Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 14/2012

1.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.03.2012, – L 13 AS 22/12 B ER –

Zur Frage, wer für die Kosten der Entrümpelung, Grundreinigung und Renovierung der Wohnung eines “Messie” zuständig ist

1. Der Bedarf eines Hilfesuchenden, der aus einem Fehlgebrauch der Wohnung herrührt (Messie), gehört nicht zum Bedarf für Unterkunft und Heizung iSd § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

2. Ebenso ist eine notwendige Grundreinigung und Renovierung einer Messie – Wohnung eher nicht auf der Grundlage von §§ 24 Abs. 1 Satz 1, 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II zu regeln.

3. Als Anspruchsgrundlage für das Aufräumen einer Messie-Wohnung kommt § 67 SGB XII i.V.m. § 4 der Verordnung zu § 69 SGB XII in Betracht, wobei die Entscheidung über Art und Maß der Hilfeleistung im pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers steht.

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Anmerkung von Willi 2: SG Aurich, Urteil vom 08.03.2012, – S 35 AS 201/11 R –

Kosten für Sperrmüll gehören zu den Kosten der Unterkunft, wenn sie angemessen sind und müssen vom Jobcenter übernommen werden.
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1.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.02.2012, – L 7 AS 783/11 – Revision zugelassen

Der Leistungsausschluss bei Studenten gemäß § 7 Abs. 5 SGB II endet mit dem Zeitpunkt des letzten Prüfungsteils (§ 15b Abs. 3 Satz 2 BAföG), auch wenn die Ausbildungsförderung nach interner Weisung für den gesamten (letzten) Ausbildungsmonat gezahlt wird.

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1.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 08.07.2011, – L 9 AS 524/07 –

Ein Miterbe kann trotz seines Miteigentumsanteils an einem Hausgrundstück und an Grundstücksflächen hilfebedürftig i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 und 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II sein.

Zwar kann gem. § 2033 Abs. 1 BGB jeder Miterbe über seinen Anteil an dem Nachlass verfügen; dies gilt jedoch nicht für einzelne Nachlassgegenstände und auch nicht für seinen Anteil an einzelnen Nachlassgegenständen, § 2033 Abs. 2 BGB.

Eine Teilauseinandersetzung gegen den Willen des Miterbens kann nicht durchgesetzt werden, § 2040 Abs. 1 BGB.

Die Grundstücksgröße ist bei der Frage, ob das Hausgrundstück Schonvermögen i.S.d. § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II ist, nicht zu berücksichtigen; vielmehr gibt die Grundstücksgröße Anlass zu prüfen, ob eine gesonderte Verwertung des die Angemessenheit übersteigenden Grundstücksteils als selbstständige Immobilie in Betracht kommt.

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Anmerkung von Willi 2: Bayer. Landessozialgericht Urteil vom 2. Februar 2012 – L 11 AS 675/10 –

Grundsicherung nach dem SGB II – Bedürftigkeit trotz Immobiliarvermögen
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1.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.03.2012, – L 7 AS 2289/11 B ER –

Ist im Rahmen einer Folgenabwägung die Gewährung von Leistungen vertretbar gewesen, ist der Meinungsstreit, ob die in § 59 SGB II in Verbindung mit § 309 Abs. 1 SGB III getroffene Regelung als Spezialvorschrift einen Rückgriff auf die §§ 62, 66 SGB I zulassen, nicht entscheidungserheblich.

Der Senat weist jedoch darauf hin, dass er für die Folgezeit – eine Hilfebedürftigkeit des Antragsstellers unterstellt – dazu tendiert, die Vorschriften des § 59 SGB II in Verbindung mit § 309 Abs. 1 SGB III als Spezialvorschrift anzusehen, die die Vorschrift des § 66 SGB I verdrängt (vgl. Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Auflage 2008, § 59 Rn. 25 m.w.N.).

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Anmerkung von Willi 2: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22.06.2011, – L 7 AS 700/10 B ER –

Verweigert ein SGB II-Empfänger es, sich ärztlich oder psychologisch untersuchen zu lassen, kann eine Sanktion nach § 31 Abs. 2 SGB II ergehen.

Der Gesetzgeber hat in § 59 SGB II i.V.m. § 309 Abs. 1 S 1 SGB III eine spezielle Regelung getroffen, die die Anwendung des SGB I ausschließt.
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1.5 -  Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.01.2012, – L 7 AS 1071/11 –

Der Gesetzgeber hat auch nicht versehentlich eine “Verlängerung” bis zum Beginn der Altersrente unterlassen.

Die bisherige Regelung ist nach dem Wortlaut eindeutig (so auch LSG NRW, Beschluss vom 21.06.2010 – L 6 AS 645/10 B Rn. 8 juris).

Dies ergibt sich auch indirekt aus § 7a SGB II n.F., wonach sich ein Anspruch auf Grundsicherung bis zum Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, erst ab April 2011 herleiten lässt.

Eine rückwirkende Geltung für “Altfälle” hat der Gesetzgeber nicht angeordnet – obwohl die “Lücke” zwischen den beiden Leistungssystemen bekannt war.

Zudem wird auch nach § 7a SGB II keine Nahtlosigkeit, d.h. Zahlung der Grundsicherung bis zum Eingang der ersten Zahlung der Rente auf dem Konto durch den Gesetzgeber angeordnet wurde, erreicht. Denn die erste Zahlung der Altersrente erfolgt zum Ende des Folgemonats (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGB VI), so dass zuvor entweder das Schonvermögen eingesetzt oder aber auf Antrag ein Darlehen des Sozialhilfeträger gewährt wird (BT-Drs. 17/3404 zu § 7a n.F; Wolff-Dellen in Löns, Kommentar zum SGB II, 3. Auflage 2011, § 7a Rn. 3).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von § 7 Abs. 4 SGB II.

Danach ist derjenige von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen, () der Rente wegen Alters bezieht. Diese Vorschrift muss im Kontext und unter Beachtung des § 7 Abs. 1 und § 7a SGB II angewendet werden. Das Erreichen der Altersgrenze nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II hat den Ausschluss aus dem Kreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zur Folge und zwar unabhängig davon, ob ein Anspruch auf Rente besteht. Demgegenüber führt der tatsächliche Bezug einer Altersrente zum Ausschluss der Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige und nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte gleichermaßen.

Erfasst werden daher von § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II diejenigen, die als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft leistungsberechtigt sind, wenn anstatt einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine Altersrente bezogen wird (Thie/Schoch LPK-SGB II, 4. Auflage 2011, § 7 Rn. 100)

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1.6 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.01.2012, – L 19 AS 383/11 -, Revision anhängig beim BSG unter dem AZ.: – B 4 AS 37/12 R –

Kein Leistungsausschluss für Ausländer, die als Familienangehörige eines Deutschen oder eines Arbeitnehmers, eines Selbstständigen oder eines auf Grund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) Freizügigkeitsberechtigten diesem nachziehen.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.d.F. ab dem 28.08.2007 (Art. 6 Abs. 9 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. I, 1970) sind Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörige für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts von den Leistungen ausgenommen.

Von diesem Leistungssauschluss werden Ausländer, die als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder eines Arbeitnehmers, eines Selbstständigen oder eines auf Grund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) Freizügigkeitsberechtigten diesem in die Bundesrepublik nachziehen, nicht erfasst.

Der Senat schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts an, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nach ihrem Wortlaut, ihrem Zusammenhang, ihrem Zweck sowie den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte nicht den Nachzug eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehegatten erfasst.

Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unterscheidet schon nach ihrem Wortlaut zwischen Ausländern, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik haben, und Ausländern, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein aufgrund ihres Familienstatus haben, also ihr Aufenthaltsrecht von einer anderen Person ableiten (vgl. Thie/Schoch in LPK-SGB II, § 7 4 Aufl., Rn 25; so auch im Ergebnis SG Berlin, Urteil vom 18.04.2011 – S 201 AS 45186/09). Die gegenteilige Auffassung, dass durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II grundsätzlich alle Ausländer – ausgenommen der Personenkreis des § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II sowie Arbeitnehmer, Selbstständige, Freizügigkeitsberechtigte nach § 2 Abs… 3 FreizügG/EU – während der ersten drei Monate nach ihrer Einreise vom Leistungsbezug ausgeschlossen sind, unabhängig von der Herleitung ihres Aufenthaltsrechts (so anscheinend LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.04.2011 – L 3 AS 1411/11 ER-B -, SG Stuttgart, Beschluss vom 24.03.2011 – S 24 As 1359/11 ER – ohne nähere Begründung) ergibt sich demgegenüber nicht aus dem Wortlaut der Norm. Wenn der Gesetzgeber den generellen Ausschluss von Ausländern während der ersten drei Monate nach ihrer Einreise beabsichtigte hätte, wäre eine Differenzierung zwischen Ausländern und deren Familienangehörigen nicht erforderlich gewesen (siehe auch BT-Drs. 16/688 S. 13).

Zudem sprechen unter Berücksichtigung der gleichzeitigen Neureglung des Nachzugsrechts von ausländischen Familienangehörigen zu ihrem deutschen Familienangehörigen im Ausländerecht (§ 28 AufenthG) – wobei es für die Berechtigung des Nachzugs in der Regel nicht auf einen ausreichenden Wohnraum und der Unterhaltssicherung ankommt (vgl. Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 28 Rn 6) – sowohl systematische als auch teleologische Gründe gegen den Ausschluss eines ausländischen Ehegatten während der ersten drei Monate nach seiner Einreise zwecks Zuzugs zu einem deutschen Ehegatten aus dem Leistungssystem nach dem SGB II. Ein solcher Leistungsausschluss würde, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, die wirtschaftliche Lebensgrundlage des deutschen Ehepartners, der seinen Ehepartner trotz fehlender Unterhaltsfähigkeit während der ersten drei Monate nach seiner Einreise unterhalten müsste, gefährden. Dabei ist die Wertentscheidung des Grundgesetzes in Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, wonach es grundsätzlich allein den Ehepartnern zusteht, selbstverantwortlich und frei von staatlicher Einflussnahme den räumlichen und sozialen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens zu bestimmen. Die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam in der Bundesrepublik zu leben, verdient demnach besonderen staatlichen Schutz, falls einer der Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (BVerfG Beschluss vom 18.07.1979 – 1 BvR 650/77 – = juris Rn 33).

Dieser besondere staatliche Schutz rechtfertigt nicht nur, die Zulässigkeit des Zuzugs eines ausländischen Familienangehörigen zu einem deutschen Familienangehörigen ausländerrechtlich in der Regel nicht von einem Nachweis der Unterhaltssicherung i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abhängig zu machen, sondern auch, dass ausländische Familienangehörige eines Deutschen unmittelbar nach ihrer Einreise in das Leistungssystem des SGB II einbezogen werden. Der Gesetzesbegründung, wonach EU-Bürger, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik einreisen, nicht von der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II erfasst sind (BT-Drs. 16/688 S. 13), ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber augenscheinlich davon ausgegangen ist, der Fall des Nachzugs eines ausländischen Ehegatten zu seinem deutschen Ehegatten in die Bundesrepublik werde vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht erfasst.

Denn eine Differenzierung zwischen ausländischen Ehegatten, die Unionsbürger sind, und denen, die Drittstaatenangehörige sind, hat im Gesetz keinen Niederschlag gefunden, insbesondere nicht im Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II.

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1.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2012, – L 12 AS 104/12 B ER –

Die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (Leistungsausschluss, wenn sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt), zu Lasten der litauischen Antragstellerin eingreift, ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu klären.

Es bestehen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss in dieser Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (vgl. hierzu ausführlich LSG NRW, Beschluss vom 17.05.2011 – L 6 AS 356/11 B ER m.w.N.).

Die danach für die begehrte Regelung im Eilverfahren allein entscheidende Folgenabwägung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05) fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Ohne die beantragten Leistungen drohen ihr existenzielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann. Demgegenüber hat der Antragsgegner “nur” finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollte.

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Anmerkung von Willi 2: Hartz IV für Einwanderer aus der EU – Gleichbehandlung ist Pflicht

Deutschland will eine EU-Regelung aushebeln und eingewanderten EU-Bürgern kein Hartz IV zahlen. Das ist eindeutig illegal, sagt die Sozialrechtlerin Dorothee Frings.
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1.8 – Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01.11.2011, – L 3 AS 371/10 B PKH –

Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass die zuständige Behörde befugt sein soll, einem Antragsteller vorzuschreiben, von welcher bestimmten fachkundigen Stelle er eine Stellungnahme für die Bewilligung von Einstiegsgeld vorzulegen hat.

Die Auswahl der fachkundigen Stelle, deren Leistung in Anspruch genommen werden soll, obliegt vielmehr dem Antragsteller.

Gemäß § 16b Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) kann zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die arbeitslos sind, bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen oder selbstständige Erwerbstätigkeit ein Einstiegsgeld erbracht werden, wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist. Die Leistungen zur Eingliederung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die eine selbstständige, hauptberufliche Tätigkeit aufnehmen oder ausüben, kann gemäß § 16c Abs. 1 Satz 1 SGB II nur gewährt werden, wenn zu erwarten ist, dass die selbstständige Tätigkeit wirtschaftlich tragfähig ist und die Hilfebedürftigkeit durch die selbstständige Tätigkeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums dauerhaft überwunden oder verringert wird. Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der selbstständigen Tätigkeit soll die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle verlangt werden (vgl. § 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Die Stellen, die zur Beurteilung der Tragfähigkeit einer selbstständigen Tätigkeit als fachkundig angesehen werden, hat der Gesetzgeber in § 57 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) mit dem Gründungszuschuss beispielhaft aufgeführt. Dies sind insbesondere die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und Kreditinstitute. Auf diese Auflistung kann auch im Zusammenhang mit § 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II zurückgegriffen werden (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 13. Oktober 2009 – L 3 AS 318/09 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 28, m. w. N.; zu den Anforderungen an weitere in Betracht kommende Einrichtungen: Sauer, in: Sauer [Hrsg.], SGB II [2011], § 16c Rdnr. 16; Breitkreuz, in: Löns/Herold-Tews, SGB II [3. Aufl., 2011], § 16c Rdnr. 5).

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Regelung des § 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II die Ermessensentscheidung des SGB II-Leistungsträgers unterstützen. Mit dem Wort “soll” hat er zum Ausdruck gebracht, dass auf die Stellungnahme verzichtet werden kann, wenn die zur Entscheidung über das Einstiegsgeld berufene Behörde über eigene Kompetenzen zur Bewertung von Unternehmen verfügt (vgl. BT-Drs. 16/10810, S. 47). Jedoch ergibt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien, dass die zuständige Behörde befugt sein soll, einem Antragsteller vorzuschreiben, von welcher bestimmten fachkundigen Stelle er eine Stellungnahme vorzulegen hat. Die Auswahl der fachkundigen Stelle, deren Leistung in Anspruch genommen werden soll, obliegt vielmehr dem Antragsteller.

Es kann allerdings Fälle geben, in denen die zuständige Behörde Zweifel am Inhalt der Stellungnahme hat. Es erscheint auch denkbar, dass ausnahmsweise auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles nur ein eingeschränkter Kreis an fachkundigen Stellen in der Lage ist, eine qualifizierte Stellungnahme abzugeben. Aber auch in einer dieser Konstellationen gibt es keine Rechtsgrundlage, die es der SGB II-Behörde gestatten würde, das Auswahlermessen des Antragstellers auszuschließen und ihm eine bestimmte fachkundige Stelle bindend vorzugeben (so aber wohl Breitkreuz, a. a. O.). Sie kann ihm lediglich einige in Betracht kommende fachkundige Stellen zur Auswahl anbieten.

Vorliegend rechtfertigt der Hinweis der ARGE Dresden, dass wegen des laufenden Insolvenzverfahrens der Antrag auf Existenzgründungszuschuss einer besonders sorgfältigen Prüfung bedürfe, jedenfalls nicht die Beschränkung auf die Industrie- und Handelskammer.

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2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

2.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 24.02.2012, – L 8 SO 9/12 B ER –

Keine Berufung per E-Mail und PDF

-Mail, SMS, mobile Messenger oder Facebook treten immer mehr an die Stelle des klassischen Briefverkehrs. Ein zeitgemäßer Zugang zu den Gerichten und damit grundgesetzlich garantierten Rechtsschutz zählt zu den Anforderungen an eine moderne Justiz. Gleichzeitig müssen die Gerichte für Rechtssicherheit sorgen und gleichzeitig verhindern, dass Informationen aus Rechtsstreitigkeiten in die falschen Hände gelangen. Zu welchem Ergebnis kommt also derzeit die Abwägung zwischen Datenschutz sowie Rechtssicherheit einerseits und E-Mail-Verkehr andererseits?

Hierzu hat das Bayerische Landessozialgericht durch eine neuere Entscheidung Klarheit geschaffen.

Ausgangspunkt

Das Sozialgericht hatte einen per E-Mail eingegangen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als formunwirksam abgewiesen. Dagegen wandte sich die Antragstellerin – wieder per E-Mail. Als Attachment der Mail fügte die Antragstellerin die unterschriebene Beschwerdeschrift als PDF-Datei bei.

Die Entscheidung
Das Bayerische Landessozialgericht hat die Beschwerdeschrift als formunwirksam verworfen. Die E-Mail genüge der gesetzlichen Schriftform nicht. Das gleiche gelte für die – vom Gericht ausgedruckte und damit in Schriftform vorliegende – PDF-Datei. Denn der Ausdruck hänge von einem Zutun des Empfängers ab, von dessen Zutun die Einhaltung von Formvorschriften aber nicht abhängen dürfe. Schließlich sei wegen der spezifischen verwendeten E-Mail-Adresse der Antragstellerin nicht sicher, dass die Beschwerdeschrift auch wirklich von dieser stamme.

Auswirkungen der Entscheidung
Das Bayerische Landessozialgericht hat betont, dass im Interesse der Rechtssicherheit die Einhaltung von Formvorschriften nicht von dem Verhalten des Gerichts abhängen dürfe (hier: Ausdruck der PDF-Datei). Das Gericht folgt damit nicht früheren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des LSG Sachsen-Anhalt (vgl. BGH, Beschluss vom 15.7.2008, X ZB 8/08 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.1.2011, L 5 AS 433/10 B).

Mit diesem Urteil ist klargestellt, dass derzeit Klage und Berufung rechtssicher nicht per E-Mail eingelegt werden können. Für Rechtsmittel in der Sozialgerichtsbarkeit ist heute nur am Bundessozialgericht ein „elektronischer Briefkasten“ eingerichtet, für den die spezielle Übertragungssoftware „EGVP“ erforderlich ist.

Das wird nicht immer so bleiben: Die Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs auch an den Bayerischen Sozialgerichten hat mittlerweile die Test-Phase erreicht. Bis diese aber abgeschlossen und der Elektronische Rechtsverkehr vollständig eingerichtet ist, bleibt der rechtssichere Zugang zu den Sozial- und Landessozialgerichten Brief und Fax vorbehalten.

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3.   Entscheidung zur Arbeitsförderung nach dem SGB III

3.1 – Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 27.02.2012, Az.: S 31 AL 262/08

Wichtiger Grund für Arbeitsaufgabe: Keine Sperre des Arbeitslosengeldes

Schließt eine schwangere Frau mit ihrem Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag, um zum Kindsvater in eine andere Stadt zu ziehen, kann die Verhängung einer Sperrzeit bis zur Gewährung von Arbeitslosengeld am Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Arbeitsaufgabe scheitern.

Dies hat das Sozialgericht Dortmund im Falle einer Reinigungskraft aus Berlin entschieden, die im fünften Schwangerschaftsmonat die Beschäftigung aufgab, um zu dem in Bochum lebenden Partner zu ziehen. Die Agentur für Arbeit Bochum ordnete ein zwölfwöchiges Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld während einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe an. Die Versicherte habe das Beschäftigungsverhältnis gelöst und damit die Arbeitslosigkeit vorsätzlich herbeigeführt, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben.

Auf die Klage der Versicherten hat das Sozialgericht Dortmund die Entscheidung der Arbeitsagentur aufgehoben. Zwar habe die Klägerin vorsätzlich die Arbeitslosigkeit herbeigeführt, hierfür jedoch einen wichtigen Grund gehabt. Der Klägerin sei die Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses in Berlin nicht mehr zumutbar gewesen.

Auf Grund von gesundheitlichen Problemen während der Schwangerschaft mit Arbeitsunfähigkeitszeiten und der Gefahr einer Fehlgeburt habe die Klägerin auch im Interesse des ungeborenen Kindes die Unterstützung des Kindsvaters in Bochum gebraucht. Dies sei nur dadurch zu ermöglichen gewesen, dass die Klägerin ihre Arbeit in Berlin aufgegeben habe und nach Bochum gezogen sei.

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Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de