Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 30/2012

1.   BVerfG, 1. Senat, Urt. v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11

Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen, nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig.

Leitsätze:

1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.

2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.

Bundesverfassungsgericht – Pressestelle – Pressemitteilung Nr. 56/2012 vom 18. Juli 2012

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2.  Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16.05.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG Urteil vom 16.05.2012,- B 4 AS 109/11 R –

Als angemessene Wohnungsgröße ist in NRW für einen Ein-Personen-Haushalt eine Wohnfläche von 50 qm zu berücksichtigen.

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3.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31.01.2012,- L 7 AS 323/11 NZB –

Ein ausbezahlter Verpflegungsmehraufwand stellt Einkommen dar.

Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die in § 6 Abs 3 Alg-II-VO vorgesehen Abzugspauschale für Verpflegungsmehraufwand nur dann überhaupt sinnvoll ist, wenn eine entsprechende Einnahme auch relevantes Einkommen darstellt.

Demgemäß wird auch eine vom Arbeitgeber als Sachleistung bereitgestellte Verpflegung als Einnahme gewertet, vgl § 2 Abs 5 Alg-II-VO in der jetzigen Fassung.

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Anmerkung:
LSG Sachsen, Urt. v. 19.01.2012 – L 3 AS 820/10 (BSG – B 4 AS 27/12 R (anhängig)

Spesenzahlungen bei Hartz-IV-Aufstockern gelten nicht als Einkommen
Erhalten Hartz-IV-Aufstocker von ihrem Arbeitgeber Spesen oder Verpflegungsmehraufwendungen, darf das Jobcenter diese grundsätzlich nicht als anrechenbares Einkommen werten und das Arbeitslosengeld II kürzen. Allerdings sollte der Hilfebedürftige mit Belegen nachweisen, wofür er die Spesen verwendet hat.

3.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.03.2012,- L 6 AS 1589/10 -, Revision zugelassen

Sippenhaftung im Falle einer Sanktion bei den Kosten der Unterkunft ist dem Sozialrecht fremd.

Denn waren die Kosten angemessen oder als unangemessene trotzdem zu übernehmen und bestand die dreiköpfige Bedarfsgemeinschaft fort, ist für die Anwendung des Kopfteilprinzips in dieser Zeit ausnahmsweise (zur grundsätzlichen Anwendung dieses Prinzip vgl BSG Urt v 18.02.2010 – B 14 AS 73/08 R – Rn 24; s auch Urteile v 24.02.2011 – B 14 AS 61/10 R – ; v 27.08.2008 – B 14/11b AS 55/06 R -; v 27.01.2009 – B 14/7b AS 8/07 R -; v 19.03.2008 – B 11b AS 13/06 R -) dann kein Raum, wenn dem dritten Mitglied der Bedarfsgemeinschaft auf der Grundlage eines bestandskräftigen Sanktionsbescheids der Anspruch auf KdU entzogen wurde.

Ist mit der Anrechnung des Kopfteils eine Lücke im eigenen Bedarf der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft entstanden, wird ihnen (mittelbar) ein Fehlverhalten zugerechnet, auf das sie jedenfalls bei über 18jährigen Mitgliedern ihrer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich keinen rechtlich relevanten Einfluss haben (s Boerner in Löns/Herold-Tews SGB II 3. Aufl. § 22 Rn 19, 23).

Eine Auflösung der Bedarfsgemeinschaft entspricht nicht den mit den speziellen Bestimmungen für diesen Personenkreis verfolgten wirtschaftlichen und pädagogisch wirkenden Absichten (s auch SG Aurich Beschl v 06.06.2008 – S 25 AS 298/08 ER – ; zustimmend LSG Nds-Bremen Beschl v 08.07.2009 – L 6 AS 335/09 B ER – Rn 9, 13).

Die Auswirkungen auf (die) andere(n) Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft widerspricht auch dem personenbezogenen Charakter der Sanktion.

Sanktionen nach § 31 SGB II aF haben den Zweck, einen Pflichtverstoß zu ahnden und/oder unzureichenden Bemühungen zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit entgegenzuwirken. Sie richten sich deshalb sinnfällig nur gegen die Person, die sich pflicht- oder sozialwidrig verhalten hat.

Noch deutlicher ist das bei den strengeren Sanktionen gegen jüngere Erwachsene bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, die einen erzieherischen Effekt erreichen sollen (BT-Drucksache 16(11)108, S. 29; 16(11)114, S. 46; LSG Nds-Bremen Beschl v 08.07.2009 – L 6 AS 335/09 B ER – Rn 9).

Gehören im Leistungszeitraum minderjährige Kinder der Bedarfsgemeinschaft an, widerspricht jedenfalls dann die Unterdeckung der KdU durch Anrechnung eines fiktiven Kopfanteils auch deren besonderem Bedarf (vgl auch Wolf/Diehm SozSich 2006, 195) und dem in § 1 Abs 1 S 4 Nr 4 SGB II niedergelegten Grundsatz familiengerechter Hilfe (s LSG Nds-Bremen Beschl v 08.07.2009 – L 6 AS 335/09 B ER – Rn 11).

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3.3 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.07.2012,- L 7 AS 898/12 B ER –

Antragstellerin, deren Ausbildung zur Bürokauffrau wegen ihrer psychischen Erkrankung im Rahmen einer Ausbildung mit internatsmäßiger Unterbringung nach §§ 112 ff. SGB III (bis 31.03.2012 97 ff. SGB III) vom SGB III Träger gefördert wird, greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II weder nach seinem Wortlaut noch nach Sinn und Zweck (ebenso LSG NRW (Urteil vom 28.11.2011 – L 20 AS 1663/10 Rn. 35 ff. ; vgl. auch LSG Hamburg, Beschluss vom 06.07.2011 – L 5 AS 191/11 B ER Rn. 5 ; Söhngen in jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 27 Rn. 25.1; a.A. LSG NRW, Beschluss vom 13.07.2010 – L 6 AS 587/10 B ER).

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3.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.07.2012,- L 12 AS 625/12 B –

Die Rundungsvorschrift des § 41 Abs. 2 SGB II in der bis 31.03.2011 gültigen Fassung stellt kein subjektives Recht dar.

Sinn und Zweck der Regelung ist die Verwaltungsvereinfachung (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17.03.2009 – B 14 AS 63/07 R -Rdz 35) bzw. das Vermeiden der Auszahlung von Bagatellbeträgen (Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 41 Rdz 7).

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3.5 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.07.2012,- L 2 AS 33/12 B –

Der im 9. Kapitel des SGB XII geregelte Anspruch auf Übernahme der Bestattungskosten nach § 74 SGB XII ist nicht ausgeschlossen, wenn Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II bezogen werden.

Denn nach § 5 Abs. 2 SGB II, § 21 SGB XII sind für Leistungsberechtigte nach dem SGB II nur Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausgeschlossen.

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3.6 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.07.2012,- L 7 AS 275/12 B ER –

Auf der Grundlage von § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II kann kein unabweisbarer laufender Bedarf zur Finanzierung von Besuchsreisen eines im Ausland lebenden Ehegatten aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleitet werden.

Vielmehr müssen sich die Mitglieder der betreffenden Ehegemeinschaft auf die ausländerrechtlich und verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeiten zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Zuzug des im Ausland lebenden Ehegatten verweisen lassen, wobei Art. 6 GG nicht vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten schützt, die mit einer solchen Übersiedlung verbunden sein können.

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4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 24.04.2012,- S 29 AS 17/09 –

Jobcenter ist zur Übernahme doppelter Mietaufwendungen nach § 22 Abs. 6 SGB II für eine behindertengerechten Wohnung im Zuge eines vom ihm veranlassten Umzugs verpflichtet.

Auf welche Vorschriften des SGB II sich ein Anspruch für die Erstattung von umzugsbedingten Doppelmieten stützt, ist in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.

Die Mehrzahl der Landessozialgerichte (Bayrisches LSG – L 16 B 665/08 und L 7 AS 99/06; LSG Sachsen-Anhalt – L 5 AS 331/11 ER – tendieren dazu, § 22 Abs. 3 Satz 1 SGB II a. F. jetzt § 22 Abs. 6 SGB II als maßgebliche Anspruchsgrundlage zu sehen; die durch einen Umzug übergangsweise entstandenen doppelten Mietbelastungen werden den Wohnungsbeschaffungskosten zugeordnet.

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4.2 – Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 29.06.2012,- S 96 AS 15360/12 ER –

Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist auf Unionsbürger wegen eines Verstoßes gegen Art 4 iVm Art 3 Abs 3 iVm Art 70 iVm Anh 10 der EGV 883/2004 nicht anwendbar.

Eine bulgarische Staatsangehörige ist nicht nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 von Leistungen ausgeschlossen, wenn ihr Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs 3 S 1 Nrn 1, oder 2 FreizügG/EU 2004 wegen einer Schwangerschaft fortgilt.

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Anmerkung:
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist nicht mit unmittelbar anwendbarem und Anwendungsvorrang genießendem Europarecht, nämlich mit Art. 4 VO 883/2004 vereinbar (vgl. Urteil des SG Berlin vom 24. Mai 2011, Az: S 149 AS 17644/09, dort S. 9, sowie Urteil vom 27. März 2012, Az: S 110 AS 28262/11 Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14. Juli 2011, Az: L 7 AS 107/11 B ER, Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2012, L 14 AS 7623/12 B ER, SG Dresden, Beschluss vom 5. August 2011, Az: S 36 AS 3461/11 ER, SG Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2012, Az: S 91 AS 8804/12, SG Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2012, Az: S 189 AS 15170/12 ER; a.A. insbesondere Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012, Az: L 20 AS 2347/11 B ER, Beschluss vom 3. April 2012, Az: L 5 AS 1257/11 B ER und Beschluss vom 12. Juni 2012, Az: L 29 AS 1044/12 B ER).

4.3 – Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 04.07.2012,- S 37 AS 17263/12 ER –

§ 86b Abs 1 S 2 SGG erfasst als unselbstständiger Folgenbeseitigungsanspruch die Rückgängigmachung bereits erfolgter Vollziehungshandlungen (hier die Nichtauszahlung von bewilligten Leistungen).

Anderenfalls bliebe die vorsätzliche Missachtung der aufschiebenden Wirkung unter Ausnutzung des Umstandes, dass Anordnungen der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs 1 SGG keinen vollstreckbaren Inhalt haben, ohne Folgen.

Ohne SGB 2- und der vom Sozialamt ebenfalls abgelehnten SGB 12-Leistungen droht dem Rechtsschutzsuchenden eine akute Notlage, sein in Art. 1, 2 GG verbürgter Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums liefe leer.

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Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de