Verwaltungsgericht Göttingen – Beschluss vom 04.02.2014 – Az.: 1 B 283/13

BESCHLUSS

In der Verwaltungsrechtssache
der Frau xxx,
Antragstellerin,

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, – 0579/13sva –

gegen

den Landkreis xxx,
Antragsgegner,

beigeladen:  Stadt xxx,

Streitgegenstand:
Aufenthaltserlaubnis
(Wohnsitzauflage)
hier: Antrag nach § 123 VwGO

hat das Verwaltungsgericht Göttingen – 1. Kammer – am 4. Februar 2014 beschlossen:

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung auf-gegeben, die Wohnsitznahme der Antragstellerin im Gemeindegebiet der Beigeladenen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens (1 A 287/13) bzw. bis zu einer erneuten Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin auf Aufhebung der ihr erteilten Wohnsitzauflage zu dulden.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstands wird auf 1.250,00 € festgesetzt.

Der Antragstellerin wird ab Antragstellung Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen bewilligt.

GRÜNDE
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).

Die Antragstellerin hat voraussichtlich einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids des Antragsgegners vom 04.12.2013 und auf erneute Entscheidung über ihren Antrag auf Aufhebung der ihr erteilten Wohnsitzauflage, soweit diese Auflage auch eine Wohnsitznahme im Gebiet der Beigeladenen untersagt. Rechtsgrundlage für die Erteilung einer Wohnsitzauflage ist § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, wonach Aufenthaltserlaubnisse mit Auflagen, insbesondere einer räumlichen Beschränkung, verbunden werden können. Die Beifügung einer Wohnsitzauflage steht danach im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde, welches gemäß § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich nur daraufhin überprüfbar ist, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten wurden und von dem Ermessen in einer dem Zweck entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Dabei ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Ausländerbehörde auf generelle Regelungen in Verwaltungsvorschriften bezieht, die im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG ihr Ermessen binden, soweit nicht wesentliche Besonderheiten des Einzelfalls zu einer anderen Beurteilung zwingen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.2008 – 1 C 17.07 -, BVerwGE 130, 148 ff.); dabei dürfen Ausnahmen auf atypische Sachverhalte beschränkt bleiben (BayVGH, Urteil vom 09.05.2011 – 19 B 10.2384 -, BayVBl 2012, 149 ff.).

Zwar dürfte die der Antragstellerin erteilte Wohnsitzauflage nicht gegen Art. 29 Abs. 1 i.V.m. Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) verstoßen, denn der Antragstellerin wurde durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) mit bestandskräftigem Bescheid vom 18.11.2002 kein internationaler subsidiärer Schutz nach Art. 18 i.V.m. Kapitel II und V der Richtlinie 2011/95/EU bzw. nach § 60 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 7 Satz 2 AufenthG (heute: § 4 AsylVfG), sondern nur ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) und damit lediglich „nationaler subsidiärer Schutz“ gewährt.

Die Ermessenserwägungen des Antragsgegners halten einer rechtlichen Überprüfung jedoch nicht in vollem Umfang stand. Der Antragsgegner hat sich im Wesentlichen auf die ermessenslenkende Nr. 12.2.5.2.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (AVwV) zum AufenthG vom 26.10.2009 (GMBl. 2009, S. 877) bezogen, wonach wohnsitzbeschränkende Auflagen bei Inhabern von Aufenthaltserlaubnissen nach Kapitel 2 Ab-schnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt und aufrechterhalten werden, soweit und so-lange sie Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder AsylbLG beziehen. Zwar ist nach den obigen Ausführungen zu ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften die Gefahr der Verlagerung von Sozialhilfelasten grundsätzlich ein Gesichtspunkt, der eine Wohnsitzauflage rechtfertigen kann. Vorliegend hat der Antragsgegner jedoch übersehen, dass es durch einen Umzug der Antragstellerin in das Gebiet der Beigeladenen gar nicht zu einer solchen Verlagerung kommt. Die Antragstellerin bezieht Leistungen nach dem 2. Buch des Sozialgesetzbuchs – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Träger der Grundsicherung ist gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II die Bundesagentur für Arbeit, soweit nicht für in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II im Einzelnen genannte Aufgaben die kreisfreien Städte und die Landkreise zuständig sind. Für die Aufgaben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II ist der Antragsgegner gemäß § 6a SGB II i. V. m. § 1 der Verordnung zur Zulassung von kommunalen Trägern als Träger der Grund-sicherung für Arbeitsuchende – Kommunalträger-Zulassungsverordnung – als Leistungsträger (sog. Optionskommune) zugelassen. Er ist daher in seinem Kreisgebiet umfassend für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zuständig. Die Beigeladene hat er lediglich durch eine Heranziehungsvereinbarung (in der Fassung vom 24.03.2010) zur Erfüllung der Aufgaben gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II heran-gezogen, was dazu führt, dass die Beigeladene die entsprechenden Aufgaben gemäß § 1 Abs. 5 der Vereinbarung im Namen und im Auftrag des Antragsgegners erfüllt. So-weit ihr dadurch Kosten entstehen, werden diese gemäß § 5 der Vereinbarung in An-wendung der Kommunalträger-Abrechnungsverwaltungsvorschrift abgerechnet. Die Antragstellerin erhält ihre Leistungen somit nach ihrem Umzug in das Gebiet der Bei-geladenen wie bereits zuvor vom Antragsgegner – wenn auch die Beigeladene jetzt für diesen handelt – und zu einer Verlagerung der Lasten durch die Gewährung öffentlicher Leistungen kommt es nicht. Die für die mit der Klage angefochtene Entscheidung Aus-schlag gebende Ermessenserwägung ist daher voraussichtlich nicht geeignet, den Bescheid zu tragen. Soweit der Antragsgegner zusätzlich ausführt, Wohnsitzauflagen sollten auch dazu beitragen, der Konzentrierung sozialhilfeabhängiger Ausländer und der Entstehung von sozialen Brennpunkten vorzubeugen, hat er diese allgemeine Er-wägung nicht auf den konkreten Fall der Antragstellerin übertragen und keine weiteren Ausführungen dazu gemacht, ob dieser Aspekt hier überhaupt eine Rolle spielen und gegenüber dem Interesse der Antragstellerin, ihren Wohnsitz im Bereich der Beigeladenen zu nehmen, überwiegen kann.

Die Antragstellerin kann sich auch auf einen Anordnungsgrund berufen. Es ist ihr nicht zuzumuten, das Ergebnis des Klageverfahrens abzuwarten, denn dies würde dazu führen, dass sie sich wegen ihrer Wohnsitznahme im Bereich der Beigeladenen ordnungswidrig verhalten würde bzw. im Fall eines erneuten Umzugs erhebliche Kosten zu tragen hätte.

Der im Klageverfahren angefochtene Bescheid wird daher voraussichtlich insoweit aufgehoben und der Antragsgegner wird zur Neubescheidung verpflichtet werden, soweit die Wohnsitzauflage sich auch auf das Gebiet der Beigeladenen bezieht. Die Kammer hat erwogen, ihn bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zur erneuten Entscheidung zu verpflichten; nach einer zunehmend verbreiteten Auffassung in Rechtsprechung und Literatur kann auch ein Anspruch auf Neubescheidung durch eine Regelungsanordnung gesichert werden (vgl. zum Streitstand Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl. 2008, Rn. 209 ff.). Sie hat hiervon jedoch abgesehen, weil das Eilrechtsschutzverfahren – anders als der umfassendere Antrag im Klageverfahren – nur die Frage der Wohnsitznahme im Bereich der Beigeladenen betrifft und eine Verpflichtung des Antragsgegners zur nur teilweisen Neubescheidung nicht sinnvoll erscheint. Im Übrigen werden die Rechte der Antragstellerin in ausreichendem Maß gewahrt, wenn ihr die vorläufige Wohnsitznahme im Gebiet der Beigeladenen gestattet wird. Es bleibt dem Antragsgegner unbenommen, aus eigenem Entschluss eine erneute Entscheidung über den Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage zu treffen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Kosten der Beigeladenen werden nicht für erstattungsfähig erklärt, weil diese keinen Antrag gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG. Das Gericht schließt sich der Rechtsprechung des 11. Senats des Nds. Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 02.02.2010 – 11 OA 586/09 -, juris) an und bemisst das Interesse der Antragstellerin an der Anfechtung der Wohnsitzauflage im Hinblick auf das im Vergleich zum Streit um eine Aufenthaltserlaubnis geringere Gewicht für das Hauptsache-verfahren nicht mit dem Auffangwert gemäß § 52 Abs. 2 GKG, sondern mit 2.500,00 Euro. Dieser Betrag wird im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des gerichtlichen Eilverfahrens halbiert.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe bewilligt, denn ihre Rechtsverfolgung hat aus den vorstehenden Gründen Erfolg (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1ZPO).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.