Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 22/2013

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 11.12.2012 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 11.12.2012 – B 4 AS 27/12 R

Steuerfreie Spesenzahlung des Arbeitgebers ist als Einkommen im Sinne des SGB II zu berücksichtigen.

Es handelt sich hierbei nicht um zweckbestimmte Einnahmen auf privatrechtlicher Grundlage, die nach der Rechtslage bis zum 31.3.2011, wenn ein privatrechtlicher Verwendungszweck vereinbart war, ggf unberücksichtigt bleiben konnten (vgl aber die nunmehr geänderte Fassung des § 11a Abs 3 SGB II idF ab 1.4.2011; BT-Drucks 17/3404 S 94).

Verpflegungsmehraufwendungen können vom Einkommen bis zur Obergrenze gem § 6 BRKG iVm § 4 Abs 5 EStG abgesetzt werden. Für die Zeit ab Inkrafttreten des § 6 Abs 3 Alg II-V am 1.1.2008 sind die Obergrenzen des BRKG für die allein absetzbaren tatsächlichen Verpflegungsaufwendungen bei über zwölfstündiger Abwesenheit anwendbar.

Keine Beschränkung auf Pauschbetrag des § 6 AlhiV 2008 aufgrund fehlender Öffnungsklausel.

Notwendige Aufwendungen anderer Art – Übernachtungs- oder sonstige Reisenebenkosten – können darüber hinaus nach § 11 Abs 2 S 1 Nr 5 SGB II – soweit sie nachgewiesen worden sind – ggf vom Einkommen abgesetzt werden.

juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 30.01.2013 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 37/12 R

Kein Leistungsausschluss für Ausländer während der ersten drei Monate des Aufenthalts in Deutschland bei Nachzug zu einem deutschen Ehegatten.

juris.bundessozialgericht.de

3.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24.04.2013 – L 6 AS 376/11

Zugeflossenes Kindergeld, welches als Einkommen auf die Bewilligung von SGB II-Leistungen angerechnet wurde, bleibt auch dann Einkommen, wenn die Bewilligung des Kindergeldes rückwirkend aufgehoben wird, denn die Bewilligung des Kindergeldes erfolgte ohne einen – ausdrücklichen Rückforderungsvorbehalt.

In Fällen, in denen das erwerbsfähige, unter 25-jährige Kind mit einem – eigenen Kind – in einem Haushalt zusammen lebt, bildet die erwerbsfähige, unter 25-jährige Mutter mit ihrem Kind eine Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II), nicht aber mit ihrer Mutter bzw. der Großmutter des Kindes (wie hier: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. März 2011 – L 12 AS 910/10).

sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Gleicher Auffassung – BSG, Urteil vom 23. August 2011 – B 14 AS 165/10 R ; speziell zur Rückforderung von Kindergeld: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. März 2012 – L 2 AS 5392/11).

3.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.10.2012 – L 6 U 6/10 – rechtskräftig

Kein Unfallversicherungsschutz bei eigenständiger Stellensuche

Die eigenständige Stellensuche eines Arbeitssuchenden stellt eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit dar, die nicht vom Versicherungsschutz des § 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII umfasst ist. Dies gilt auch, wenn eine Eingliederungsvereinbarung vorliegt, die eine Verpflichtung zu Stellenbewerbungen vorsieht. (Leitsatz der Verfasserin)

www.elo-forum.org

3.3 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 14.05.2013 – L 13 AS 1389/11

Das Wiederbegründen eines “”gewöhnlichen Aufenthalts”” i.S.v. § 30 Abs. 1 SGB I in Deutschland erfordert mehr als ein tage- oder stundenweise Verweilen im Bundesgebiet.

Die (teilweise) Ausnahme der Erstattung der Kosten der Unterkunft nach § 40 SGB II ist dann nicht gerechtfertigt, wenn ein Bedarf ohnehin nicht bestand.

sozialgerichtsbarkeit.de

3.4 – LSG Hessen, Beschluss vom 17.05.2013, L 9 AS 247/13 B ER

Wurden krankheitsbedingt, in einer notstandsähnlichen Konfliktsituation die vom Jobcenter zielgerichtete Mietzahlungen zum Kauf von Medikamenten zweckentfremdet, liegt bei dem nachfolgenden Antrag auf Mietschuldenübernahme im Regelfall eine Gerechtfertigkeit, weswegen die Mietschulden zu übernehmen sind.

Juris Leitsatz:
1. Bei dem Erfordernis, dass die darlehensweise Übernahme von Mietschulden „gerechtfertigt“ sein muss (§ 22 Abs. 8 SGB II) , handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wertend unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles auszulegen ist.

2. Im Falle einer krankheitsbedingt notstandsähnlichen Konfliktsituation, in der ein Hilfebedürftiger Leistungen für Kosten der Unterkunft zweckfremd für den Kauf von Medikamenten verwendet hat, kann die Übernahme von Mietschulden dennoch gerechtfertigt sein. Diese Auslegung des § 22 Abs. 8 SGB II gebietet Art. 2 Abs.1 GG iVm. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BVerfG 347/98).

3. Fehlt es an den materiellen Voraussetzungen einer fristlosen Kündigung des Mietvertrages gem §§ 543, 569 BGB, ist ein Anordnungsgrund jedenfalls nicht glaubhaft gemacht.

Quelle: Juris

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – Sozialgericht Frankfurt am Main vom 29.05.2013

Schadensersatzansprüche wie etwa ein Nutzungsausfall nach einem Verkehrsunfall werden grundsätzlich auf Hartz IV-Leistungen angerechnet.

Diese Art von Entschädigung zähle wie andere Schadensersatzzahlungen zu den Einkünften, die sich Hartz IV-Empfänger anrechnen lassen müssten. Eine Ausnahmeregelung gebe es nur im Fall von Schmerzensgeldansprüchen, da diese höchst persönliche Ansprüche seien.

www.fr-online.de

4.2 – Sozialgericht Speyer, Beschlüsse vom 31.10.2012, Aktenzeichen: S 5 AS 1617/12 ER und vom 07.05.2013, Aktenzeichen: S 5 AS 649/13 ER

Bei Bafög-förderungsfähiger Ausbildung kein Geld vom Jobcenter

Für den Ausschluss des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II kommt es allein auf die Förderfähigkeit der Ausbildung an, und zwar unabhängig davon, ob der Auszubildende tatsächlich gefördert wird.

Pressemeldung 1/2013 Sozialgericht Speyer

4.3 – Sozialgericht Osnabrück, Urteil vom 18.09.2012 – S 16 AS 191/11 -, die Berufung ist beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen unter dem Aktenzeichen L 15 AS 457/12 anhängig

Anrechnung eines Erbes als Einkommen trotz Testamentsvollstreckung möglich

Pressemitteilung des SG Osnabrück

Leitsätze (von juris):
1. Ist ein Erbe nicht befreiter Vorerbe und Testamentsvollstreckung angeordnet, so stellt die Erbschaft keine einmalige Einnahme nach § 11 Abs. 3 SGB II dar (Abgrenzung zu: BSG, Urteil vom 25.01.2012, B 14 AS 101/11 R). Die Beschränkungen der Testamentsvollstreckung stehen insoweit einer selbstbestimmten Verwertung des Erbes durch den Erben entgegen. Berücksichtigungsfähig (nach § 11 Abs. 1 SGB II) ist dann lediglich der Anspruch gegen den Testamentsvollstrecker sowie tatsächlich gezahlte Leistungen.

2. Legt die Auslegung des Testaments (§ 2084 BGB, § 133 BGB) durch detaillierte Aufzählung der zu deckenden Bedarfe eine umfassende Versorgung des Erben nahe und ist eine Begrenzung der Versorgung auf lediglich zusätzliche Leistungen (neben Leistungen nach dem SGB II) im Testament auch nicht angedeutet, so ist von einer vollen Versorgung des Erben auszugehen (Abgrenzung zu und teilweise Abweichung von: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.10.2007, L 7 AS 3528/07 ER-B).

3. Den sich aus dem Testament ergebenden Anspruch gegen den Testamentsvollstrecker hat der Leistungsempfänger durchzusetzen. Unterlässt er dies, sind die unterbliebenen Einnahmen fiktiv anzurechnen (Anschluss an: BVerwG, Urteil vom 05.05.1983, 5 C 112/81; vergleiche auch: SG Dortmund, Beschluss vom 25.09.2009, S 29 AS 309/09 ER).

4.4 – Sozialgericht Aachen, Urteil vom 23.04.2013 – S 11 AS 323/12

Bei Krankheiten, wo eine (normale) Vollkost ausreichend ist, besteht kein Anspruch auf Mehrbedarf für Ernährung.

Eine zur Reduzierung des Körpergewichts notwendige Diät verursacht nach keine Mehrkosten (vgl. dazu LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 28.02.2012 – L 9 AS 585/08).

In Bezug auf die bestehende Fettstoffwechselstörung ist eine besondere, mit höheren Kosten als (normale) Vollkost entsprechend dem Rationalisierungsschema nicht erforderlich (vgl. hierzu etwa auch LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 25.07.2012 – L 5 AS 436/10).

Vollkost ist im Hinblick auf den Diabetes keine kostenaufwändige Ernährung, die einen Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II auslösen würde. Bei diese Vollkost handelt es sich aber nicht um eine Krankenkost, sondern um eine Ernährungsweise, die sich am Leitbild des gesunden Menschen orientiert (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 14.05.2012 – L 19 AS 1237/11 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R).

Anmerkung:
Vergleiche dazu Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 05.12.2012 – L 16 AS 483/12

1. Vollkost ist keine kostenaufwändige Ernährung, die einen Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II auslösen würde.

2. Bei der Vollkost handelt es sich um die übliche Ernährung. Vollkost bezeichnet eine vollwertige Ernährung, die ohne Einschränkung alle Nahrungsbestandteile in einem ausgewogenen Verhältnis enthält und den Bedarf an Kalorien deckt.

5.   Anmerkung zu: BSG 4. Senat, Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 32/12 R

Autor: Uwe Söhngen, RiLSG

Erscheinungsdatum: 31.05.2013

Höhere Mietkosten durch Modernisierungsvereinbarung als Kosten der Unterkunft nach dem SGB II

Leitsatz: Zu den in tatsächlicher Höhe zu tragenden Unterkunftskosten gehören auch die aus einer Modernisierungsvereinbarung nach Eintritt der Hilfebedürftigkeit folgenden angemessenen Kosten der Unterkunft, ohne dass dem Leistungsberechtigten eine fehlende Vorabklärung mit dem SGB II-Träger entgegengehalten werden kann.

Quelle Juris: www.juris.de

6.   RA Helge Hildebrandt, Sozialberatung Kiel: ALG II trotz Immatrikulation

Es entspricht der gängigen Praxis des Jobcenters Kiel, ALG II erst ab dem Zeitpunkt der nachgewiesenen Exmatrikulation zu bewilligen und die Zahlungen von ALG II ab dem Zeitpunkt der Immatrikulation einzustellen. Diese ständige Verwaltungspraxis ist rechtswidrig.

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Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de