Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 49/2012

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 29.11.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 6/12 R

Für die Aufhebungsverfügung kommt als Rechtsgrundlage nur § 45 und nicht § 48 SGB X in Betracht

Dies gilt dann, wenn zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des bewilligenden Verwaltungsakts bereits objektiv Umstände vorliegen, die einen zukünftig wechselnden Einkommenszufluss nahe legen (etwa weil ein Arbeitsverhältnis besteht), so hat der Leistungsträger eine lediglich vorläufige Regelung iS des § 328 SGB III zu treffen.

Unterlässt er dies – aus welchen Gründen auch immer – ist eine endgültige Bewilligung von Leistungen von Anfang an rechtswidrig und § 45 SGB X ist als maßgebliche Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in die (ggf unanfechtbar gewordenen) Rechtspositionen der Leistungsberechtigten heranzuziehen.

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1.2 – BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 36/12 R –

Lebt ein Hartz IV- Bezieher mit seiner nicht hilfebedürftigen Mutter zusammen in einem Eigenheim, kann das Jobcenter ausnahmsweise zur Übernahme der vollen Nebenkosten verpflichtet sein.

Dies ist dann der Fall, wenn das Kind das Eigenheim von seinen Eltern vorab als Erbe übertragen bekommen hat und es dafür im Gegenzug mietfreies Wohnen vertraglich zugesichert hat.

Somit waren ausnahmsweise beim Zusammenleben mehrerer Personen in einer Wohnung die KdU nicht nach der Kopfteilmethode aufzuteilen.

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Anmerkung:
Nur wenn eine wirksame vertragliche Abrede nicht vorliegt, gilt hilfsweise das Kopfteilprinzip (BSG, 18. Juni 2008, B 14/11b AS 61/06 R).

1.3 – BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 161/11 R

Nicht gezahlte Untermiete an den Hartz IV -Empfänger stellt kein zu berücksichtigendes Einkommen dar.

Die Berücksichtigung einer fiktiven Einnahme als bedarfsmindernd ist nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist nur eine tatsächlich zugeflossene Einnahme als bereites Mittel geeignet, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken.

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Anmerkung:
Ebenso BSG, Urteil vom 2. Juli 2009 – B 14 AS 75/08 R

1.4 – BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 33/12 R

Ist eine Einmalzahlung(Steuererstattung) sofort wieder ausgegeben worden, darf das Jobcenter bei einem Folgeantrag deshalb nicht einfach die Hilfeleistung kürzen.

Der Grundsicherungsträger ist immer verpflichtet, das Existenzminimum sicherzustellen, selbst wenn die Einmalzahlung eigentlich einkommensmindernd angerechnet werden müsste.

Der Grundsicherungsträger kann nur bei sozialwidrigem Verhalten zu viel gezahlte Leistungen wieder zurückfordern.

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Anmerkung:
Zur Erbschaft – ebenso LSG NRW, Urteil vom 19.07.2012, – L 7 AS 1155/10, Revision anhängig beim BSG unter dem Az.: B 14 AS 76/12 R

2.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 02.11.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG, Urteil vom 02.11.2012 – B 14 AS 97/11 R

Bei erfolgreichem Widerspruch gegen die Mahngebühr(welcher ein Verwaltungsakt iS des § 31 SGB X (vgl schon BSGE 108, 229 = SozR 4-4200 § 44b Nr 3) ist), der Bundesagentur für Arbeit, müssen die Anwaltskosten übernommen werden.

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3.   Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 15.11.2012 zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – BSG, Urteil vom 15.11.2012 – B 8 SO 6/11 R

Regelmäßig keine Dreimonatsverhütungsspritzen auf Kosten des Sozialhilfeträgers

Die Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung, dass vom Amt verordnete empfängnisverhütende Mittel nur bis zum 20. Lebensjahr finanziert werden (§ 24a SGB V), begrenzt in gleicher Weise die Hilfen zur Gesundheit im Sozialhilferecht (SGB XII); die Kosten dafür werden vom Regelsatz als Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt erfasst.

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4.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 20.09.2012 zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – BSG, Urteil vom 20.09.2012, – B 8 SO 15/11 R

Kein Einbau eines Aufzugs im Haus der Eltern eines schwerbehinderten Kindes auf Kosten des Sozialhilfeträgers bei vorhandenem Vermögen – Keine Anwendbarkeit des § 92 Abs 2 S 1und 2 SGB 12

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4.2 – BSG, Urteil vom 20.09.2012 – B 8 SO 4/11 R

Keine abweichende Festlegung des Regelbedarfs unter Abzug einer Möblierungspauschale.

Unterliegt das Ob der Deckung eines Bedarfs also der individuellen Entscheidung des Leistungsempfängers, ist aber auch aus rechtlichen Gründen eine abweichende Festlegung des Regelsatzes nicht möglich (Gutzler in jurisPK-SGB XII, § 27a SGB XII RdNr 98; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl 2012, § 27a SGB XII RdNr 31). Derartigen Unwägbarkeiten soll die Pauschalierung des Regelsatzes gerade Rechnung tragen (so schon BSGE 99, 252 ff RdNr 28 = SozR 4-3500 § 28 Nr 3).

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5.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

5.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 1.10.2012 – L 7 AS 3836/12 ER-B

Die Leistungen des SGB 2 – auch das den Lebensunterhalt sichernde Arbeitslosengeld II – stellen keine reine Sozialhilfeleistung i.S.d. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG dar. Die Zulässigkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist an den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für die Gleichbehandlung im Zugang zu finanziellen Leistungen für Arbeitsuchende zu messen.

Es spricht viel dafür, dass die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht uneingeschränkt auf freizügige Unionsbürger anzuwenden ist. Es spricht viel dafür, dass der unbefristete Leistungsausschluss für die gesamte Zeit der Arbeitsuche des Unionsbürgers, wie in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorgesehen, mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist.

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5.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 7.11.2012 – L 3 AS 5600/11

Hat der Grundsicherungsträger kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten und kann ein solches auch nicht ermittelt werden, ist auch auf den seit 01.01.2009 zugrunde zu legenden Höchstbetrag der Tabellenwerte zu § 12 WoGG ein Zuschlag von 10 % vorzunehmen.

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5.3 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 7.11.2012 – L 3 AS 5162/11

1. Ein Bedarf für die Erstausstattung einer Wohnung kann auch entstehen, wenn ein Umzug zwar nicht vom Grundsicherungsträger veranlasst wurde (vg. BSG, Urt. v. 01.07.2009, B 4 AS 77/08 R, Rn. 14 f.), jedoch – hier wegen der Geburt eines Kindes – aus objektiven Grunden notwendig war.

2. Dieser Bedarf umfasst jedoch nur solche notwendigen Einrichtungsgegenstände, die entweder schon in der alten Wohnung gefehlt hatten oder die zwar vorhanden waren, aber allein durch den Umzug unbrauchbar geworden sind.

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6.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

6.1 – Sozialgericht Freiburg, Urteil vom 21.09.2012 – S 17 AS 4185/11

Festsetzung der Basismiete als Mietobergrenze durch die Stadt Freiburg ist rechtmäßig

Über die Festsetzung der Angemessenheitsgrenze für den Bereich der Stadt Freiburg i. Br. wurde bereits bis zum Bundessozialgericht gestritten. Als Reaktion auf dessen Urteil vom 13.04.2011 (Az. B 14 AS 106/10 R) beschloss der Gemeinderat am 13.12.2011, als Mietobergrenze bis auf weiteres die Durchschnittsmiete nach dem Freiburger Mietspiegel (dort als “Basismiete” bezeichnet) als Angemessenheitsgrenze heranzuziehen. Danach beträgt etwa die Mietobergrenze für eine alleinstehende Person 364,95 Euro (8,11 Euro x 45 m2).

www.sg-freiburg.de

Anmerkung:
BSG, Urteil vom 13.4.2011 – B 14 AS 106/10 R zur Stadt “Freiburg”

Liegt ein qualifizierter Mietspiegel, der in einem wissenschaftlich gesicherten Verfahren aufgestellt wurde, der Bestimmung des angemessenen Quadratmeterpreises für die Kaltmiete zugrunde und wird entweder der Durchschnittswert dieses Mietspiegels angewandt oder können dem Mietspiegel Aussagen zur Häufigkeit von Wohnungen mit dem angemessenen Quadratmeterpreis entnommen werden, kann davon ausgegangen werden, dass es in ausreichendem Maße Wohnungen zu diesem abstrakt angemessenen Quadratmeterpreis im örtlichen Vergleichsraum gibt.

6.2 – SG Düsseldorf, Urteil vom 18.10.2012 – S 10 AS 87/09

Ausgezahlte Urlaubsabgeltung ist kein anrechenbares Einkommen, sondern eine zweckbestimmte Einnahme.

Die Urlaubsabgeltung diene einem anderen Zweck als das Arbeitslosengeld II. Während Letzteres als staatliche Existenzsicherung den Lebensunterhalt des Begünstigten gewährleisten soll, diene die Urlaubsabgeltung allein dazu, den (vormaligen) Arbeitnehmer für die aus betrieblichen Gründen entgangenen Urlaubsfreuden zu entschädigen. Die Urlaubsabgeltung sei daher mit einer Entschädigungszahlung zu vergleichen, die den Empfänger finanziell in die Lage versetzen solle, die verpasste Erholungsphase durch anderweitige Aktivitäten (Restaurantbesuche, Wellness oder Ähnliches) nachzuholen. Um diesen Zweck nicht zu unterlaufen, sei die Urlaubsabgeltung nicht auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen.

www.juris.de

6.3 – Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 13.11.2012 – S 4 AS 466/11

Vereinbarung eines Verwertungsausschlusses bei einer Lebensversicherung ist keine Pflichtverletzung im Sinne des SGB II.

www.mjv.rlp.de

7.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

7.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 7.11.2012 – L 7 SO 4186/12 ER-B

1. Ein Anspruch auf eine Integrationsbegleitung kann sich nach § 54 Abs. 1 SGB XII für ein geistig behindertes Kind auch dann im Rahmen einer inkludierenden Beschulung in einer Regelschule ergeben, wenn dabei pädagogische Aufgaben übernommen werden, die der Schulträger nicht erbringt. Entscheidend ist, dass die Hilfeleistung nicht ausschließlich oder weit überwiegend den Kernbereich der pädagogischen Arbeit des Lehrers/der Lehrerin umfasst.

2. Aufgrund des sozialhilferechtlichen Faktizitätsprinzips reicht es aus, dass feststeht, dass der Schulträger den notwendigen Bedarf nicht aus eigenen Mitteln erbringt. Ob er dazu verpflichtet ist, ist unerheblich. Ggf. muss der Sozialhilfeträger mittels Überleitungsanzeige beim Schulträger Rückgriff nehmen (BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 8 SO 30/10 R -).

3. Der Sozialhilfeträger hat die auf dem schulrechtlichen Wahlrecht beruhende Entscheidung der Eltern für eine inkludierende Beschulung zu respektieren (BVerwGE 130,1). Die Aufnahme in eine Sonderschule kann weder unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit noch des Nachranggrundsatzes oder des Mehrkostenvorbehalts verlangt werden, soweit das Kind aus schulrechtlicher Sicht in der Regelschule angemessen beschult wird.

8.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

8.1 – Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 15.11.2012 – S 1 SO 2516/12

Ein Guthaben aus einer Nebenkostenerstattung ist im Zuflussmonat in voller Höhe auf die Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anzurechnen, soweit dadurch die Hilfebedürftigkeit nicht vollständig entfällt.

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9.   Entscheidung zum Asylrecht

9.1 – Sozialgericht Potsdam, Urteil vom 04.10.2012 – S 20 AY 8/09

Anspruch auf Mehrbedarf für Ernährung bei Diabetes mellitus II von 45 EUR monatlich, wenn die Leistungen nach § 1a AsylbLG auf 158,50 EUR gekürzt waren und der Betroffene wegen Diabetes mellitus II eine Vollwerternährung einhalten muss.

Quelle: RA Volker Gerloff
www.aufenthaltundsoziales.de

10.   Böckler Impuls Ausgabe 19/2012 – Sozialpolitik: Bedarfsgemeinschaft unzeitgemäß

Sozialpolitik: Bedarfsgemeinschaft unzeitgemäß

Das deutsche Sozialmodell entwickelt sich widersprüchlich: Zwar sollen nun Männer und Frauen erwerbstätig sein. Die sozialrechtliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft geht jedoch weiterhin von einem traditionellen Familienbild aus – zum Leidwesen der meisten Paare.

Weiter: Bedarfsgemeinschaft unzeitgemäß – Hans-Böckler-Stiftung
www.boeckler.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de