Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 22.10.2012 – Az.: S 12 AS 2161/10

URTEIL

In dem Rechtsstreit
1. xxx,
2. xxx,
Kläger,
Proz.-Bev.: zu 1-2:Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

xxx,
Beklagter,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 12. Kammer auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 2012 durch die Vorsitzende, Richterin xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx, für Recht erkannt:

1. Der Beklagte wird unter Abänderung der Kostenentscheidung des Abhilfebescheides der Stadt Göttingen vom 23. Juli 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2010 verurteilt, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung entstandenen notwendigen Aufwendungen der Kläger für das Widerspruchsverfahren in vollem Umfang zu erstatten.

2. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts war erforderlich.

3. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.

TATBESTAND
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten für ein Widerspruchsverfahren gemäß § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Die Kläger bezogen im Jahr 2010 von der Stadt Göttingen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Anlässlich eines Umzuges in eine kostengünstigere Wohnung und der in diesem Zusammenhang durch die Kläger zu stellenden Mietkaution beantragten die Kläger bei der Stadt Göttingen die Gewährung eines Kautionsdarlehens. Diese sandte am 12. Mai 2010 ein Formular an die Kläger, mit dem die Rückzahlungsmodalitäten des Darlehens geregelt werden sollten. Zur Auswahl standen die Rückzahlung spätestens nach Beendigung des Mietverhältnisses und die Tilgung in monatlichen Raten. Die Einbehaltung in monatlichen Raten war bei Übersendung an die Kläger bereits vorangekreuzt. Die Kläger ergänzten das Formular noch um den Beginn der Ratenzahlung. Mit Bescheid vom 7. Juni 2010 gewährte die Stadt Göttingen das Darlehen und regelte gleichzeitig die Einbehaltung monatlicher Raten in Höhe von 20,00 € ab Juli 2010 von den Leistungen der Kläger.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 15. Juni 2010 ließen die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch einlegen. Der Klägerin zu 1. sei nicht mitgeteilt worden, dass das Kautionsdarlehen auch ohne Tilgungsraten zu gewähren sei. Hätte sie dies gewusst, so hätte sie diese Variante gewählt, da bereits die monatlichen Raten von 20,00 € eine erhebliche Belastung für die Kläger bedeute.

Mit Bescheid vom 23. Juli 2010 half der Beklagte dem Widerspruch ab und verfügte, dass die Hinzuziehung eines Anwalts nicht erforderlich gewesen sei und daher keine Verfahrenskosten zu tragen seien. Die Klägerin zu 1. sei vor der Übersendung des Formulars telefonisch über die verschiedenen Möglichkeiten der Rückzahlung des Kautionsdarlehens belehrt worden und habe sich selbst für den Einbehalt von 20,00 € monatlich ab Juli 2010 entschieden. Ein Widerruf sei durch die Kläger selbst jederzeit möglich gewesen.

Den gegen die Kostenentscheidung erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2010 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage vom 28. Oktober 2010. Die Klägerin zu 1. sei nicht über die verschiedenen Formen der Gewährung eines Kautionsdarlehens informiert worden. Das entsprechende Formular sei ihr bereits vorangekreuzt übergeben worden. So sei der Eindruck vermittelt worden, ein entsprechendes Darlehen sei nur unter der Bedingung der ratenweisen Einbehaltung zu gewähren. Vor diesem Hintergrund sei die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes notwendig gewesen.

Die Kläger beantragen,
1. den Beklagten unter Abänderung der Kostenentscheidung des Abhilfebescheides der Stadt Göttingen vorn 23. Juli 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2010 dem Grunde nach zu verurteilen, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung entstandenen notwendigen Aufwendungen der Kläger für das Widerspruchsverfahren in vollem Umfang zu erstatten.
2. die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für erforderlich zu erklären.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die angefochtene Kostenentscheidung für rechtmäßig.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kostenentscheidung in dem Abhilfebescheid der Stadt Göttingen vom 23. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 27. September 2010 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben Anspruch auf die vollumfängliche Erstattung der ihnen in dem zugrundeliegenden Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen (hierzu 1.). Zudem war die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes erforderlich (hierzu 2.).

Gemäß § 63 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sind, soweit ein Widerspruch erfolgreich war, dem Widerspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendung zu erstatten. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind erstattungsfähig, wenn die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war, § 63 Abs. 2 SGB X.

1. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. Juni 2010 war vorliegend erfolgreich, da ihm mit Bescheid vom 23. Juli 2010 abgeholfen wurde. Vor diesem Hintergrund hatte die Kostengrundentscheidung zunächst einmal zugunsten der Kläger zu ergehen. Hiervon zu unterscheiden ist die Entscheidung über die Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes (hierzu 2.). Über Letzteres ist im Falle des (teilweisen) Erfolges eines Widerspruchs gesondert zu entscheiden.

2. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes war vorliegend erforderlich.

Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts ist danach zu beurteilen, ob ein Widerspruchsführer es für erforderlich halten durfte, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützt zu werden. Dies beurteilt sich nicht aus subjektiver Sicht des Widerspruchsführers sondern aus der Sicht eines verständigen Beteiligten, der bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Es kommt darauf an, ob vorn Standpunkt einer vernünftigen Person ohne spezielle Rechtskenntnisse in der gegebenen Konstellation die Zuziehung eines Rechtsbeistandes geboten gewesen wäre. Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt, in dem die mit Aufwendungen verbundene Handlung vorgenommen worden ist (vgl. BSG Urteile vom 20.10.2010 – B 13 R 15/10 R = juris Rn 25 u. vom 20.11.2001 – B 1 KR 21/00 R = juris Rn 16). Die Notwendigkeit ist zu bejahen, wenn das Widerspruchsverfahren rechtlich oder tatsächlich nicht einfach ist oder auch bei einfachen Fällen der Widerspruchsführer ohne den Bevollmächtigten hilflos wäre (Roos aaO, Rn 26). Die Notwendigkeit ist nach der wohl herrschenden Meinung grundsätzlich zu bejahen, da der Bürger nur in Ausnahmefällen in der Lage sein wird, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren (Roos aaO m.w.N.).

Vorliegend durften es die Kläger für erforderlich halten, sich im Widerspruchsverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützen zu lassen. Denn zum einen lagen dem Widerspruchsverfahren rechtliche Fragestellungen zugrunde. Deren Beurteilung ist einem juristischen Laien grundsätzlich weder möglich noch zuzumuten. Hierbei kann auch dahingestellt bleiben, ob die Klägerin zu 1. durch die Stadt Göttingen über die verschiedenen Rückzahlungsmodalitäten telefonisch belehrt wurde. Denn auch wenn man eine vollständige Belehrung über die in dem übersandten Formular enthaltenen Rückzahlungsmodalitäten unterstellt, versetzte dies die Kläger jedenfalls nicht in die Lage, ihre Recht in ausreichender Weise selbst wahrzunehmen. Die – unterstellte – Belehrung war in jedem Fall fehlerhaft, was für einen juristischen Laien nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Die Fehlerhaftigkeit ergibt sich daraus, dass die Rückzahlung in monatlichen Raten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich einer Rechtsgrundlage entbehrt. Insoweit wird Bezug genommen auf das Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 26/10 R:

„4) Die zulässige Revision ist nicht begründet Die angefochtene Verfügung des Beklagten zur Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Einbehaltung von 10 vH bzw – ab 1.8.2008 – 5 vH der dem Kläger laufend zustehenden Regelleistung war aufzuheben. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass dem Kläger in der Zeit vom 1.3.2008 bis 31.8.2008 SGB 11-Leistungen in der mit dem Bewilligungsbescheid vom 4.3.2008 bewilligten Höhe ohne Einbehaltung von Teilbeträgen zur Tilgung des dem Kläger gewährten Darlehens zu zahlen sind.

Die vorgenommene Einbehaltung war rechtswidrig, weil ein Rechtsgrund hierfür zumindest in dem hier streitigen Zeitraum nicht vorhanden war Der Beklagte kann sich nicht auf die Regelungen zur Aufrechnung in § 51 SGB I berufen, weil es unter Berücksichtigung der Höhe der laufenden SGB II-Leistungen an deren Pfändbarkeit fehlt Auf § 23 Abs 1 Satz 3 SGB 11, der als Ausnahmeregelung ein über § 51 SGB I hinausgehendes Aufrechnungsrecht des Grundsicherungsträgers enthält, kann die Einbehaltung gleichfalls nicht gestützt werden, weil sich diese Norm ausdrücklich nur auf Darlehen für unabweisbare Bedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht. Eine analoge Anwendung des § 23 Abs 1 Satz 3 SGB II ist nicht möglich, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Auch aus der von dem Beklagten vorformulierten und erwirkten Erklärung des Klägers vom 25.2.2008 ergibt sich keine Berechtigung zur Tilgung des Mietkautionsdarlehens aus der laufenden Regelleistung, weil ein Verzicht auf diese existenzsichernden Leistungen jedenfalls eine Umgehung von Rechtsvorschriften iS des § 46 Abs 2 SGB I darstellen würde.

Ob eine Umgehung von Rechtsvorschriften vorliegt, ist im Sozialrechtsverhältnis zwischen Leistungsberechtigtem und Sozialleistungsträger anhand von Sinn und Zweck der jeweiligen Rechtsvorschriften sowie deren Systematik zu beurteilen. Bei einem hier von dem SGB II-Träger erwirkten Verzicht handelt es sich um den nicht zulässigen Versuch, unter Absehen von den speziellen Voraussetzungen und Grenzen des § 51 SGB 1 die nicht zulässige Aufrechnung von laufenden, das Existenzminimum sichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu umgehen.“

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes die maßgebliche Grenze von EUR 750,00 nicht übersteigt. Der Streitwert beträgt vorliegend selbst bei fiktiver Ansetzung einer Höchstgebühr für die anwaltliche Tätigkeit im Widerspruchsverfahren nach Nr. 2400 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) lediglich maximal EUR 642,60 (Geschäftsgebühr, Nr. 2400 W RVG, EUR 520,00 zzgl. Post- und Telekommunikationspauschale, Nr. 7002 VV RVG, EUR 20,00 zzgl. 19% Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG, EUR 102,60). Ein Grund für die Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 2 SGG ist vor dem Hintergrund der zitierten Literaturansichten, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (vgl. Urteil vom 21. März 2004 – L 3 KA 89/01) sowie mangels ersichtlicher abweichender obergerichtlicher Entscheidungen zur Frage, ob gegen in einem Widerspruchsbescheid enthaltene Kostenentscheidungen eine Klage oder vorab ein Widerspruchsverfahren zulässig ist, nicht ersichtlich.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.