Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 39/2012

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 20.09.2012 zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urteil vom 20.09.2012,- B 8 SO 4/11 R –

Keine Kürzung der Sozialhilfe bei möblierten Zimmer

Denn wird der Regelsatz um den darin enthaltenen Anteil für Möbel und Einrichtungsgegenstände gekürzt, kann der Leistungsbezieher gar keine erforderlichen Möbel mehr anschaffen oder austauschen. Es bleibt dem Hilfebedürftigem überlassen, ob er neben den vorhandenen Gegenständen weitere anschafft.

Derartigen Unwägbarkeiten soll die Pauschalierung des Regelsatzes Rechnung tragen.

juris.bundessozialgericht.de

Anmerkung für SGB II – Leistungsbezieher:
KdU werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit sie angemessen sind (vgl § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Erfasst sind alle Zahlungsverpflichtungen, die sich aus dem Mietvertrag für die Unterkunft ergeben (vgl BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 20 RdNr 20 zum Nutzungsentgelt für die Küchenmöblierung mwN).

1.2 – BSG, Urteil vom 20.09.2012,- B 8 SO 13/11 R –

Sozialhilfeempfängerin muss ihre Wohnung nicht in der Türkei verwerten, denn sie profitiert von Hartz-IV-Freibeträgen.

In einer sog. gemischten Bedarfsgemeinschaft gilt ein gemeinsamer Vermögensfreibetrag. Bei Annahme eines Vermögenswerts von (nur) 11 024,60 Euro würde die Verwertung der Immobilie in der Türkei für den Ehemann (SGB II) eine Härte iS des § 90 Abs 3 SGB XII darstellen.

juris.bundessozialgericht.de

Anmerkung:
Ein Empfänger von Alg II muss sein angemessenes Kfz, das Schonvermögen nach den Regelungen des SGB 2 – Grundsicherung für Arbeitsuchende – ist, nicht für seine Ehefrau verwerten, bevor diese Sozialhilfe nach dem SGB 12 – Sozialhilfe – erhalten kann (vgl. BSG Urteil vom 19.03.2008,- B 8/9b SO 11/06 R -).

1.3 – BSG, Urteil vom 20.09.2012, – B 8 SO 15/11 R –

Kein Einbau eines Aufzugs im Haus der Eltern eines schwerbehinderten Kindes auf Kosten des Sozialhilfeträgers bei vorhandenem Vermögen.

juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16.05.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG, Urteil vom 16.05.2012,-B 4 AS 132/11 R-

Die Betriebskostengutschrift (§ 22 Abs. 3 SGB II) stellt zwar Einkommen dar, dieses kann aber nur dann mindernd angerechnet werden, wenn es auch realisierbar ist.

Kann dieses Einkommen aus Rechtsgründen nicht realisiert werden, stehen bereite Mittel zur Bedarfsdeckung nicht zur Verfügung und muss – in gleicher Weise wie bei gepfändeten Teilen des Alg II – die mögliche Folge einer Tilgung von Mietschulden aus der Vergangenheit durch Rückzahlungen aus Betriebskostenabrechnungen hingenommen werden (vgl zur Pfändung BSGE 108, 144 = SozR 4-5870 § 6a Nr 2 mwN; Söhngen in jurisPK-SGB II, 3. Aufl 2012, § 11 RdNr 41).

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3.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschlüsse vom 22.08.2012,- L 11 AS 549/12 B PKH – u.- L 11 AS 550/12 B PKH –

Regelbedarf ist nicht evident verfassungswidrig.

sozialgerichtsbarkeit.de

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3.2 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 26.07.2012, – L 7 AS 404/12 B ER –

Ein Anordnungsgrund für die Übernahme von Unterkunftskosten nach § 22 SGB II im Eilverfahren besteht nicht allein deswegen, weil das Jobcenter nur einen Teil der Unterkunftskosten übernimmt.

Eine Kündigung wegen Mietrückstands durch den Vermieter kann einen Anordnungsgrund begründen.

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3.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17.08.2012, – L 7 AS 564/12 B ER –

Die Behörde ist im Eilverfahren auch während des Beschwerdeverfahrens berechtigt, einen Bescheid zum Streitgegenstand zu erlassen. Andernfalls könnte kein Hauptsacheverfahren durchgeführt werden.

Die Behörde darf diesen Bescheid aber nicht vollziehen, wenn der Vollzug die gerichtliche Leistungsverpflichtung aus dem Eilverfahren aushebeln würde. Die gerichtliche Eilentscheidung hat (vorläufige) Rechtskraft und ist für die Beteiligten verbindlich. Auch die Behörde kann nur auf prozessualem Weg gegen eine gerichtliche Leistungsverpflichtung vorgehen.

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3.4 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.09.2012,- L 5 AS 218/09 –

Da § 328 Abs. 3 Satz 1 SGB III eine eigenständige Anspruchsgrundlage auch hinsichtlich der Anrechnung bildet, kommt § 43 SGB II nicht zur Anwendung.

sozialgerichtsbarkeit.de

3.5 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.08.2012,- L 19 AS 1851/12 B ER –

Spanischer Staatsangehöriger hat Anspruch auf ALG II.

Der allein auf der Arbeitssuche beruhende Leistungsausschluss gilt nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA), zu denen u. a. die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Spanien zählen.

Spanische Staatsangehörige hat Anspruch auf ALG II, weil sie sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen kann.

Der von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen ist nicht wirksam.

Bei dem SGB II handelt es sich nicht um eine neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 b EFA.

Ein neues Fürsorgegesetz fällt auch ohne entsprechende Mitteilung des Vertragsstaats unter den Anwendungsbereich des Abkommens (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Mai 2012 – L 25 AS 837/12 B ER -).

sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Anderer Auffassung LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juni 2012 – L 29 AS 914/12 B ER – :
Bei dem SGB II handelt es sich um eine neue Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 16 b EFA, da sie bis Dezember 2011 nicht im Anhang I aufgeführt worden ist.

Anmerkung:
Gleicher Auffassung Bayerisches LSG, Beschluss vom 14.08.2012.- L 16 AS 568/12 B ER –

Eine Ausländerin, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ableitet, ist nicht von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgeschlossen, wenn sie vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens erfasst wird (BSG, Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R).

Es bestehen Zweifel, ob der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt gemäß Art. 16 Buchst. b Europäisches Fürsorgeabkommen in Bezug auf das Sozialgesetzbuch zweites Buch (SGB II) die Staatsangehörigen der Signatarstaaten (hier Spanien) wirksam vom Leistungsbezug ausschließt.

Spanische Staatsangehörige hat Anspruch auf ALG II, weil sie sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen kann.

Der von der Bundesregierung erklärten Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen ist nicht wirksam(wie hier LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012, L 19 AS 794/12 B ER).

3.6 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.08.2012,- L 19 AS 1751/12 B ER –

Griechischer Staatsangehöriger hat Anspruch auf ALG II.

Begründung: Siehe Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.08.2012,- L 19 AS 1851/12 B ER –

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3.7 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.09.2012,- L 20 AS 1861/12 B ER –

Grundsätzlich ist ein Anspruch auf Neubescheidung nicht nach § 86 b Abs. 2 SGG sicherungsfähig, einer einstweiligen Regelung nicht zugänglich.

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3.8 – Landessozialgericht Rheinland- Pfalz, Beschluss vom 03.09.2012,- L 6 AS 404/12 B ER –

22 Abs. 1 Satz 1 SGB II schließt die Berücksichtigung der Leibrente nicht aus.

Leibrentenzahlungen führen nicht unmittelbar zu einer Vermögensvermehrung, sondern dienen eher der Sicherung des bereits erlangten Vermögensvorteils (vgl. SG Mainz, Beschluss v. 20.03.2012,- S 10 AS 178/12 ER).

Anmerkung:
Vorinstanz: SG Mainz, Beschluss vom 01.08.2012,- S 12 AS 717/12 ER –

Regelmäßig keine Berücksichtigung von Leibrentenzahlungen als Unterkunftskosten.

Leibrentenzahlungen, die als Gegenleistung für die Übertragung eines Hausgrundstücks zu zahlen sind, sind im Regelfall nicht als Unterkunftskosten zu berücksichtigen, weil ihre Übernahme zu einer Vermögensmehrung des Leistungsberechtigten führt.

Eine ausnahmsweise Berücksichtigung von Leibrentenzahlungen setzt voraus, dass mit einem baldigen Ende der Leibrentenverpflichtung zu rechnen ist; hieran fehlt es jedenfalls dann, wenn die Lebenserwartung der Leibrentenberechtigten noch 11 bzw. 19 Jahre beträgt.

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15.08.2012,- S 55 AS 13349/12 –

1. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 besteht für nach Art 2, 3, 4, 70 EGV 883/2004 Berechtigte nicht, weil das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 EGV 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB 1 unmittelbar rechtswirksam ist. Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 S 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB 2 werden als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen von Art 70 EGV 883/2004 erfasst.

2. Das Ermessen der Jobcenter nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB 2, 328 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 3 bei der Gewährung von Grundsicherungsleistungen wird hinsichtlich der Vorlagebeschlüsse des SG Berlin vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12, 1 BvL 10/12 und S 55 AS 29349/11, 1 BvL 12/12) zur Vereinbarkeit der Regelbedarfe mit dem Grundgesetz bis zu einer Entscheidung des BVerfG bzw des Gesetzgebers regelmäßig auf die Erteilung einer Vorläufigkeitsbestimmung reduziert, denn eine solche Bestimmung wahrt umfassend die Realisierung des Legalitätsprinzips wie auch effektiver Anspruchsdurchsetzung ohne unnötigen Verwaltungsaufwand.

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Anmerkung.
Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 Sätze 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II werden von Art 70 EU-VO 883/2004 erfasst (SG Berlin, Urteile vom 24.05.2011, S 149 AS 17644/09, vom 27.03.2012, S 110 AS 28262/11; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.04.2012, L 14 AS 7623/12 B ER, SG Dresden, Beschluss vom 05.08.2011, S 36 AS 3461/11 ER; SG Berlin, Beschlüsse vom 27.04.2012, S 55 AS 8242/12 ER, vom 08.05.2012, S 91 AS 8804/12, vom 20.06.2012, S 189 AS 15170/12 ER, vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER; a A insbesondere Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012, L 20 AS 2347/11 B ER, vom 03.04.2012, L 5 AS 1257/11 B ER und vom 12.06.2012, L 29 AS 1044/12 B ER).

4.2 – Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15.08.2012,- S 55 AS 7242/11 -, Revision zugelassen

1. Der ausländische Ehegatte eines deutschen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Sinne des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, mit dem er in Bedarfsgemeinschaft lebt, kann sich für Geldleistungen nach §§ 19, 20 SGB II auf die Anspruchsberechtigung nach § 7 Abs 2 SGB II stützen.

2. Für Berechtigte nach § 7 Abs 2 SGB II gelten nicht die Anspruchsvoraussetzungen oder -ausschlüsse nach Absatz 1, weder hinsichtlich des Alters, noch hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit, noch hinsichtlich der Einschränkungen nach Satz 2.

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4.3 – Sozialgericht Kassel, Urteil vom 17.08.2012,- S 10 AS 400/12 –

Keine Erstattung von Schülerbeförderungskosten nach § 28 Abs. 4 SGB II, welche dadurch entstehen, dass ein Schüler eine weiter entfernte Schule besucht, weil diese in besonderer Trägerschaft liegt(Waldorfschule).

Eine Waldorfschule stellt keinen eigenständigen Bildungsgang im Sinne des § 28 Abs. 4 SGB II dar.

Keine Übernahme der Kosten, weil dem Grunde nach ein Anspruch auf Erstattung der Schülerbeförderungskosten nach § 161 HessSchulG besteht (vgl. entsprechend SG Augsburg, Urt. v. 10.11.2011 – S 15 AS 749/11, Rn. 75 – zur bayrischen Regelung).

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Anmerkung:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2012,- L 28 AS 1153/12 B ER –

Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 28 Abs. 4 SGB 2 werden nur die notwendigen Aufwendungen für die Beförderung zur nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs berücksichtigt.

4.4 – Sozialgericht Leipzig, Beschluss vom 06.08.2012,- S 25 AS 2496/12 ER –

Sanktion ist rechtswidrig, wenn das Jobcenter seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachkommt.

Quelle: a4xpappa.de (pdf)

4.5 – Sozialgericht Oldenburg, Beschluss vom 13.09.2012,- S 44 AS 382/12 ER –

Sanktionsbescheid ist rechtswidrig, wenn es an einer wirksamen durchgeführten Anhörung vor Erlass des Sanktionsbescheides fehlt.

Denn eine Anhörung im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB X verlangt demnach von dem Leistungsträger, dass das Vorbringen des Beteiligten ernsthaft geprüft und bewertet wird (BeckOK, SGB X, Stand: 01.06.2012, § 24, Rn. 3, 10).

Bisher unveröffentlicht

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de