrig war.

Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die zur zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit notwendigen Kosten des Betroffenen tragen die Landeskasse und der Betroffene je zur Hälfte.

Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000,- Euro festgesetzt.

Gründe:

I.
In der Nacht vom 06. auf den 07.11.2010 wurde im Zuge von Protestaktionen gegen den Transport von Atommüll nach Gorleben im Landkreis Lüchow / Dannenberg die Eisenbahnstrecke Lüneburg / Dannenberg der Nähe der Gemeinde Harlingen von Demonstranten blockiert. Bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes setzten sich mehr als 1.000 Personen auf die Bahngleise, um die Durchfahrt eines mit Castorbehältern beladenen Güterzuges zu verhindern. Der Betroffene schloss sich dieser Aktion an und ließ sich ebenfalls auf einem der Gleise nieder.

Kurz nach Mitternacht umstellten Polizeieinheiten die Teilnehmer der Sitzblockade und kündigten die Räumung der Transportstrecke an. Ein Großteil der Demonstranten verließ daraufhin freiwillig die Bahngleise. Die Polizei ließ dies ungehindert geschehen, weil es ihr in erster Linie darum ging, die Bahnstrecke möglichst schnell frei zu bekommen. Gegen 01:40 Uhr begann die Polizei damit, die noch auf den Gleisen verbliebenen Personen wegzutragen und diese in einem Feldgewahrsam festzuhalten, der auf einer einige hundert Meter entfernten Wiese eingerichtet worden war. Eine vorhergehende richterliche Entscheidung über diese Maßnahme hatte die Polizei nicht herbeigeführt. Vielmehr war gegen 00:30 Uhr ein ca. einstündiges Kooperationsgespräch vorausgegangen, an dem der für die Räumung der Bahnstrecke zuständige Polizeidirektor sowie Repräsentanten der Blockadeteilnehmer, eine Abgeordnete des Europaparlaments, der Landrat des Landkreises Lüchow-Dannenberg, mehrere Kirchenvertreter sowie Mitglieder einer Bürgerinitiative gegen den Castortransport teilgenommen hatten, Im Rahmen dieses Gesprächs war vereinbart worden, dass die Polizei bei in Gewahrsam zu nehmenden Personen keine Personalien feststellen würde – mit Ausnahme von wiederkannten Straftätern und Personen, die während der Räumung Straftaten begehen würden. Allerdings sollten Betroffene, welche die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme anzweifelten und dies gerichtlich überprüfen lassen wollten, freiwillig ihre Personalien angeben können und danach unverzüglich dem zuständigen Richter vorgeführt werden.

Aufgrund der hohen Zahl von Demonstranten, welche die Bahngleise nicht freiwillig verließen, zog sich die Räumung der Bahnstrecke über Stunden hin. Gegen etwa 05:00 Uhr wurde auch der Betroffene weggetragen, in den nahegelegenen Feldgewahrsam verbracht und dort festgehalten. Dabei handelte es sich um eine rechteckige Fläche von etwa 100 mal 100 Metern Größe, die durch eng zusammengestellte Polizeifahrzeuge begrenzt wurde. Ein etwa 5 Meter breiter Bereich blieb als Eingang offen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Skizze BI. 12 d. A. Bezug genommen. Für Toiletten, Verpflegung und warme Decken wurde gesorgt. Ab etwa 02:30 Uhr befanden sich etwa vier Fahrzeuge neben dem Eingangsbereich des Feldgewahrsams ein als „Bearbeitungstrupp” gekennzeichneter Wagen als Anlaufstelle. Dort waren mehrere Polizeibeamten dazu bereit, die Personalien derjenigen aufzunehmen, die eine Vorführung beim zuständigen Richter wünschten. Einigen Polizeibeamten, die im Inneren des Feldgewahrsams eingesetzt wurden, war der Standort des „Bearbeitungstrupps” ebenfalls bekannt. Die Versuche des Betroffenen, seine Personalien von zuständigen Polizeibeamten aufnehmen zu lassen und einem Richter vorgeführt zu werden scheiterten gleichwohl, weil ihm trotz mehrfacher Nachfrage bei herumstehenden Polizeibeamten nicht gesagt werden konnte, wo er sein Anliegen vorbringen könne.

Gegen etwa 08:30 Uhr passierte der mit Castorbehältern beladene Güterzug den von der Polizei geräumten Teil der Bahnstrecke Lüneburg – Dannenberg. Unmittelbar danach entließ die Polizei alle in Gewahrsam genommenen Personen aus dem Feldgewahrsam – darunter auch den Betroffenen.

Der Betroffene ist der Ansicht, dass der Polizeigewahrsam rechtswidrig war, weil er nicht einem Richter vorgeführt worden sei. Die Art und Weise der Freiheitsentziehung sei ebenfalls rechtswidrig gewesen, weil man ihn trotz Minusgraden im Freien festgehalten habe. Er hat daher vor dem AG Dannenberg beantragt, festzustellen, dass die durch Beamte der Antragsgegnerin durchgeführte Freiheitsentziehung des Antragstellers am 07.11.2010 zwischen ca. 01:00 Uhr nachts und ca. 08:30 Uhr morgens auf einem Feld bei Harlingen dem Grunde nach sowie in der durchgeführten Art und Weise während des Vollzuges rechtswidrig war.

Die Beteiligte Polizeidirektion Lüneburg hat vor dem AG Dannenberg beantragt, den Antrag des Betroffenen zurückzuweisen. Anordnung und Vollzug des Polizeigewahrsams seien rechtmäßig gewesen. Wenn der Betroffene einen Polizeibeamten vor Ort angesprochen oder sich bei der extra eingerichteten Anlaufstelle gemeldet hätte, wäre er unverzüglich dem zuständigen Richter vorgeführt worden. Die Art und Weise der Unterbringung sei ebenfalls nicht zu beanstanden, weil allen in Gewahrsam genommenen Personen Decken und warme Getränke zur Verfügung gestellt worden seien.

Das AG Dannenberg hat durch Beschluss vom 24.08.2011 festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen am 17.11.2010 zwischen 01:00 Uhr nachts bis ca. 08:30 Uhr rechtswidrig war. Im Übrigen hat es den Antrag des Betroffenen zurückgewiesen. Die Entscheidung erging gerichtskostenfrei. Die zur zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit notwendigen Kosten des Betroffenen wurden der Beteiligten auferlegt und der Geschäftswert auf 3.000,- Euro festgesetzt. Der Beschluss wurde dem Betroffenen und der Beteiligten Polizeidirektion Lüneburg jeweils am 05.08.2011 zugestellt.

Dagegen wendet sich die Beteiligte Polizeidirektion Lüneburg mit der sofortigen Beschwerde vom 19.09.2011. Sie beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Feststellungsantrag des Betroffenen zurückzuweisen. Der Betroffene beantragt demgegenüber, die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin aus den Gründen des angegriffenen Beschlusses des Amtsgerichts Dannenberg vom 24.08.2011 zurückzuweisen.

II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet.

1. Die sofortige Beschwerde ist insoweit begründet, als entgegen dem Feststellungsantrag des Betroffenen in der Zeit zwischen 01:00 Uhr nachts und 05:00 Uhr keine rechtswidrige Freiheitsentziehung vorlag.

Der Betroffene hatte sich nach eigenen Angaben vor Mitternacht der Sitzblockade der Bahnstrecke Lüneburg / Dannenberg angeschlossen und wurde erst gegen etwa 05:00 Uhr in den Feldgewahrsam verbracht. Seine nicht weiter substantiierte Behauptung, er habe sich bereits ab 01:00 Uhr nicht mehr von den Gleisen entfernen können, weil Polizeieinheiten die auf den Gleisen befindliche Demonstranten eingekesselt und jedes Sich-Entfernen verhindert hätten, ist widerlegt. Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass die Demonstranten zwar umstellt wurden, aber gleichwohl jeder, der ernsthaft dazu gewillt war, tatsächlich den Gleisbereich verlassen konnte. So ist gerichtsbekannt, dass die Strategie der Polizeiführung bei den Castortransporten in erster Linie darauf gerichtet ist, den Güterzug mit den Castorbehältern möglichst schnell und reibungslos in den Zielbahnhof zu leiten. Die Prävention und Verfolgung geringfügiger Straftaten wird demgegenüber typischerweise als nachrangig eingestuft. Vor diesem Hintergrund erscheint es unrealistisch, dass die Polizei vorliegend den Abzug von Demonstranten verhindert haben soll. Hinzu kommt, dass sich unstreitig hunderte, wenn nicht gar tausende Demonstranten auf Aufforderung der Polizei tatsächlich von den Gleisen entfernt haben und gerade deshalb später auch nicht in den Feldgewahrsam verbracht wurden. Dieser Umstand lässt sich mit der Behauptung des Betroffenen, er habe sich nicht entfernen können, nicht in Einklang bringen. Darüber hinaus hat er bei seiner Anhörung am 28.06.2011 vor dem AG Dannenberg (Elbe) angegeben, er sei zumindest vier Meter vom Gleisbereich „weggetragen” worden, was ebenfalls nicht dazu passt, dass er sich angeblich selbst habe entfernen wollen.

2. Die sofortige Beschwerde ist insoweit unbegründet, als das AG Dannenberg zutreffend festgestellt hat, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen in der Zeit zwischen ca. 05:00 Uhr und 08:30  Uhr rechtswidrig war.

Der Betroffene wurde entgegen der Vorgabe in § 19 Nds. SOG nicht unverzüglich einem Richter vorgeführt. Dem steht nicht entgegen, dass nach dem Vortrag der Beteiligten Polizeiinspektion Lüneburg ab 02:30 Uhr ein Polizeifahrzeug in der Nähe des Eingangsbereiches des Feldgewahrsams als „Bearbeitungstrupp” gekennzeichnet war und weiter Polizeibeamte vor Ort über diese Anlaufstelle informiert waren. Denn jedenfalls ist ein Schild mit der Aufschrift „Bearbeitungstrupp” kein eindeutiger Hinweis auf die Möglichkeit, eine richterliche Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen. Ein solcher Hinweis mochte vielleicht für die an der Vorbesprechung betreffend die Räumung der Bahnstrecke beteiligten Personenkreisen einleuchtend gewesen sein, also für den zuständigen Polizeidirektor, die Repräsentanten der Blockadeteilnehmer, die Abgeordnete des Europaparlaments, den Landrat des Landkreises Lüchow-Dannenberg, mehreren Kirchenvertreter sowie Mitglieder einer Bürgerinitiative gegen den Castortransport. Darauf kommt es jedoch nicht an. Maßgebend ist allein die Situation des im Feldgewahrsam befindlichen Betroffenen, der die von der Polizei eingerichtete Anlaufstelle nicht gefunden hat und in Anbetracht der etwa 100 mal 100 Meter großen Fläche auf der sich mehr als 1000 in Gewahrsam genommenen Personen befanden, auch nicht unbedingt finden musste. Dies gilt umso mehr, wenn man weiter bedenkt, dass es nicht Aufgabe des Betroffenen war, sich innerhalb der unübersichtlichen Verhältnisse vor Ort und trotz ablehnender Aussagen einzelner Polizeibeamter vor Ort nachhaltig um seinen Rechtsschutz zu bemühen. Denn nach § 19 Nds. SOG „haben” die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Das Gesetz sieht damit für Freiheitsentziehungen einen effektiven Rechtsschutz von Amts wegen vor, wobei gerade dem Richtervorbehalt eine besonders hohe Bedeutung zukommt. Im Übrigen wäre es ein Leichtes gewesen beispielweise durch regelmäßige Lautsprecherdurchsagen sämtliche der im Feldgewahrsam befindlichen Personen darüber zu informieren, wo sie sich melden können, um unverzüglich dem für sie zuständigen Richter vorgeführt zu werden. Dass dies unterlassen wurde und die Kommunikation zwischen dem Betroffenen und den Polizeikräften vor Ort nicht klappte, kann nicht zu Lasten des Betroffenen gehen.

3. Die sofortige Beschwerde der Beteiligten Polizeidirektion richtet sich erkennbar nicht gegen die Ablehnung des Feststellungsantrages des Betroffenen in Bezug auf die Art und Weise der Freiheitsentziehung. Insofern ist lediglich ergänzend anzumerken, dass Bedenken gegen die Art und Weise der Freiheitsentziehung vorliegend nicht bestehen. Denn die Versorgung der im Feldgewahrsam befindlichen Personen — also auch des Betroffenen — mit Decken und warmen Getränken war gewährleistet. Allein die Ingewahrsamnahme im Freien bei Minusgraden begründet für sich genommen nicht die Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 7 Nds. FGG i. V. m. § 84 FamFG und § 24 Nr. 1 FamGKG.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 30 Abs. 2 KostO.

5. Die weitere sofortige Beschwerde war nicht gem. § 19 Abs. 2 S. 4 Nds. SOG zuzulassen, weil die hier zur Entscheidung stehende Frage keine grundsätzliche Bedeutung hat.