1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 11.12.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – BSG, Urteil vom 11.12.2012 – B 4 AS 44/12 R
Die in den Wohnraumfördervorschriften der Länder vorgesehenen Erhöhungen der Wohnungsgröße wegen personenbezogener Merkmale fließen nicht in die Bestimmung des abstrakt angemessenen Mietzinses ein (hier Alleinerziehendenzuschlag; Fortführung der Entscheidung des 14. Senat des BSG vom 22.8.2012 – B 14 AS 13/12 R).
Derartige Merkmale sind ausschließlich bei der konkreten Angemessenheit – im Rahmen der Kostensenkungsobliegenheit – zu berücksichtigen.
Kosten der Unterkunft nach dem SGB 2 können nur dann nach der Wohngeldtabelle unter Berücksichtigung eines Zuschlags in Höhe von 10 vH festgesetzt werden, wenn ein Ausfall der Ermittlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die abstrakt angemessenen Unterkunftskosten für den konkret bestimmten Vergleichsraum festgestellt worden ist(ebenso BSG Urteil vom 22.3.2012 – B 4 AS 16/11 R).
Anmerkung:
BSG; Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 13/12 R
Alleinerziehende haben keinen Anspruch auf einen Wohnflächenmehrbedarf von zehn Quadratmetern, denn die angemessene Wohnfläche für Hartz-IV-Empfänger richtet sich grundsätzlich nach der Zahl der Bewohner.
1.2 – BSG, Urteil vom 11.12.2012 – B 4 AS 27/12 R
Spesen des Fernfahrers sind anrechenbares Einkommen im SGB II, es handelt sich hierbei nicht um zweckbestimmte Einnahmen.
Soweit § 6 Abs 3 Alg II-V(in der ab 01.01.2008 gültigen Fassung) die Berücksichtigung höherer tatsächlicher Verpflegungsmehraufwendungen bei mindestens 12-stündiger Abwesenheit ausschließt, überschreitet sie den Rahmen der Verordnungsermächtigung des § 13 Nr 3 SGB II.
Es mangelt an einer Öffnungsklausel.
Da andererseits dem Begriff der Notwendigkeit inne wohnt, dass extrem hohe und damit nicht notwendige Aufwendungen nicht durch den Steuerzahler zu finanzieren sein sollen, sind § 6 BRKG iVm § 4 Abs 5 EStG zur Begrenzung der zu übernehmenden tatsächlichen Aufwendungen heranzuziehen.
Die dortigen Werte bilden die Obergrenze für nachgewiesene höhere Verpflegungsaufwendungen.
Notwendige Aufwendungen anderer Art – Übernachtungs- oder sonstige Reisenebenkosten – können darüber hinaus nach § 11 Abs 2 S 1 Nr 5 SGB II – soweit sie nachgewiesen worden sind – ggf vom Einkommen abgesetzt werden.
1.3 – BSG, Urteil vom 11.12.2012 – B 4 AS 29/12 R –
Kein Anspruch auf ALG II, wenn verwertbares Vermögen in Gestalt einer Lebensversicherung ohne einen Verwertungsschutz iS des § 12 Abs 2 und 3 SGB II vorlag.
Im SGB II ist ein Verwertungsschutz im Falle einer besonderen Härte nach § 12 Abs 3 S 1 Nr 6 Alt 2 SGB II grundsätzlich möglich. Dies gilt auch für den Fall des fehlenden Verwertungsausschlusses nach § 165 Abs 3 VVG.
Das BSG hat wiederholt entschieden, dass Vermögen iS von § 12 SGB II nicht die Bilanz aus aktiven und passiven Vermögenswerten ist, sondern aus den vorhandenen aktiven Vermögenswerten besteht.
juris.bundessozialgericht.de
Anmerkung:
Das Vermögen erfasst nur die aktiven Vermögenswerte, die auch zur Sicherung des Lebensunterhaltes eingesetzt werden können (BSG Urteil vom 15.04.2008 – B 14/7b AS 52/06 Rn 39; Löns in Löns/Herold/Tews SGB II 3. Aufl. § 12 Rn 6).
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – Landessozialgericht Hessen, Beschluss vom 06.11.2012 – L 6 AS 490/12 B
Allein die Anhängigkeit eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Regelsatzhöhe nach dem SGB II reicht nicht aus, um die Voraussetzung der Vorgreiflichkeit für eine Verfahrensaussetzung gemäß § 114 Abs. 2 S. 1 SGG (analog) zu begründen (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Januar 2008, L 21 B 1167/07 R; vgl. hierzu: Thüringer LSG, Beschluss vom 29. Juli 2004, L 2 RA 461/04).
www.lareda.hessenrecht.hessen.de
2.2 – Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 20.09.2012 – L 4 AS 674/12 B ER
Sieht § 86a Abs. 1 SGG vor, dass grundsätzlich eine fristgemäß erhobene Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfaltet, gilt das ebenso bei einem Versagungsbescheid nach § 66 Abs. 1 SGB I wegen Leistungen nach dem SGB II.
Anmerkung:
Ebenso Hessisches LSG, Beschlüsse vom 16. Januar 2012 – L 6 AS 570/11 B ER und 27. Juni 2011 – L 7 AS 262/10 B ER
Der Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, mit dem bestandskräftig bewilligte laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende mangels Mitwirkung entzogen werden, entfaltet aufschiebende Wirkung.
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
3.1 – Sozialgericht Chemnitz, Urteil vom 24.4.2012 – S 3 AS 3239/11 WA, rechtskräftig
Private Unfallversicherung für geistig behindertes Kind und an Störungen des Gleichgewichts und der Feinmotorik leidend ist angemessen, denn es besteht ein höheres Unfallrisiko.
Versicherungsbeiträge können generell nur vom anzurechnenden Einkommen des Arbeitslosengeld II-Beziehers abgesetzt werden, wenn sie dem Grunde und der Höhe nach angemessen sind. Die 30,00 Euro-Pauschale kann allerdings auch dann in voller Höhe abgesetzt werden, wenn die Monatsbeiträge, wie hier mit 6,31 EUR, wesentlich niedriger liegen.
www.justiz.sachsen.de
Anmerkung:
BSG, Urteil vom 10.5.2011 – B 4 AS 139/10 R
Zur Bestimmung der grundsicherungsrechtlichen Angemessenheit einer privaten Unfallversicherung für Kinder und Jugendliche ist sowohl darauf abzustellen, ob sie üblicherweise von Beziehern von Einkommen knapp oberhalb der Grundsicherungsgrenze als Vorsorgeaufwendung abgeschlossen wird, als auch, welche individuellen Lebensverhältnisse die Situation des Leistungsberechtigten prägen (Anschluss an und Fortführung von BSG vom 29.9.2009 – B 8 SO 13/08 R = BSGE 104, 207 = SozR 4-3530 § 6 Nr 1).
3.2 – Sozialgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 23.10.2012 – S 27 AS 1879/12
Bulgaren haben Anspruch auf ALG II, denn sie können sich auf das Prinzip der Gleichbehandlung gemäß Art. 4 VO 883/2004 berufen.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist gemäß den Art. 2, 3, 4 und 70 sowie Anhang X VO 883/2004 für die bulgarischen Staatsbürger auf Grund des sogenannten Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht anwendbar.
Die Leistungen des SGB II sind nicht in einen Teil der Existenzsicherung und einen Teil der Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, aufzuspalten, um die Geldleistungen nach dem SGB II als Leistungen der sozialen Fürsorge zu werten.
Anmerkung:
LSG Hessen spricht zwei Familien aus Rumänien SGB II – Leistungen zu
www.tacheles-sozialhilfe.de
3.3 – Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 06.06.2011 – S 29 AS 3996/10, anhängig beim LSG NRW unter dem AZ.: L 7 AS 1310/11
Jobcenter Wuppertal zahlt zu niedrige Unterkunftskosten für SGB II und SGB XII – Leistungsempfänger.
Stellen die Gerichte fest, dass die Kommune den Anforderungen zu dem »schlüssigen Konzept« nicht nachkommt, greifen sie u.a. auf die Wohngeldtabelle zu § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zurück. Dieser Betrag wird dann um einen Zuschlag von 10 Prozent erhöht (vgl. Beschluss LSG NRW vom 02.07.2010, L 7 AS 204/10).
Das vom Jobcenter vorgelegte Konzept und der damit ermittelte Quadratmeterpreis von 4,95 Euro genügt nicht den Anforderungen des BSG.
sozialgerichtsbarkeit.de
Anmerkung:
Siehe auch – Jobcenter Wuppertal zahlt zu niedrige Unterkunftskosten – Betroffene sollten noch im Monat Dezember 2012 einen Überprüfungsantrag stellen.
www.tacheles-sozialhilfe.de
4. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 11.10.2012 – S 4 SO 4354/11
Der Verzicht auf existenzsichernde Grundsicherungsleistungen (hier: Sozialhilfe) oberhalb der Grenzen für monatliche Darlehensaufrechnungen ist unzulässig.
Leistungsberechtigte können auch durch schriftliche Einverständniserklärung gegenüber dem Grundsicherungsträger nicht auf existenzsichernde Grundsicherungsleistungen oberhalb der gesetzlichen Grenzen für monatliche Aufrechnungen und Rückforderungen verzichten.
Das Sozialamt als an Recht und Gesetz gebundene Verwaltungsbehörde ist aufgefordert, dies in allen Verwaltungsverfahren von Amts wegen zu beachten und in der flächendeckenden Verwaltungspraxis sicherzustellen.
4.2 – SG Karlsruhe, Urteil vom 11.10.2012 – S 4 SO 4453/11
Die nach polnischem Recht allen Rentenbeziehern ab dem 75. Lebensjahr unabhängig von individueller Pflegebedürftigkeit gezahlte monatliche Pflegezulage stellt weder eine anrechnungsfreie Entschädigungsleistung i.S. v. § 82 Abs. 1 S. 1 SGB XII noch eine zweckbestimmte Leistung nach § 83 Abs. 1 SGB XII dar.
Sie ist deshalb auf die Sozialhilfe anzurechnen.
sozialgerichtsbarkeit.de
4.3 – SG Karlsruhe, Urteil vom 11.10.2012 – S 4 SO 4776/11
Ein Hilfebedürftiger hat keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Betriebs- und Unterhaltskosten für ein Kfz, wenn er nicht wegen der Behinderung zum Zwecke der Teilhalbe am Leben in der Gesellschaft ständig auf die Benutzung eines Kfz angewiesen ist.
4.4 – Sozialgericht Gotha, Gerichtsbescheid vom 12.11.2012 – S 14 SO 1019/11
Sohn muss nicht für die Bestattungskosten seiner verstorbenen Mutter aufkommen, wenn dies eine grob unbillige Härte für den Sohn darstellen würde.
Zwischen dem Sohn und seiner Mutter bestand niemals eine persönliche Beziehung. Ein familiäres Zusammenleben hat nie stattgefunden, die Mutter war Alkoholikerin und habe ihn geschlagen, vernachlässigt und verwahrlosen lassen.
Die für den damals minderjährigen Kläger(Sohn) resultierenden Folgen rechtfertigen die Annahme der groben Unbilligkeit der Heranziehung zu den Bestattungskosten in diesem Fall.
Anmerkung:
Hessisches LSG, Urteil vom 6. Oktober 2011 – L 9 SO 226/10
Bestattungskosten haben vorrangig die Angehörigen zu zahlen. Dies ist auch bei geringem familiären Kontakt zumutbar.
4.5 – Sozialgericht Aachen, Urteil vom 13.11.2012 – S 20 SO 161/11 –
Die Sozialhilfe ist gem. § 91 SGB XII als Darlehen zu gewähren, wenn es sich bei dem Miteigentumsanteil um Vermögen handelt, von dessen Einsatz die Sozialhilfe abhängig gemacht werden kann und das auch tatsächlich und rechtlich verwertbar ist.
Ist der Anspruch auf Aufhebung der Miteigentumsgemeinschaft nicht ernstlich geltend gemacht und verfolgt worden, besteht allein aus diesem Grund kein tatsächliches Verwertungshindernis; dies gilt auch dann, wenn die Aufhebung aufgrund familienhafter Rücksichtnahme nicht geltend gemacht worden ist und wird (vgl. BSG, Urteile vom 27.01.2009 B 14 AS 42/07 R und B 14 AS 52/07 R; Hessisches LSG, Urteil vom 23.03.2011 L 6 AS 382/07).
Die Verzinsung des nach § 91 SGB XII gewährten Darlehens in Höhe von 4 % pro Jahr ist nicht zu beanstanden.
5. Anmerkung von Prof. Dr. Uwe Berlit, Vors. RiBVerwG zu BVerwG 10. Senat, Urteil vom 04.09.2012 – 10 C 12/12 – Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu Deutschen; kein Verweis auf Eheführung im Ausland Anmerkung zu: BVerwG 10. Senat, Urteil vom 04.09.2012 – 10 C 12/12
Autor: Prof. Dr. Uwe Berlit, Vors. RiBVerwG
Normen: § 30 AufenthG 2004, § 6 AufenthG 2004, § 161 VwGO, Art 6 GG, Art 11 GG, § 28 AufenthG 2004, § 25 AufenthG 2004
Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu Deutschen; kein Verweis auf Eheführung im Ausland
Leitsätze
1. Die in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG getroffene Regelung zum Spracherfordernis ist auf den Ehegattennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG nur entsprechend anzuwenden.
Die verfassungskonforme Auslegung des § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG gebietet es, von diesem Erfordernis vor der Einreise abzusehen, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sind.
Dies enthebt nicht von Bemühungen zum Spracherwerb nach der Einreise.
2. Ein deutscher Staatsangehöriger darf grundsätzlich nicht darauf verwiesen werden, seine Ehe im Ausland zu führen. Das Grundrecht des Art. 11 GG gewährt ihm – anders als einem Ausländer – das Recht zum Aufenthalt in Deutschland.
3. Dies gilt gleichermaßen für den Ehegattennachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen, der eine weitere Staatsangehörigkeit besitzt.
Weiterlesen: juris – Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zu Deutschen; kein Verweis auf Eheführung im Ausland
6. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 23.02.2006 – L 4 B 33/06 SB
Vertrauensperson bei ärztlicher Begutachtung im sozialgerichtlichen Verfahren.
Weiterführend: Bericht und Urteile zur Mitnahme einer Begleitperson bei Gutachtensterminen
www.cfs-aktuell.de
Mit Rechtsanwalt Burkhard Tamm: „Die Mitnahme von Begleitpersonen zur ärztlichen Begutachtung im sozialgerichtlichen Verfahren – Ein Verstoß gegen die sozialrechtliche Mitwirkungspflicht?“
Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de