Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 36/2012

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 19.06.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 19.06.2012,- B 4 AS 142/11 R –

Keine Erstattung der notwendigen Aufwendungen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nach § 63 SGB X.

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1.2 – BSG, Urteil vom 19.06.2012,- B 4 AS 163/11 R –

Keine Absetzung von Aufwendungen für Business-Kleidung und Friseurbesuche vom Einkommen.

Eigenleistungen im Rahmen von vermögenswirksamen Leistungen sind nicht vom Einkommen abzusetzen (vgl schon BSG Urteil vom 27.2.2008 – B 14/7b AS 32/06 R, BSGE 100, 83 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6, RdNr 50).

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2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012,-L 3 AS 250/12 B ER –

Luxemburger auf Arbeitsuche erhält Hartz IV

1. Der aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II folgende Ausschluss von EU-Bürgern, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, von den Leistungen nach dem SGB II verstößt nicht gegen das in Art 4 EGV 883/2004 geregelte Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf Leistungen der sozialen Sicherheit.

EU-Bürger, die bereits eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt aufgebaut haben, dürfen nicht von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen werden, weil sie sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.

2. Bei den Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts erwerbsfähiger Hilfebedürftiger handelt es sich nicht um Sozialhilfe iSd Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004.

3. Zur Frage der Wirksamkeit des Vorbehalts der Bundesregierung gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

www.mjv.rlp.de

Anmerkung:
Rechtsmittel gegen Ablehnung von ALG II für Unionsbürger – deutscher Vorbehalt gegen das EFA wirkungslos.

Von Georg Classen, Stand: 22. August 2012
www.fluechtlingsinfo-berlin.de (pdf)

2.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21.06.2012,- L 5 AS 67/09 –

Keine Übernahme der Kosten der Unterkunft durch das Jobcenter, denn gegen einen tatsächlichen Mietvertrag unter Verwandten spricht, dass die Mieteinnahmen nicht in der Steuererklärung angegeben wurden.

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Anmerkung:
Tatsächliche Aufwendungen für eine Wohnung liegen auch dann vor, wenn der Hilfebedürftige im jeweiligen Leistungszeitraum (vgl. dazu Bundessozialgericht – BSG – v. vom 7.11.2006 – B 7b AS 8/06 R, Rn. 34) einer wirksamen und nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung ausgesetzt ist (vgl. BSG v. 03.03.2009 – B 4 AS 37/08 R –, Rn. 24; BSG v. 25.08.2011, B 8 SO 29/10 R –, Rn. 13).

2.3 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22.03.2012,- L 2 AS 25/10 –

Kontaktaufnahmen mit Beratungen, die aufgrund der allgemeinen Beratungs- und Unterstützungspflicht des Leistungsträgers nach (§§ 13, 14 des SGB I sowie der besonderen Beratungsverpflichtung im SGB II nach § 14 Satz 1 SGB II erfolgen, sind noch nicht geeignet, einen Mehrbedarf für Behinderung hervorzurufen (vgl. BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 3/10 R).

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Anmerkung:
Nur bei einer Teilnahme an einer Maßnahme kann typisiert vorausgesetzt werden, dass ein Mehraufwand eintritt, der durch Einstellung eines Mehrbedarfs in die Berechnung des Gesamtbedarfs auszugleichen ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 22. März 2010, Az. B 4 AS 59/09 R).

2.4 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06.08.2012,- L 5 AS 339/12 B ER –

Kein Anordnungsgrund besteht regelmäßig dann, wenn im Wege des Eilrechtsschutzes Bagatellbeträge geltend gemacht werden (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 30. März 2009, Az.: L 5 B 121/08 AS ER).

Wird um Leistungen gestritten, deren Höhe fünf Prozent der monatlichen Regelleistung (derzeit: 18,80 EUR) nicht übersteigt, lösen regelmäßig unzureichende Leistung des Leistungsträgers noch keine existenzielle, d.h. akute wirtschaftliche Notlage aus, der mit Mitteln des gerichtlichen Eilrechtsschutzes begegnen ist. Der Antragsteller ist dann auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens zu verweisen.

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Anmerkung:
Zum Aufsatz von Udo Geiger, Keine Prozesskostenhilfe in Bagatellverfahren? Info also 2009 S. 105
www.info-also.nomos.de (pdf)

Zum Aufsatz von Udo Geiger, Keine Ablehnung von Prozesskostenhilfe wegen Bagatellverfahren, Info also 4/2011 Seite 171
www.info-also.nomos.de

2.5 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21.06.2012,- L 5 AS 261/10 –

Das Einstiegsgeld ist nicht erforderlich, wenn das Beschäftigungsverhältnis auch ohne die Bewilligung von Einstiegsgeld aufgenommen wird und somit die Eingliederung auch ohne Förderung erfolgt ist (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 20. November 2011, L 7 AS 643/11, zur beantragten Förderung einer bereits ausgeübten Tätigkeit).

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2.6 – Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 22.02.2012,- L 4 AS 1685/10 –

Ernährung mit einer Vollkost bei Laktoseintoleranz unterfällt nicht § 21 Abs. 5 SGB II, weil es sich nicht um eine Krankenkost handelt, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt.

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Anmerkung:
Beim Bundessozialgericht ist folgende Frage hinsichtlich eines Mehrbedarfs für Laktoseintoleranz anhängig.

Kann eine Laktoseintoleranz einen Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung gem § 21 Abs 5 SGB 2 bedingen?

Vorinstanz: SG Freiburg, S 20 AS 1559/11 -, Urteil vom 13.01.2012, anhängig beim BSG unter dem Az. B 14 AS 48/12 R

2.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.08.2012,- L 7 AS 1355/12 B ER –

Sanktion nicht rechtswidrig, wenn der Antragsteller Angaben über gesundheitliche Angelegenheiten und eine Weitergabe und Speicherung persönlicher Daten unter Hinweis auf das Datenschutzgesetz (BDSG) verweigert hat.

§ 4 BDSG regelt, dass die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig ist, wenn dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene einwilligt (nach § 4a BDSG,SG Berlin, Beschluss vom 15.02.2012 – S 107 AS 1034/12 ER).

Jedoch gehen nach § 1 Abs. 3 BDSG, soweit andere Rechtsvorschriften des Bundes auf personenbezogene Daten anzuwenden sind, diese den Vorschriften des BDSG vor (BSG, Urteil vom 10.12.2008 – B 6 KA 37/07 R 1. Leitsatz und Rn. 33).

Insoweit kommen eine Reihe von bereichsspezifischen Spezialregelungen (§§ 50 ff SGB II) sowie § 35 SGB I und §§ 67 ff. SGB X in Betracht (BSG, Urteil vom 25.01.2012 – B 14 AS 65/11 R17 ff.), die u.a. die Übermittlung von Daten an mit der Wahrnehmung von Aufgaben beauftragte Dritte unter bestimmten Voraussetzungen regeln (Lenze/Brünner in LPK-SGB II, 4. Auflage 2012, vor §§ 50 Rn. 1 ff.).

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Anmerkung:
Hartz IV – Empfänger müssen beim Maßnahmenträger – keinen – Lebenslauf vorlegen (SG Leipzig, Beschluss vom 29.05.2012,- S 25 AS 1470/12 ER –, unveröffentlicht).

2.8 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2012,- L 28 AS 1153/12 B ER –

Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 28 Abs. 4 SGB 2 werden nur die notwendigen Aufwendungen für die Beförderung zur nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs berücksichtigt.

Nach den Gesetzesmaterialien soll die Leistung auch dann auf diesen Betrag beschränkt sein, wenn eine Schülerin oder ein Schüler tatsächlich eine weiter entfernte Schule besucht.

Soweit in den Schulgesetzen der Länder eine vollständige oder teilweise Kostenübernahme insbesondere durch die Träger der Schülerbeförderung vorgesehen ist, ist diese anzurechnen (vgl. Bundestags-Drucksache 17/4095 vom 02.12.2010, S. 30).

Raum, auf der Grundlage der genannten Vorschrift Leistungen für die Kosten für die Beförderung des Kindes zu einer weiter entfernten Schule zu gewähren bzw. hierfür entstandene Kosten zu erstatten, besteht damit nicht.

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Anmerkung:
Wird eine andere Schule besucht, so muss nachweislich der Besuch der nächstgelegenen Schule nicht möglich sein (Münder, SGB II, 4. Auflage, Rn. 17 zu § 28).

2.9 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.06.2012,- L 18 AS 1472/12 B ER –

ALG II für italienische Staatsangehörige im Rahmen der Folgenabwägung, denn § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004.

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2.10 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.06.2012,- L 19 AS 1294/12 B ER –

Niederländischer Staatsangehöriger ist nicht vom ALG 2 ausgeschlossen.

Der allein auf der Arbeitssuche beruhende Leistungsausschluss gilt nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA).

EFA Vorbehalt ist unwirksam.

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2.11 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.08.2012,- L 18 AS 1908/12 B PKH –

Die SGB II-Regelsätze für Alleinstehende sind vom Gesetzgeber für die Zeit ab 1. Januar 2011 nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgesetzt worden(BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 – B 14 AS 153/11 R -).

Die in Teilen des Schrifttums sowie im Vorlagebeschluss des SG Berlin vom 25. April 2012 gegen die Verfassungsmäßigkeit vorgebrachten Argumente können nicht überzeugen (Urteil vom 12. Juli 2012 – B 14 AS 153/11 R -).

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2.12 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.07.2012,- L 28 AS 2230/10 –

Bei der Aufrechnung nach den §§ 42a und 43 SGB 2 handelt es sich um einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt(so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 26.01.2012 – L 6 AS 676/11 B ER –, Rn. 4 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.03.2012 – L 29 AS 2120/1 B PKH-).

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2.13 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vom 21.08.2012,- L 36 AS 1162 /12 NK -, Revision zum BSG zugelassen

Berliner Wohnaufwendungsverordnung: Normenkontrollantrag unzulässig – Keine Anwendung der Berliner Wohnaufwendungsverordnung auf Bezieher von Sozialhilfe (SGB XII).

Anmerkung:
Der wesentliche Teil der Urteilsbegründung zur Entscheidung Az. L 36 AS 1162/12 NK ist zu finden bei den Kommentaren – beginnend mit dem Kommentar vom 01.09.2012.
sozialrechtsexperte.blogspot.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Dessau-Roßlau, Urteil vom 17.08.2012,- S 11 AS 2430/11 –

Ein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitswerte liegt vor, wenn der Ersteller planmäßig vorgegangen ist im Sinne der systematischen Ermittlung und Bewertung genereller, wenngleich orts- und zeitbedingter Tatsachen im maßgeblichen Vergleichsraum sowie für sämtliche Anwendungsfälle und nicht nur punktuell im Einzelfall (BSG, Urteil vom 22. September 2009, B 4 AS 18/09 R).

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Anmerkung:
Die Beschränkung auf Daten bestimmter Baualtersklassen zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenze ist nur unter bestimmten engen Voraussetzungen zulässig (BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 2/10 R,Rn 23, 24; Urteil vom 20.12.2011 – B 4 AS 19/11 R,Rn 30).

3.2 – Sozialgericht Frankfurt, Beschluss vom 09.05.2012,- S 16 AS 538/12 ER –

Kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für schwangere, iranische Staatsangehörige bei Familiennachzug zum Ehegatten mit deutscher Staatsangehörigkeit.

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3.3 – Sozialgericht Speyer, Beschluss vom 27.03.2012,- S 6 AS 362/12 ER –

Der Besuch einer Ganztagsschule schließt einen Anspruch auf eine ergänzende angemessene Lernförderung nach § 28 SGB II nicht aus, wenn diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen.

Für die Gewährung einer ergänzenden angemessenen Lernförderung im Sinne von § 28 Abs. 5 SGB II ist in jedem Einzelfall eine individuelle Prüfung erforderlich und eine auf das Schuljahresende bezogene prognostische Einschätzung unter Einbeziehung der schulischen Förderangebote zu treffen.

www.mjv.rlp.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de