Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 27.08.2012 – Az.: S 37 AS 1354/11

URTEIL

In dem Rechtsstreit
1. xxx,
2. xxx,
3. xxx,
4. xxx,
Kläger,

Proz.-Bev.: zu 1-4:Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis xxx,
Beklagter,

hat das Sozialgericht Hildesheim – 37. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 27. August 2012 durch den Vorsitzenden, Richter H. sowie die ehrenamtlichen Richter S. und M., für Recht erkannt:

1. Der Bescheid vom 24. Januar 2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2011 wird abgeändert.

2. Der Beklagte wird verpflichtet, den Klägern auf die Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum 1. Februar 2011 bis 31. Juli 2011 monatlich weitere 17,26 €, also insgesamt 103,56 € zu gewähren.

3. Der Beklagte hat die den Klägern entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

TATBESTAND
Die Kläger begehren von dem Beklagten höhere Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die im laufenden Leistungsbezug nach SGB II stehenden Kläger wohnten im streitgegenständlichen Zeitraum in einer 96,73 qm großen Mietwohnung. Die Miete für diese Wohnung betrug 483,65 € zuzüglich 133,61 € Nebenkosten, also 617,26 € Bruttokaltmiete. Die Heizkosten beliefen sich auf 85,00 €, so dass insgesamt ein Mietbetrag in Höhe von 702,26 € zu zahlen war.

Mit Bescheid vom 24. Januar in der Fassung des Bescheides vom 23. März 2011 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 31. Juli 2011 den Klägern Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 663,38 (Februar und März 2011) bzw. in Höhe von 663,61 (April bis Juli 2011). Hierbei berücksichtigte er Unterkunftskosten in Höhe von 600,00 und übernahm sämtliche Heizkosten.

Gegen den Bescheid vom 23. März 2011 legten die Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie aus, dass es nach ihren Erkenntnissen für Göttingen keinen Mietspiegel und keine grundsicherungsrelevante valide Mietdatenbank gebe. Das Gutachten der Firma F + B sei ersichtlich nicht als grundsicherungsvalide Erhebung zur Bestimmung von Angemessenheitsgrenzen im Zuständigkeitsbereich des Landkreises Göttingen anzusehen. Daher sei bei der Berechnung der Kosten für Unterkunft und Heizung der Tabellenwert zu § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10% zugrunde zu legen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 2011 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Am 15. Dezember 2010 habe der Kreistag beschlossen, dass für Leistungsberechtigte nach dem SGB II ab dem 1. Januar 2011 neue KdU-Angemessenheitsgrenzen in Höhe der aktuellen seit dem 1. Januar 2009 geltenden Wohngeldtabelle anzuerkennen seien. Demnach sei ab dem 1. Januar 2011 für einen 4-Personen-Haushalt und einer angemessenen Wohnfläche von 85 qm im Bereich der Stadt Göttingen ein Betrag in Höhe von monatlich 600,00 € als angemessene KdU (Bruttokaltmiete) anzusetzen.

Gegen diese Entscheidung des Beklagten haben die Kläger am 8. August 2011 vor dem Sozialgericht Hildesheim Klage erhoben.

Sie beantragen,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 23. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2011 zu verurteilen, den Klägern auf die Kosten der Unterkunft und Heizung monatlich weitere 17,26 € zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
1. die Klage abzuweisen,
2. die Berufung zuzulassen

Es werde Bezug genommen auf das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 4. November 2011 zu dem Az.: S 21 AS 1011/09, aus dem sich ergebe, dass bei den Tabellenwerten zu § 12 WoGG ein Sicherheitszuschlag nicht zu gewähren sei. Ferner ergebe sich aus einer Untersuchung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung, dass die Festlegung der Angemessenheitsgrenze einen Eingriff in die Dynamik des Wohnungsmarktes darstelle, der seinerseits Folgen habe, deren Abwägung Teil des Entscheidungsprozesses sein müsse. Werde die Angemessenheitsgrenze großzügig oberhalb der Obergrenze des preisgünstigen Segments gesetzt, so verschöben sich die Verhältnisse zwischen den Nachfragegruppen: Die Bezieher von KdU würden mit einer höheren Wohnkaufkraft ausgestattet als die Niedrigeinkommensbezieher ohne Transferleistungsbezug und konkurrierten zugleich mit einem Teil der Wohnungsnachfrager im mittleren Preissegment. Eine zu großzügige Festlegung der Angemessenheitsgrenze könne daher zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Nachfragegruppen und einem preissteigernden Effekt im preisgünstigen Segment führen. Der vorliegenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne eine Tendenz gegen die Erhöhung des Tabellenwertes entnommen werden. In der Entscheidung des BSG vom 20. Dezember 2011, Az.: B 4 AS 19/11 R, habe der erkennende 4. Senat zunächst von den Tabellenwerten „zu § 8 WoGG bzw. nunmehr § 12 WoGG“ gesprochen und im Folgesatz, in dem der Sicherheitszuschlag angesprochen werde, ausdrücklich nicht mehr Bezug auf § 12 WoGG genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten und auf die Gerichtsakte Bezug genommen, die vorlagen und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 24. Januar 2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2011 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten; § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Streitgegenstand wurde zulässigerweise auf die Höhe der Kosten der Unterkunft und Heizung durch die Kläger beschränkt.

Die Kläger haben §§ 7, 19, 20, 22 SGB II Anspruch auf höhere Leistungen im streitgegenständlichen Zeitraum. Ihnen stehen insgesamt für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 30. April 2012 Unterkunftskosten in Höhe von 617,26 € anstatt der vom Beklagten bewilligten 600,00 € zu. Hieraus ergibt sich ein Anspruch auf weitere 17,26 € monatlich.

Anspruchsgrundlage für die Leistungen der Klägerin ist § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach werden die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Da der Beklagte die Kosten der Unterkunft und Heizung für die Klägerin in dem streitgegenständlichen Zeitraum in angemessener Höhe übernehmen wollte und damit von der ihm in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II eingeräumten Möglichkeit, nach einem nicht erforderlichen Umzug die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nur in bisheriger Höhe anzuerkennen, keinen Gebrauch gemacht hat, ist nur darüber zu entscheiden, wie hoch die angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung sind. Im vorliegenden Fall ergibt sich auch nichts anderes aus der Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II, wonach die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung auch bei Unangemessenheit solange anzuerkennen sind, wie es der Leistungsberechtigten nicht möglich ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermietung oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken. Die Kläger sind am 28. Oktober 2010 durch den Beklagten darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Kosten für diese Unterkunft nicht angemessen sind und von dem Beklagten nicht übernommen werden können, so dass wenigstens für den im vorliegenden Rechtsstreit streitgegenständlichen Zeitraum die Regelhöchstfrist aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II von sechs Monaten bei vorliegender Kostensenkungsaufforderung ersichtlich nicht unterschritten wurde.

Die Angemessenheit der Unterkunftskosten (Kaltmiete und kalte Nebenkosten) ist nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 18/06 R –) in mehreren Schritten zu prüfen: Zunächst bedarf es der Feststellung, welche Größe die vom Hilfebedürftigen beziehungsweise von der Bedarfsgemeinschaft gemietete Wohnung aufweist; das heißt, zu ermitteln ist die Quadratmeterzahl der im Streitfall konkret betroffenen Wohnung.

Bei der Wohnungsgröße ist jeweils auf die landesrechtlichen Richtlinien über die soziale Wohnraumförderung abzustellen. Grundlage für die Bestimmung der Wohnungsgröße ist § 10 des Gesetzes über die Wohnraumförderung vom 13. September 2001 (WoFG, BGBl. 2376). Danach können Länder in geförderten Mietwohnungen die Anerkennung von bestimmten Grenzen für Wohnungsgrößen nach Grundsätzen der Angemessenheit regeln. Hierbei erlassen die einzelnen Bundesländer Richtlinien. In Niedersachsen finden sich die Richtlinien über die soziale Wohnraumförderung (Wohnraumförderungsbestimmunen — WFB 2003). Gem. Ziffer B Nr. 11.2 dieser Bestimmungen gilt bei Mietwohnungen für vier Haushaltsmitglieder eine Wohnfläche von 85 qm als angemessen. Die von den Klägern bewohnte Wohnung ist mit einer Fläche von 96,73 qm zu groß. Es kommt daher darauf an, ob die Miete nach abstrakten Überprüfungskriterien angemessen ist.

In einem zweiten Schritt ist festzustellen, ob die angemietete Wohnung dem Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard entspricht, der sich in der Wohnungsmiete niederschlägt. Angemessen sind nämlich die Aufwendungen für eine Wohnung nur dann, wenn diese nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist. Die Wohnung muss von daher hinsichtlich der aufgeführten Kriterien, die als Mietpreis bildenden Faktoren regelmäßig im Quadratmeterpreis ihren Niederschlag finden, im unteren Segment der nach der Größe der in Betracht kommenden Wohnungen in dem räumlichen Bezirk liegen, der den Vergleichsmaßstab bildet. Als räumlicher Vergleichsmaßstab ist in erster Linie der Wohnort des Hilfebedürftigen maßgebend, weil ein Umzug in einen anderen Wohnort, der mit einer Aufgabe des sozialen Umfeldes verbunden wäre, im Regelfall von ihm nicht verlangt werden kann (vgl. BSG, Urteil v. 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R – https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/show.php?modul=esgb&id=64144 ).
Der Grundsicherungsträger hat nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ein schlüssiges Konzept zu erstellen, welches nach dem Urteil des genannten Gerichtes vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R – folgende Kriterien aufzuweisen hat:

• die Datenerhebung darf ausschließlich in dem genau eingegrenzten und muss über den gesamten Vergleichsraum erfolgen (keine Ghettobildung),
• es bedarf einer nachvollziehbaren Definition des Gegenstandes der Beobachtung, zB welche Art von Wohnungen – Differenzierung nach Standard der Wohnungen, Brutto- und Nettomiete <Vergleichbarkeit>, Differenzierung nach Wohnungsgröße,
• Angaben über den Beobachtungszeitraum,
• Festlegung der Art und Weise der Datenerhebung (Erkenntnisquellen, zB Mietspiegel),
• Repräsentativität des Umfangs der eingezogenen Daten,
• Validität der Datenerhebung,
• Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze der Datenauswertung und
• Angaben über die gezogenen Schlüsse (zB Spannoberwert oder Kappungsgrenze).

Ein solches schlüssiges Konzept existiert für den Raum Göttingen im streitgegenständlichen Zeitraum nicht.

Ein in diesem Fall heranziehbarer Mietspiegel bzw. eine Mietdatenbank i. S. von §§ 558c u. 558d des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) liegt für Hildesheim ebenfalls nicht vor.

In Gemeinden, in welchen kein Mietspiegel vorhanden ist, ist es zulässig, auf die rechte Spalte der Wohngeldtabelle abzustellen, wenn dem Gericht für den örtlichen Wohnungsmarkt keine weiteren Erkenntnisquellen oder Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (vgl. BSG, Urteil vom 20. August 2009 – B 14 AS 65/08 R; Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R und LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. April 2007 – L 7 AS 494/05). Die tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen sind bis zur Höhe der durch einen Zuschlag maßvoll erhöhten Tabellenwerte im Sinne von § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) zu übernehmen (BSG, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13. September 2010 – L 11 AS 1015/10 B ER und vom 13. Juli 2010 – L 7 AS 1258/09 B ER). Der Zuschlag beträgt 10 Prozent, da wegen des fehlenden schlüssigen Konzepts nicht mit Sicherheit beurteilt werden kann, wie hoch tatsächlich die angemessene Referenzmiete war (BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7 AS 18/06 R). Dieser Sicherheitszuschlag ist auch auf die Wohngeldtabelle zu § 12 WoGG zu gewähren (vgl. BSG, Urteile vom 19.10.2010 — B 14 AS 15/09 R -, und vorn 17.12.2009 — B 4 AS 50/09 R – Rn. 27., zitiert nach juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 04.01.2012 – L 11 AS 635/11 B ER -, vom 21.11.2011 – L 11 AS 1063/11 B ER -, vom 0727.2011 — L 9 AS 411/11 B ER – und vom 13.07.2010 – L 7 AS 1258/09 B ER).

Göttingen gehört nach den Zuordnungsmerkmalen der Tabelle zu § 12 WoGG zu den Gemeinden mit Mieten der Stufe 4. Für einen 4-Personen-Haushalt ist ein Höchstbetrag einschließlich Nebenkosten ohne Heizung von 600,00 € monatlich vorgesehen. Bei Erhöhung des Wertes um 10% ergibt sich ein Wert von 660,00 €. Die Kläger haben daher einen Anspruch auf Übernahme der tatsächlich von ihnen zu tragenden Unterkunftskosten in Höhe von monatlich 617,26 €, also auf weitere 17,26 € monatlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung war hier nicht zuzulassen.

Gemäß § 143 i. V. m. § 144 Abs. 1 SGG ist der für die Berufung erforderliche Beschwerdewert von 750,- € nicht erreicht.

Aus der insoweit ersichtlichen Rechtsprechung der Obergerichte ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob auch auf die Werte der Tabelle zu § 12 WoGG ein Sicherheitszuschlag in Höhe von 10 Prozent zu gewähren ist, keine grundsätzlich abweichende Entscheidung (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG) und es ist auch nicht von einer klärungsbedürftigen Frage auszugehen (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG), weil die Kammer der Auffassung ist, dass es ausreichend Anhaltspunkte dafür gibt, wie die konkret aufgeworfene Frage zu beantworten ist (vgl. zu diesem Kriterium BSG, Urteil vom 25. Mai 2011 – B 4 AS 29/11 B).

Auf die bereits zitierten Entscheidungen wird insoweit verwiesen (vgl. insbesondere BSG, Urteil vom 17.12.2009 — B 4 AS 50/09 R – Rn. 27. und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.11.2011 – L 11 AS 1063/11 B ER – Rn. 24 – jeweils zitiert nach juris.de).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.