Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 35/2012

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 23.08.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 23.08.2012,- B 4 AS 32/12 R –

Hartz-IV-Empfänger müssen Mieterhöhungen nicht aus eigener Tasche zahlen, solange die Kosten der Wohnung insgesamt angemessen bleiben.

Jobcenter muss die durch die Wunsch-Modernisierung eingetretene Mieterhöhung tragen, denn eine analoge Anwendung der Ausnahmeregelung des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II zum Nachteil der Klägerinnen ist nicht möglich, weil eine planwidrige Regelungslücke nicht vorliegt.

juris.bundessozialgericht.de

Anmerkung:
Vorinstanz: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.12.2011, – L 10 AS 654/10 –

SGB 2 § 22 Abs 1 S 2 ist analog anwendbar, wenn sich die Miete eines in akzeptablen Wohnverhältnissen lebenden Leistungsberechtigten während des Leistungsbezuges dadurch erhöht, dass er mit dem Vermieter eine Modernisierungsvereinbarung schließt, nach der die Kosten auf ihn umgelegt werden.

1.2 – BSG, Urteil vom 23.08.2012,- B 4 AS 169/11 R –

Bei Erstattungsansprüchen nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III findet § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II aF (jetzt § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB II) keine Anwendung.

Gegen eine Anwendung dieser Regelung spricht bereits ihr Wortlaut, denn danach werden nur auf einer Anwendung des § 50 SGB X beruhende Erstattungsbeträge einbezogen.

juris.bundessozialgericht.de

1.3 – BSG, Urteil vom 23.08.2012,- B 4 AS 167/11 R –

Alleinerziehenden darf nicht allein deshalb der Mehrbedarf für Alleinerziehende verwehrt werden, weil sie mit weiteren Familienangehörigen (Eltern, Schwester) unter einem Dach leben.

Für die Gewährung des Mehrbedarfs komme es nicht auf die Möglichkeit an, regelmäßig auf Unterstützung der Verwandten zurückzugreifen, sondern darauf, ob tatsächlich regelmäßig weitere Personen an der Pflege und Erziehung der Kinder mitwirkten.

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Anmerkung:
Vorinstanz: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.08.2011, – L 10 AS 1691/10 –

Für die Frage, ob bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II ein Mehrbedarf für Alleinerziehende zu berücksichtigen ist, kommt es dem Wortlaut des § 21 Abs. 3 SGB II entsprechend darauf an, ob der getrennt lebende Elternteil allein für Pflege und Erziehung des oder der Kinder sorgt. Die Vorschrift ermöglicht es nicht, einer alleinerziehenden Person den Mehrbedarf unter Berufung auf dessen Sinn und Zweck mit der Begründung zu versagen, sie lebe mit weiteren Familienangehörigen (Eltern, Schwester) unter einem Dach.

1.4 – BSG, Urteil vom 23.08.2012, – B 4 AS 34/12 R –

Mitbewohner im Eigenheim ist nicht automatisch Lebenspartner im Sinne des § 7 Abs 3 Nr 3c SGB II.

§ 7 Abs 3 Nr 3c SGB II normiert für das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft drei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen:

Es muss sich 1. um Partner handeln, die 2. in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben und zwar 3. so, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.

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2.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 22.08.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG, Urteil vom 22.08.2012,- B 14 AS 164/11 R –

Entschädigungszahlungen für einen Nichtvermögensschaden wegen Missachtung der spezifischen Rechte als Schwerbehinderter im Bewerbungsverfahren sind von der Berücksichtigung als Einkommen gemäß § 11 Abs 3 Nr 2 SGB II aF grundsätzlich ausgenommen

Das Sozialhilferecht hat den Begriff der Entschädigung wegen immaterieller Schäden stets weit ausgelegt und hierunter auch Entschädigungen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts subsumiert. Der Gesetzgeber des SGB II wollte mit der Regelung in § 11 Abs 3 Nr 2 SGB II aF an diese historische Entwicklung im Sozialhilferecht anknüpfen.

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2.2 – BSG, Urteil vom 22.08.2012,- B 14 AS 1/12 R –

Tilgungsaufwendungen werden auch nicht dadurch zu berücksichtigungsfähigen Kosten der Unterkunft, dass sie vom Nutzer der Wohnimmobilie dem Kreditgeber gegenüber als Gesamtschuldner geschuldet werden und der andere Schuldner, der die Wohnimmobilie selbst nicht nutzt, keine Zahlungen leistet.

Auch die vorliegend getroffenen Ausgleichsvereinbarungen unter den geschiedenen Ehegatten ändern daran nichts.

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2.3 – BSG, Urteil vom 22.08.2012,- B 14 AS 13/12 R –

Alleinerziehende haben keinen Anspruch auf einen Wohnflächenmehrbedarf von zehn Quadratmetern.

Berechnung der Kieler Mietobergrenzen entspricht nicht den Vorgaben des BSG zu einem schlüssigen Konzept.

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(Anmerkung das Arbeits- und Sozialministerium weißt in seinem Erlass vom 15.08.2012 zur Festsetzung der angemessenen KdU in NRW an, dass der Mehrbedarf für Alleinerziehung zu höheren Qm führt, zum Erlass des MAIS NRW: www.harald-thome.de (pdf))


2.4 – BSG, Urteil vom 22.08.2012,- B 14 AS 103/11 R –

Zinsen aus Schmerzensgeld werden bei Hartz IV – Leistungen angerechnet.

Der Rechtsprechung des BGH ist zu entnehmen, dass der Einsatz der aus dem Vermögensstamm fließenden Früchte nicht als besondere Härte eingestuft werden kann. Vergleichbare Wertungen, die jeweils zwischen Kapital und hieraus erzielten Zinsen unterscheiden, liegen auch der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG zugrunde.

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3.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 23.05.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Die Bestimmung des ersten, zweiten usw. Pflegekindes im Sinne von § 11 Abs. 4 SGB II a.F. ist nicht nach der zeitlichen Reihenfolge der jeweils in einem Pflegeverhältnis zum Leistungsberechtigten stehenden Kinder, sondern nach einer Durchschnittsbildung der erhaltenen Erziehungsgeldanteile durchzuführen.

Kein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs 3 SGB II, weil es sich nur um eine Tagespflege und nicht um eine Vollzeitpflege mit Aufnahme der Pflegekinder in den Haushalt handelte (vgl. BSG, Urteil vom 27.1.2009 (B 14/7b AS 8/07 R – SozR 4-4200 § 21 Nr 4).

juris.bundessozialgericht.de

4.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.07.2012,- L 19 AS 870/11 –

Kein ALG 2 bei Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe (Urteil BSG vom 24.02.2011 – B 14 AS 81/09 R und vom 21.06.2011 – B 4 AS 128/10 R).

sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2012,- L 12 AS 918/12 B ER –

Es bedarf regelmäßig keiner eigenen Feststellungen des Trägers der Grundsicherung für Arbeitssuchende oder der Sozialgerichte zur Höhe des Unterhaltsanspruchs (BSG, Urteil vom 09.11.2010 – B 4 AS 78/10 R -).

sozialgerichtsbarkeit.de

4.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22.05.2012,- L 16 AS 220/12 B ER –

Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend festzustellen.

Aufgrund der vorzunehmenden Folgenabwägung sind Leistungen im ER-Verfahren vorläufig zu gewähren.

sozialgerichtsbarkeit.de

4.4 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vom 21.08.2012,- L 36 AS 1162 /12 NK -,Revision zum BSG zugelassen

Berliner Wohnaufwendungsverordnung: Normenkontrollantrag unzulässig – Keine Anwendung der Berliner Wohnaufwendungsverordnung auf Bezieher von Sozialhilfe (SGB XII).

www.lsg.berlin.brandenburg.de (pdf)

4.5 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.08.2012, – L 7 AS 223/12 B –

Ein Änderungsbescheid des Grundsicherungsträgers, der sich der äußeren Form nach und auch inhaltlich nicht vom ursprünglichen Bewilligungsbescheid unterscheidet, ist insgesamt und nicht nur hinsichtlich der Änderung überprüfbar.

www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4.6 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.07.2012, – L 7 AS 776/11 –

Die Fiktion der Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG tritt nicht ein, wenn der Kläger seine Klage begründet hat und erwarten kann, dass das Sozialgericht darüber entscheidet.

www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4.7 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.07.2012, – L 7 AS 76/12 B –

Der Leistungsausschluss für Schüler und Studenten in § 7 Abs. 5 SGB II erfasst auch die Kosten für eine mehrtägige Studienfahrt.

www.rechtsprechung.niedersachsen.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

5.1 – Sozialgericht Chemnitz, Beschluss vom 1. August 2012 – S 31 AS 3050/12 ER –

Kosten für Klassenfahrt nach England umfassen nicht Kosten für Reisepapier eines teilnehmenden Schülers.

www.justiz.sachsen.de

5.2 – Sozialgericht Hildesheim, Gerichtsbescheid vom 30.03.2012, – S 54 AS 2005/08 –

Leistungsberechtigte nach dem SGB II haben einen Anspruch auf gerichtliche Aufhebung eines leistungsabsenkenden Änderungsbescheides, der lediglich in Umsetzung eines zeitgleich erlassenen Sanktionsbescheides ergangen ist, sofern sich der Leistungsträger weigert, diesen Änderungsbescheid nach Aufhebung des in Bezug genommenen Sanktionsbescheides ebenfalls aufzuheben oder für erledigt bzw. gegenstandslos zu erklären.

www.rechtsprechung.niedersachsen.de

6.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

6.1 – Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 02.08.2012,- L 4 SO 86/12 B ER –

Hat eine Person, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden soll, Anspruch auf betreutes Wohnen, kann sich der Sozialhilfeträger nicht darauf berufen, dass er nur nachrangig zuständig ist.

www.lsg-darmstadt.justiz.hessen.de

7.   Anmerkung zu: BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 -, 1 BvL 10/10, BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 2/11-

Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes und Rechtsfolgen bis zur Neureglung durch den Gesetzgeber

Leitsätze (von juris)
1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.

2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.

www.juris.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de