Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Az.: L 6 AS 748/10

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

xxx,
Kläger und Berufungskläger,

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx,
Beklagter und Berufungsbeklagter,

hat der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ohne mündliche Verhandlung, am 15. März 2012 in Celle durch Richter xxx und xxx, Richterin xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx für Recht erkannt:

Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. Juni 2010 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides  vom 13. März 2008 aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld II auch für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008 zu zahlen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008. Streitig ist, ob er für die ersten drei Monate seines Aufenthalts in der Bundesrepublik von der Leistungsberechtigung ausgenommen ist.

Der 1986 geborene Kläger ist kasachischer Staatsangehöriger. Am 30. Juni 2007 heiratete er seine jetzige Ehefrau, die deutsche Staatsangehörige ist und seit dem Jahr 1995 in der Bundesrepublik lebt. Der Kläger erhielt am 13. Dezember 2007 ein Visum zur Einreise in das Bundesgebiet wegen Familienzusammenführung, Erwerbstätigkeit wurde gestattet. Am 21. Dezember 2007 reiste er in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Januar 2008 die Zahlung von Alg II. Seine Ehefrau hatte am 1. September 2007 eine Berufsausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie aufgenommen, der monatliche Nettoverdienst betrug 514,08€. Die monatliche Miete betrug 409,89 €, der Abschlag für Gas lag monatlich bei 86 €. Am 7. Februar 2008 erhielt der Kläger eine bis zum 7. Februar 2009 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), Erwerbstätigkeit war gestattet. Mit Bescheid vom 11. Februar 2008 lehnte der Beklagte die Zahlung von Alg II ab, weil Ausländer in den ersten drei Monaten gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen seien. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13. März 2008). Mit Bescheid vom 3. April 2008 bewilligte der Beklagte Leistungen ab dem 22. März 2008, und zwar für den Monat März 2008 in Höhe von 114,33 € und beginnend ab dem 1. April 2008 in Höhe von 586,76 € monatlich.

Der Kläger hat am 14. April 2008 vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Es sei zweifelhaft, dass der Gesetzgeber Ausländer, die wegen Familienzusammenführung eine Aufenthaltserlaubnis erhielten, in den Leistungsausschluss habe aufnehmen wollen. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung seien von dem Leistungsausschluss betroffen vor allem Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit – von dem dreimonatigen voraussetzungslosen Aufenthaltsrecht – Gebrauch machten. Verständlich werde die Norm nur, wenn ausschließlich der dem Aufenthalt des Ausländers zugrunde liegende Aufenthaltstitel als Bezugspunkt des Leistungsausschlusses gewählt werde. Der Aufenthaltserlaubnis des Klägers liege die grundgesetzliche Ausstrahlung des Art 6 Grundgesetz (GG) zugrunde.

Das SG ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 8. Juni 2010 abgewiesen: Eine Beschränkung der Ausschlussregelung nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II auf bestimmte Personengruppen oder auf Angehörige bestimmter Staaten sei weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus der einschlägigen Rechtsprechung ersichtlich. Eine Beschränkung könne auch nicht im Wege der Auslegung oder der Analogie angenommen werden, weil es insoweit bereits an einer auslegungsfähigen unklaren Gesetzesformulierung bzw an einer ausfüllungsbedürftigen und -fähigen Regelungslücke fehle.

Dagegen richtet sich die noch im selben Monat eingelegte Berufung, mit der der Kläger an seiner Rechtsauffassung festhält. Er unterstreicht, dass er einzig zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft eingereist sei. Unter Beachtung des Schutzes der Ehe durch Art 6 GG sei eine einschränkende Auslegung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II notwendig.

Der Kläger beantragt,

1. den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 8. Juni 2010 und den Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2008 aufzuheben,

2. den Beklagten zu verurteilen, ihm auch für die Zeit vom 3. Januar bis zum 21. März 2008 Alg II zu zahlen.

Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Entscheidungen und beantragt, die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 8. Juni 2010 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten des Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit insgesamt zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn der Kläger war im Streitzeitraum nicht von der Leistungsberechtigung nach dem SGB II ausgenommen.

Der Kläger erfüllt auch im Streitzeitraum die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II: Er war hilfebedürftig, hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik und war auch erwerbsfähig, und zwar schon deshalb, weil ihm bereits mit dem Visum vom 13. Dezember 2007 eine Erwerbstätigkeit gestattet worden war (§ 8 Abs 2 SGB II). Entgegen der Auffassung des SG und des Beklagten ist er von der Leistungsberechtigung auch nicht ausgenommen gewesen.

Allerdings bestimmt § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II (idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 – BGBI I S 1970/2008), dass von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind ua Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Abs 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Allein von dem weiten Wortlaut der Bestimmung her würde der Kläger von diesem Leistungsausschluss erfasst. Indes wird in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23. April 2007 (BT-Drs 16/5065 S 234 zu Abs 9 [SGB II] zu Nr 2 [§ 7]) darauf hingewiesen, dass mit dem neu eingefügten Ausschlusstatbestand von der Option des Leistungsausschlusses in Art 24 Abs 2 der Richtlinie (RL) 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 Gebrauch gemacht werde und dass der Leistungsausschluss vor allem Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machten, betreffe. Mit dem § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II ändernden Gesetz vom 19. August 2007 ist das in Art 6 der RL 2004/38/EG enthaltene Recht der Unionsbürger und, ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von drei Monaten voraussetzungslos aufzuhalten, umgesetzt worden (§ 2 Abs 5 FreizügG/EU nF). In der Gesetzesbegründung ist weiter ausgeführt, dass nach Ablauf der ersten drei Monate des Aufenthalts das weitere Aufenthaltsrecht vom Aufenthaltszweck abhängig ist. Soweit eine Person danach ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche herleite, bleibe sie von Leistungen des SGB II nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen hatte der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze vom 24. März 2006 (BGBl I S 558) von der Leistungsberechtigung ausgenommen. Um durch die Neuregelung im FreizügG/EU keine Regelungslücke entstehen zu lassen, hat der Gesetzgeber zum 28. August 2007 – ausweislich der og Begründung zum Gesetzentwurf – den Leistungsausschluss für die ersten drei Monate normiert. Da das Aufenthaltsrecht in diesem Zeitraum voraussetzungslos ist, hätte eine Ausnahme von der Leistungsberechtigung nicht mit dem Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitsuche begründet werden können.

Vor diesem Hintergrund ist der weite Wortlaut des Ausschlussgrundes jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung des Zuzugs eines ausländischen Ehegatten zu seiner deutschen Ehepartnerin einschränkend auszulegen. Denn nach der Begründung des Gesetzentwurfes besteht schon kein, Anhaltspunkt dafür, dass mit der Neufassung des § 7 Abs 1 Satz 2 BGB II dieser Personenkreis für die ersten drei Monate seines Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen werden sollte (so auch  Thie/Schoch in LPK-SGB II 4. Aufl 2011 § 7 Rn 24,  Hackethal jurisPK – SGB II § 7 Rn 34). Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und Satz 3 SGB II – hier nicht einschlägige – Ausnahmen von dem Ausschluss der Leistungsberechtigung normiert hat. Denn es kann angesichts der Lebensvielfalt schon nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber des SGB II alle Lebenssachverhalte im Blick hat, und ein Leistungsausschluss wäre mit Art 6 Abs 1 und Art 1 Abs 1 iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 GG nicht vereinbar  (so  auch SG Berlin Urteil vom 18. April 2011 – S 201 AS 45186/09 -), so dass eine einschränkende Auslegung auch verfassungsrechtlich geboten ist.

Art 6 Abs 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung; dieses Grundrecht steht als Menschenrecht auch Ausländern zu (BVerfGE 31, 58/67). Besteht die Ehe aus deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, entfaltet Art 6 Abs 1 GG eine besondere Wirkung. Vor dem Hintergrund des uneingeschränkten Aufenthaltsrechts des deutschen Ehepartners gebietet Art 6 Abs 1 GG grundsätzlich den Entschluss zu respektieren, die Ehe in der Bundesrepublik zu führen. Deshalb besteht für den nachziehenden Ausländer grundsätzlich ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (BVerfGE 51, 386/398;  Robbers  in:  v Mangöldt/Klein/Starck  GG Komm 6. Aufl 2010 Art 6 Rn 125;  Gröschner in:  Dreier GG 2. Aufl 2004 Art 6 Rn 93f; Allg W 28.1.1.0 zu § 28 AufenthG, abgedr in Renner Ausländerrecht 9. Aufl 2011 zu § 28).

Des Weiteren begründet Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Entschließt sich ein deutscher Staatsangehöriger, die Ehe mit seinem ausländischen Ehegatten in der Bundesrepublik zu führen, darf vor dem Hintergrund des uneingeschränkten Rechts des deutschen Staatsangehörigen, den Ort seines Aufenthalts zu wählen, und der besonderen Bedeutung des Art 6 Abs 1 GG das menschenwürdige Existenzminimum nicht – auch nicht für einen vorübergehenden Zeitraum – vorenthalten werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sichert das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind (BVerfGE 125, 175). Somit geht es hier nicht um die Frage, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Zusammenführung eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehepartner durch eine Sozialleistung zu fördern (so LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 27. April 2011 -, L 3 AS 1411/11 ER-B – im Anschluss an SG Stuttgart Beschluss vom 24. März 2011 – S 24 AS 1359/11 ER -). Der Entschluss, die Ehe in der Bundesrepublik zu führen, liegt – wie ausgeführt – grundsätzlich im Willensbereich der Ehepartner. Wählen sie die Bundesrepublik, ist dieser Entschluss zu respektieren und darf nicht zu einer Beeinträchtigung des Grundrechts auf. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums führen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.