Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 01/2014

1.  Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 24.09.2013 – L 6 AS 597/13 B ER

Leitsätze (Autor)
Keine Übernahme rückständiger Stromschulden, wenn sich eine Hilfeempfängerin ein sozialwidriges unwirtschaftliches und die Möglichkeit der Selbsthilfe ignorierendes Verhalten entgegenhalten lassen muss.

Vorliegend ist nämlich ein erkennbarer Wille zur Selbsthilfe nicht einmal entfernt erkennbar. Nachdem ihr mittlerweile vier Darlehen wegen aufgelaufener weit überhöhter rückständiger Stromkosten gewährt wurden, hat die Antragstellerin ihren Strombedarf seit dem 12. Dezember 2012 nicht nur nicht gedrosselt, sondern sogar noch um rund 52 Prozent gesteigert.

Die Gesamtumstände des vorliegenden Falles lassen nur den Schluss zu, dass die exorbitanten Stromverbräuche der Antragstellerin entweder auf ihr schuldhaft perpetuiertes unwirtschaftliches Verhalten oder auf eine grundsätzlich ungeeignete, weil wegen des drastisch überhöhten Strom- bzw. Heizungsbedarfs unangemessene Wohnung zurückzuführen sind.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Ebenso – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. September 2009 – L 13 AS 252/09


1.2 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.06.2013 – L 9 AS 103/13 B ER rechtskräftig

Leitsätze (Juris)
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Versagungsbescheid nach § 66 SGB I werden von § 39 SGB II nicht erfasst und entfalten aufschiebende Wirkung.

Das “Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt” i. S. des § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II erfordert das Bestehen einer “Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft”. Für letzteres genügt eine konkludent getroffene Absprache zwischen den Partnern, wie sie die Haushaltsführung zum Wohle des partnerschaftlichen Zusammenlebens untereinander aufteilen.

Einer Wirtschaftsgemeinschaft steht nicht entgegen, dass die Partner an keinem Gegenstand in der Wohnung Miteigentum haben. Auch ein Untermietverhältnis schließt weder bei Einräumung des selbständigen noch des unselbständigen Mitgebrauchs eine solche aus. Alleine die Überlassung eines Teils der Wohnung zum selbständigen Alleingebrauch mit Vereinbarung eines Untermietzinses wäre u. U. geeignet, Indizwirkung gegen das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft zu entfalten.

Die Mitwirkungspflicht umfasst, Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen seines Partners zu tätigen, sofern feststeht, dass ihm diese zumindest ungefähr bekannt sind.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 26.11.2013 – L 11 AS 655/13 NZB

Leitsätze (Autor)
Jobcenter muss die Kosten für die vom Leistungsbezieher geforderte Vorlage von Kontoauszügen nicht erstatten.

§ 65a SGB I ist nicht analog auf die Erfüllung von Vorlagepflichten gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 3 SGB I anzuwenden. Es bestehe keine (unbewusste) Regelungslücke des Gesetzes.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Gleicher Auffassung: Bayrisches LSG, Beschluss vom 07.02.2011 – L 11 AS 960/10 NZB

1.4 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.11.2013 – L 7 AS 639/13 B ER

Leitsätze (Juris)
Nach dem Urteil des EuGH vom 19.09.2013, C 140/12 (Brey) können besondere beitragsunabhängige Geldleistungen i.S.v. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG sein. Diese Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus.

Sozialhilfeleistungen sind nach Definition des EuGH Hilfesysteme, die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse verfügt und die öffentlichen Finanzen damit belastet.

Es spricht daher einiges dafür, dass auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG und damit grundsätzlich gemäß Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ausschließbar sind.

Dieser Ausschlusstatbestand ist unionsrechtlich dahingehend einzuschränken, dass die Sozialhilfeleistungen zustehen, wenn sie nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Personen ohne tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt sind dagegen ausgeschlossen. Die bloße Meldung als arbeitslos genügt nicht.

Der Verkauf einer Obdachlosenzeitung ist keine selbständige Tätigkeit, sondern eine Form des Spendensammelns.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.09.2013 – L 19 AS 662/13

Leitsätze (Autor)
Die gesetzlich angeordnete Höhe der Aufrechnung mit 30% des maßgeblichen Regelbedarfs wird nicht für verfassungswidrig gehalten.

Die Reduzierung des Leistungsanspruchs bei Aufrechnung beruht auf verfassungsrechtlich zulässigen Gründen.

Die Dauer und die Höhe der nach § 43 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 4 SGB II im Fall von Erstattungsansprüchen, die auf einer Aufhebung oder Rücknahme von Bewilligungen gem. §§ 45, 48 SGB X beruhen, entsprechen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Höhe der Aufrechnung verletzt mit 30% des jeweils maßgebenden Regelbedarfs das Übermaßverbot nicht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Detmold, Urteil vom 28.11.2013 – S 23 AS 1295/11 Die Berufung wird zugelassen

Leitsätze (Autor)
Hilfebedürftiger kann keine höheren Leistungen für die Kosten der Unterkunft beanspruchen, denn das Konzept des Kreises Minden-Lübbecke stellt ein schlüssiges Konzept im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BSG dar.

Es folgt im Wesentlichen der Methodik, die auch für die Erstellung eines qualifizierten Mietspiegels im Sinne von § 558 d des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) angewandt wird, passt diese aber in nachvollziehbarer Weise den Erfordernissen der Ermittlung von Obergrenzen für die Kosten der Unterkunft im Grundsicherungsrecht an.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Sozialgericht Neubrandenburg, Beschluss vom 29.12.2013 – S 13 AS 1751/13 ER

Leitsätze (Tacheles- Leser)
1. Die Aufforderung an den Hilfeempfänger, eine Altersrente zu beantragen, stellt einen Verwaltungsakt dar, der eine Ermessensausübung des SGB II-Leistungsträgers notwendig macht.

2. Bei der Aufforderung gemäß § 5 Abs.3 Satz 1 SGB II handelt es sich um einen Verwaltungsakt, gegen den Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 39 Nr.3 SGB II keine aufschiebende Wirkung haben.

Vor Erlass des Aufforderungsbescheides zur Rentenantragstellung gem. § 12a SGB II sind im Rahmen der Ermessenausübung die bei der Erörterung vorgebrachten Gründe des Antragstellers zu prüfen.

Das Jobcenter genügt seiner Verpflichtung zur Ausübung des Ermessens bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht ausreichend, wenn es sich im Aufforderungsbescheid nur auf die Gesetzeslage beruft, so dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Leistungsbeziehers anzuordnen war, denn dem schriftlichen Aufforderungsbescheid muss sich die Ermessensausübung unter Auseinandersetzung mit den durch den Antragsteller vorgebrachten Gründen zu entnehmen sein.

Quelle: wird demnächst hier veröffentlicht – NEWS – Jahr 2013 – Monat Dezember – zum Link der Quelle: www.richterbank.de

Anmerkung:
Vgl. zur fehlerhaften Ermessensausübung des Jobcenters – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.09.2013 – L 28 AS 2330/13 B ER, Rz. 6.

2.3 – Sozialgericht Heilbronn, Beschluss vom 20.06.2012 – S 11 AS 1953/12 ER – (rechtskräftig)

Kein Hartz IV-Mehrbedarf für nicht notwendigen “Abholservice” der Kinder.

Eilantrag bleibt erfolglos: Können die (bei ihrer Mutter lebenden) Kinder zum Besuch ihres Vaters ohne elterliche Begleitung anreisen und holt ihr Vater sie dennoch selbst ab, kann er seine Fahrtkosten nicht als Hartz IV-Mehrbedarf geltend machen. Ansprüche der Kinder auf Fahrtkostenerstattung bleiben hiervon unberührt.

Quelle: Pressemitteilung des SG Heilbronn vom 20.06.2012, hier geht’s zur Pressemitteilung: www.sg-heilbronn.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.12.2013 – L 9 SO 485/13 B ER; L 9 SO 486/13 B rechtskräftig

Leitsätze (Autor)
Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung fehlt u.a. dann, wenn dem Antragsteller ein einfacherer Weg zur Verfügung steht, sein Rechtsschutzziel ohne gerichtliche Hilfe zu erreichen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die begründete Aussicht besteht, dass der Antragsteller die begehrten Leistungen durch zumutbare Mitwirkungshandlungen gegenüber der zuständigen Behörde erhalten kann (vgl. hierzu u.a. den Beschluss des Senats vom 23.07.2013 – L 9 SO 225/13 B ER, L 9 SO 226/13 B ; siehe auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30.10.2009 – 1 BvR 2442/09).

Zu den zumutbaren Mitwirkungshandlungen gehört nach Maßgabe von §§ 62, 65 SGB I auch die Bereitschaft, sich zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die begehrte Leistung amtsärztlich untersuchen zu lassen. Es ist nicht erkennbar, dass im Falle des Antragstellers die Grenzen der Mitwirkung im Sinne von § 65 SGB I überschritten sind. “Freie Arztwahl” hat der Antragsteller, wenn er sich von einem Arzt im Falle einer Krankheit behandeln lassen will, nicht jedoch, wenn er, wie hier, einer steuerfinanzierte Sozialleistung wünscht, deren Voraussetzungen von medizinischen Gegebenheiten abhängen, die ohne sachverständige Stellungnahme nicht festgestellt werden können. Letztlich findet hier § 200 Abs. 2 SGB VII keine Anwendung.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Speyer, Urteil vom 16.10.2013 – S 1 AL 411/12 – Die Berufung wird zugelassen.

Leitsätze (Juris)
Insolvenzgeld (InsG) Grenzgänger Europarecht

Die zur Berechnung der Höhe des InsG maßgebliche Vorschrift des § 167 Abs 2 Nr 2 SGB III, wonach vom Bruttoarbeitsentgelt ein nach deutschem Steuerrecht berechneter, fiktiver Einkommenssteueranteil in Abzug gebracht wird, verstößt bei Grenzgängern, die ihr Arbeitseinkommen aufgrund eines zwischenstaatlichen Besteuerungsabkommens in ihrem Wohnsitzstaat versteuern, nicht gegen Art 45 AEVU und Art 7 EU VO 492/11.
Die steuerrechtliche Bruttorestlohnforderung ist kein Arbeitsentgelt iSd Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vom 22.10.2008 (RL 2008/94/EG).

Der Anspruch auf die steuerliche Bruttorestlohnforderung geht jedenfalls bei Grenzgängern, die nicht im Inland steuerpflichtig sind, nicht mit Stellung des InsG-Antrages gemäß § 169 SGB III auf die BA über.

Quelle: www.mjv.rlp.de

5.   Das neue Antragsformular für die Beratungshilfe – ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt.

Es gibt ein neues Formular für die Beratungshilfe (und leider auch ein neues Formular für die Kostenfestsetzung und selbiges nochmal für die Prozesskostenhilfe). Alles ist länger und umständlicher geworden – und einiges ist unbedingt zu beachten. Hier ein paar erste Anmerkungen und Hinweis: sozialberatung-kiel.de

6. Legal Tribune Online – Die juristische Presseschau vom 3. Januar 2014 u.a. mit Hartz IV für Ausländer.

Haben arbeitslose EU-Ausländer einen Anspruch auf Hartz IV, auch wenn sie zuvor nicht in Deutschland gearbeitet haben? Diese Frage wird demnächst den Europäischen Gerichtshof beschäftigen. Wie die FAZ (Corinna Budras) schreibt, hat das Bundessozialgericht dem Luxemburger Gericht die Frage vorgelegt, ob eine Regelung aus dem Sozialgesetzbuch II, nach der die Anspruchsberechtigung solcher EU-Ausländer ausgeschlossen ist, europarechtskonform ist.

Die taz (Christian Rath) bietet einen “Faktencheck.” In Frage und Antwort-Form wird dargelegt, auf welche Sozialleistungen EU-Ausländer in Deutschland Anspruch haben. Zeit.de (Kersten Augustin/Lisa Caspari) erinnert in ihrer Übersicht daran, dass der jüngst von Union und SPD geschlossene Koalitionsvertrag einen “Passus zur Armutswanderung” enthält. Um die Akzeptanz für die Freizügigkeit innerhalb der EU zu stärken, werde die große Koalition “der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken.”

Quelle: Legal Tribune Online – Die juristische Presseschau vom 3. Januar 2014: Hartz IV für Ausländer – hier zum Beitrag: www.lto.de

7.   Die KEAs beim “Neujahrsempfang” im Jobcenter Köln-Porz – Vorsprache ohne Ausweis

Noch immer wird dort rechtswidrig auf Schildern darauf hingewiesen, dass eine “Vorsprache ohne Ausweis” nicht möglich sei. Darüber hinaus kann man dort auch die neue Hausordnung lesen. Darin wird u.a. das Verteilen von Druckschriften untersagt und das Fotografieren. Es wird auch darauf hingewiesen, dass das Hausrecht übertragen werden kann und der Sicherheitsdienst berechtigt ist, einen “Platzverweis” zu erteilen.

Also hatten sich die KEAs diverse Druckschriften und Fotoapparate geschnappt und wegen der zu erwartenden “Platzverweise” auch ein paar Plätzchen mitgenommen.

Weiter: Die KEAs beim “Neujahrsempfang” im Jobcenter Köln-Porz | Die KEAs e. V. – Kölner Erwerbslose in Aktion – hier zum Beitrag: www.die-keas.org

Anmerkung:
S.a. Sozialrechtsexperte: Anmerkung von RiSG Berlin Udo Geiger in info also 260-262 zu LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.07.2011 – L 3 AL 236/11 – Keine Unwirksamkeit der persönlichen Arbeitslosmeldung bei Vorsprache des Arbeitslosen ohne Ausweis und:

Die Fachlichen Hinweise der BA zum SGB II, § 37 SGB II / Antragserfordernis:

Identitätsprüfung
(37.13)

(…) Die Prüfung ist anhand geeigneter Nachweise (in der Regel Personalausweis, Pass mit Meldebestätigung oder Ersatzdokument) vorzunehmen. In den Fällen, in denen der Identitätsnachweis kein Lichtbild enthält, ist auf den Antragsunterlagen zu vermerken, welcher Nachweis der Identitätsprüfung zugrunde lag.

Kann der Antragsteller einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, ist er aufzufordern, dies nachzuholen. (…)

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de