Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 19/2012

1.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.03.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 22.03.2012, – B 4 AS 102/11 R –

Leistungsausschluss für Studenten während Urlaubssemester nur bei organisatorischer Zugehörigkeit zur Hochschule und Betreiben des Studiums

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1.2 – BSG, Urteil vom 22.11.2011, -B 4 AS 138/10 R –

Bei den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe(DV) handelt es sich nicht um ein antizipiertes Sachverständigengutachten.

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2.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 21.03.2012,- L 16 AS 616/10 –

Die Sozialwidrigkeit des Verhaltens desjenigen, der ersatzpflichtig sein soll, ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal für den Ersatzanspruch. Das im Sozialhilferecht entwickelte Erfordernis der Sozialwidrigkeit gilt auch für den Ersatzanspruch gemäß § 34 SGB II.

Wie im Sozialhilferecht setzt der Ersatzanspruch gemäß § 34 SGB II voraus, dass das fragliche Verhalten des Ersatzpflichtigen objektiv sozialwidrig sein muss. Allein die Ursächlichkeit eines (schuldhaften) Verhaltens reicht nicht aus, um einen Ersatzanspruch zu begründen.

Sozialwidrig ist ein Verhalten, wenn das Tun oder Unterlassen desjenigen, der zum Ersatz verpflichtet werden soll, objektiv zu missbilligen ist, wobei stets die jeweiligen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden müssen. Erst wenn geklärt ist, dass das fragliche Verhalten als sozialwidrig zu bewerten ist, sind die Verschuldensfrage und sodann die Frage des wichtigen Grundes zu prüfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.1976, V C 41.74, juris Rn. 14; Urteil vom 14.01.1982, 5 C 70/80, juris Rn. 9, 11; vgl. außerdem LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.07.2007, L 5 B 410/07 AS).

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2.2 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 02.02.2012,- L 11 AS 284/11 –

Die im Zusammenhang mit dem Betreiben eines strafrechtlichen Rehabilitationsverfahrens entstehenden Kosten sind kein unabweisbarer Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II.

Unabweisbarkeit in diesem Sinne liegt nur dann vor, wenn es sich um einen unaufschiebbaren Bedarf handelt, dessen Deckung erforderlich ist, um im konkreten Einzelfall das menschenwürdige, sozio- kulturelle Existenzminimum sicherzustellen (Münder in LPK- SGB II, 4. Aufl. § 21 Rn. 38).

Dieser entsteht jedoch erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen – das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – Juris Rn. 208 = BGBl I 2010, 193ff).

Zudem muss es sich um einen dauerhaften Bedarf handeln, dessen Deckung allein durch die Gewährung von Darlehen unzweckmäßig erscheinen muss (vgl. BVerfG aaO Rn.207).

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2.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 20.03.2012,- L 7 AS 91/12 B ER –

Keine Hartz IV-Leistungen als Zuschuss, denn der alleinstehende Antragsteller ist Eigentümer eines Hauses von 130 qm Wohnfläche, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 15.04.2008, B 14 AS 34/06 R und 02.07.2009, B 14 AS 33/08 R) ist für eine oder zwei Personen lediglich eine Wohnfläche von 90 qm angemessen.

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2.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.03.2012,- L 19 AS 708/10 –

Bei dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch handelt es sich um ein gewohnheitsrechtlich anerkanntes und aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts abgeleitetes eigenständiges Rechtsinstitut.

Dieser Anspruch gleicht eine mit der Rechtslage nicht übereinstimmende Vermögenslage aus und verschafft dem Anspruchsinhaber ein Recht auf Herausgabe des Erlangten, wenn eine Leistung ohne Rechtsgrund oder ohne eine sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebung erfolgt ist. Seine Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen entsprechen, soweit sie nicht spezialgesetzlich geregelt sind, denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs. Im Anwendungsbereich des SGB II kommt ein solcher Anspruch in Betracht, wenn von einem Hilfebedürftigen nach der Zuweisung in eine Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung Arbeiten geleistet worden sind, die sich als rechtsgrundlos erweisen (vgl. BSG Urteil vom 27.08.2011 – B 4 AS 1/10 R = juris Rn 24 m.w.N.).

Jedoch ist der für einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch erforderliche Vermögensvorteil beim Beklagten nicht eingetreten.

Eine solche Vermögensvermehrung liegt vor, wenn eine Arbeitsgelegenheit nicht den Anforderungen des § 16 Abs. 2 Satz 3 SGB II a. F. entspricht (vgl. BSG Urteile vom 27.08.2011 – B 4 AS 1/10 R = juris Rn 27f und vom 13.04.2011 – B 14 AS 98/01 R = juris Rn 17f). Die von der Klägerin verrichtete Tätigkeit im Rahmen der Arbeitsgelegenheit hat den Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II a. F. entsprochen.

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2.5 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen , Beschluss vom 04.04.2012,- L 15 AS 77/12 B ER –

Die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs ist nach § 86 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG grundsätzlich ganz anzuordnen, wenn sich einzelne Regelungen eines Eingliederungsverwaltungsakts nach § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II als rechtswidrig erwiesen.

Eine Eingliederungsvereinbarung bzw. ein sie ersetzender Verwaltungsakt stellt sich als das Instrument einer auf den Einzelfall angepassten Eingliederungsstrategie mit einer Vielzahl aufeinander abgestimmter Maßnahmen dar, so dass die für die Teilbarkeit eines derartigen Verwaltungsakts erforderliche Annahme, dass dieser von der Behörde auch ohne die als rechtswidrig erkannten Regelungen erlassen worden wäre, grundsätzlich nicht gerechtfertigt ist.

www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Anmerkung: Siehe dazu auch hier: Sozietät Beier – Beier … über Entscheidungen zu rechtswidrigen Eingliederungsverwaltungsakten
www.tacheles-sozialhilfe.de

2.6 – Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern , Beschluss vom 07.03.2012, – L 8 B 489/10 ER –

Die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist für österreichische Staatsbürger, die sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche berechtigt in der Bundesrepublik aufhalten, nicht anwendbar.

Österreichische Staatsbürger können sich auf das Gleichbehandlungsgebot des bilateralen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege vom 17. Januar 1966 (FürsAbk AUT) berufen.

Arbeitslosengeld II ist Fürsorge im Sinne des FürsAbk AUT.

Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2 Abs. 1 FürsAbk AUT findet nicht alleine auf Hilfebedürftige Anwendung, die sich bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit im Aufenthaltsstaat aufgehalten haben.

www.landesrecht-mv.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – SG Berlin, Beschluss v. 25.04.2012,- S 78 AS 8137/12 ER –

Leistungsausschluss von arbeitsuchenden EU-Bürgern(Grieche) ist (weiter) rechtswidrig.

An den Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 2 SGB II bestehen im Fall eines erwerbsfähigen griechischen Staatsangehörigen erhebliche Bedenken sowohl im Hinblick auf Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zu Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als auch im Hinblick auf das von der BR Deutschland und Griechenland ratifizierte Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11. Dezember 1953.

Der von der BR Deutschland in Bezug auf das EFA am 15. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt ist wahrscheinlich unwirksam, da diese Äußerung mit dem Sinn und Zweck dieser Vereinbarung unwirksam ist.

Bisher nicht veröffentlicht

3.2 – SG Berlin, Beschluss v. 29.03.2012, – S 159 AS 5473/12ER –

Für die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 4 SGB II ist einzig auf § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I abzustellen.

Von maßgebender Bedeutung sind hier die tatsächlich feststellbaren Verhältnisse und nicht der ausländerrechtliche Status eines bedürftigen Menschen.

Bei Zuwander/innen mit unbefristeter Aufenthalts- bzw. Niederlassungserlaubnis ist eine von der Ordnungsbehörde ebenfalls verfügte Wohnsitzauflage für einen Bezug von Leistungen gemäß dem SGB II ohne jede Bedeutung, da dieser Fall nicht von der in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II fixierten Ausschlussnorm erfasst wird.

Bisher nicht veröffentlicht

3.3 – SG Berlin, Beschluss v. 05.04.2012,- S 37 AS 8238/12 ER –

Ein pauschaler Verweis auf Kleiderkammern ist mit der in Art. 1 GG wurzelnden Verpflichtung zur Gewährleistung des Existenzminimums nicht zu vereinbaren.

Denn auch die Bedarfe nach § 24 Abs. 3 SGB II sind Bestandteil der Existenz-sicherung bzw. des Existenzminimums und als Pflichtleistung ausgestaltet.

Die im SGB II bestehende Möglichkeit, Leistungen auch als Sachleistungen erbringen zu können, setzt eine dahingehende Entscheidung des Leistungsträgers voraus, die im Fall der Wahl einer Sachleistungserbringung nur dann zur Bedarfsdeckung führt, wenn der Träger zeitnah und in zumutbarer Weise einen Anspruch auf die beantragten Leistungen vermittelt.

Bisher nicht veröffentlicht

3.4 – SG Berlin, Beschluss v. 10.04.2012,- S 37 AS 8126/12 ER –

Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 (im Anschluss an SG Dresden vom 5.8.2011 – S 36 AS 3461/11 ER m. w. Nachw.).

Nach überwiegender Auffassung der LSG-Senate (LSG Berlin-Brandenburg vom 17.5.2011 – L 28 AS 566/11 ER-B; vom 30.9.2011 – L 14 AS 1148/11 B ER; LSG NRW vom 17.5.2011 – L 6 AS 356/11 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen vom 11.8.2011 – L 15 AS 188/11 B ER; LSG Schleswig-Holstein vom 14.9.2011 – L 3 AS 155/11 B ER; LSG Baden-Württemberg vom 24.10.2011 – L 12 AS 3938/11 ER-B; LSG Sachsen-Anhalt vom 14.11.2011 – L 5 AS 406/11 B ER) ist wegen der schwierigen Rechtlage im Eilverfahren im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Bisher nicht veröffentlicht

3.5 – SG Leipzig, Beschluss vom 28.03.2012, – S 20 AS 852/12 ER –

EU Ausländer erhalten zunächst weiter Arbeitslosengeld II – Leistungsausschluss durch Jobcenter ist rechtswidrig

Griechischer Staatsbürger mit Freizügigkeitsbescheinigung(BSG, Urteil v.19.10.2010.-B 14 AS 23/10 R)hat Anspruch auf ALG II.

Bisher nicht veröffentlicht

Anmerkung: Siehe dazu auch hier: Leistungsausschluss durch Jobcenter ist rechtswidrig
www.tacheles-sozialhilfe.de

3.6 – SG Dresden, Beschluss v. 02.02.2012,- S 17 AS 3/12 ER –

In Ermangelung eines schlüssigen Konzepts zur Bestimmung der Angemessenheit von Unterkunftskosten im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist die Wohngeldtabelle nach § 12 WoGG, zuzüglich eines maßvollen Zuschlags in einer Höhe von bis zu zehn v. H., zugrunde zu legen.

Lebt eine erwerbsfähige Leistungsberechtigte zusammen mit ihrem 20jährigen, studierenden, Leistungen nach dem BAföG, dem BKGG sowie von seinem Vater Unterhalt beziehenden Sohn in einer Haushaltsgemeinschaft, so ist dessen Einkommen nicht entsprechend § 9 Abs. 5 SGB II bei seiner Mutter bedarfsmindernd anzurechnen, wenn dieser Student ohne das Kindergeld seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht vollständig decken kann.

www.maennernetzwerk-dresden.de (pdf)

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Oldenburg, Beschluss vom 16.02.2012,- S 22 SO 18/12 ER –

Wenn nicht feststeht, ob eine von Leistungen gemäß den §§ 41 ff. SGB XII lebende Person über einen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz verfügt, sondern hier noch beim Sozialgericht ein schwieriges Hauptsacheverfahren anhängig ist, der Antragsteller aber dringend behandelt und umfangreich medizinisch versorgt zu werden hat, muss eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Erbringung von Leistungen der Krankenhilfe gemäß § 48 Satz 1 SGB XII erfolgen.

Bisher nicht veröffentlicht

4.2 – SG Dresden, Urteil vom 06.05.2011,- S 19 SO 45/08 –

Zu Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 ziff. 1 SGB XII gehört auch die Finanzierung eines Integrationshelfers.

Der Sozialhilfeträger ist hier an die Entscheidung der Schulverwaltung gebunden und kann nicht nach eigenem Ermessen behinderte Schüler auf den Besuch einer Förderschule verweisen.

Nur die Schulbehörde entscheidet, in welchem Umfang eine bestimmte Beschulung den geistigen und körperlichen Fähigkeiten eines behinderten Menschen entspricht.

Die erforderlichen Kosten für einen qualifizierten Integrationshelfer sind vom Sozialamt zu übernehmen, soweit die Umsetzung der schulischen Angebote einschließlich der Förderangebote der Schule betroffen ist.

Die Unterstützung und Anleitung des Klassenlehrers bei der Erstellung, Durchführung und Anpassung des Förderplans sowie der Klärung der behinderungsbedingten Bedürfnisse ist Aufgabe der Schule und von dieser zu finanzieren.

www.rls-kanzlei.de (pdf)

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de