Am 16. Juli 2012 begann in Istanbul ein Strafverfahren gegen 50 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Sämtlich der angeklagten Rechtsanwältinnen und -anwälte sind bzw. waren in den Jahren 2010 und 2011 Verteidiger von Abdulla Öcalan und haben ihn im Gefängnis auf der Insel Imrali besucht. Sie werden beschuldigt, Mitglied in einer illegalen, terroristischen Organisation, der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) (1) zu sein und geheime Informationen aus den Anwaltsgesprächen mit Öcalan weitergegeben zu haben. Das Verfahren basiert auf koordinierten Razzien der Anwaltsbüros in der gesamten Türkei und einer Massenfestnahme von Anwältinnen und Anwälten am 22. November 2011. 47 Kolleginnen und Kollegen befinden sich seitdem in Untersuchungshaft.
„Dieses Verfahren ist einmalig in der türkischen Geschichte. Selbst in Zeiten schwerster Repression gegen politische Oppositionelle nach Militärputschen und in den 1990er Jahren hat es keine vergleichbare Einschüchterung von Anwältinnen und Anwälten gegeben“, so Rechtsanwältin von der Behrens, die das Verfahren für den RAV in Istanbul beobachtet.
Schon zu Prozessauftakt zeigte sich die türkische Justiz nicht in der Lage, den angeklagten Anwältinnen und Anwälten auch nur formal ein rechtsstaatliches Verfahren zu ermöglichen: „Der Verhandlungssaal war viel zu klein, so dass nicht alle Verteidigerinnen und Verteidiger, die sich für die angeklagten Kolleginnen und Kollegen gemeldet hatten, im Sitzungsaal Platz fanden; einige mussten im Zuschauerraum Platz nehmen, anderen gelang es nicht einmal, in den Sitzungsaal zu gelangen“, berichtet Rechtsanwältin von der Behrens.
In einem opening statement legte der angeklagte Anwalt Dogan Erbas zu Beginn der Hauptverhandlung dar, dass bereits die Eröffnung des Verfahrens rechtsfehlerhaft sei, da eine nach türkischem Recht erforderliche Genehmigung von Strafverfahren gegen Rechtsanwälte nicht eingeholt wurde. Weiter führte er aus, dass das Verfahren einen rein politischen und keinen strafrechtlichen Hintergrund habe: Für Öcalan sei es faktisch unmöglich gewesen, geheime Nachrichten über seine Verteidiger_innen zu übermitteln, da sämtliche Anwaltsgespräche von Öcalan überwacht, auf Video aufgezeichnet und die Notizen der Verteidigung kopiert wurden. Durch diese Totalüberwachung der Verteidigung sei es unmöglich, Informationen ohne das Wissen der türkischen Behörden zu erhalten.
Der RAV ist in großer Sorge angesichts der zu Tage getretenen massiven Einschränkung von Verteidigungsrechten und fordert die umgehende Freilassung der inhaftierten Kolleginnen und Kollegen. Nur wenn Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf ohne Angst vor Repression ausüben können sind sie im Stande, ihre Mandantinnen und Mandanten effektiv zu verteidigen. Die Folgen der Einschüchterung von Anwältinnen und Anwälten in der Türkei werden bereits jetzt sichtbar: Immer weniger Kolleginnen und Kollegen sind bereit, angesichts drohender strafrechtlicher Verfolgung Mandanten in politischen Strafverfahren zu vertreten.
Berlin, 17.7.2012
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zu 1: KCK = Koma Civakên Kurdistan (Union der Gemeinschaften Kurdistans), gegründet 2005 und für die türkischen Sicherheitskräfte identisch mit der PKK. Seit dem Jahr 2008 gab es eine Vielzahl von Verfahren wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der KCK u.a. gegen kurdische Parlamentarier, Bürgermeister, Journalisten, Gewerkschafter und Mitglieder der Partei BDP.
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