Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 27.01.2014 – Az.: S 39 AS 437/12

URTEIL

In dem Rechtsstreit
xxx,
– Kläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis xxx,
– Beklagter - 

hat die 39. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2014 durch den Richter xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx für Recht erkannt: 

1.  Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 11. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2012 verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum 24. März 2010 bis 31. Juli 2010 Leistungen dem Grunde nach zu bewilligen. 

2.  Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

TATBESTAND
Die Beteiligten streiten über die nachträgliche Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) aufgrund eines sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruchs infolge einer fehlerhaften Beratung des Klägers.

Der 19xx geborene Kläger beantragte am 24. März 2010 bei dem Beklagten Leistungen nach dem SGB II. Auf Anforderung des Beklagten reichte der Kläger unter dem 06. April 2010 Unterlagen zur Prüfung des Anspruchs bei dem Beklagten ein.

Es folgte auf Anfrage eine weitere ausführliche Stellungnahme durch den Kläger mit Schreiben vom 26. April 2010. Unter dem 01. Juni 2010 und 30. Juni 2010 forderte der Beklagte weitere Unterlagen bei dem Kläger zur Prüfung des Anspruchs an. Diese und weitere Nachfragen beantwortete der Kläger unter dem 06. Juli 2010 bzw. 19. Juli 2010, wobei er weitere Unterlagen einreichte.

Anlässlich eines Termins bei dem für ihn zuständigen Sachbearbeiter des Beklagten am27. Juli 2010 erklärte der Kläger, dass er den Antrag zurücknehme. Er unterzeichnete eine von Seiten des Beklagten vorformulierte Erklärung mit dem Wortlaut „Ich ziehe meinen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II vom 23.3.10 zurück und bitte um Aushändigung meiner Girokontoauszüge.“

Unter dem 14. Februar 2011 stellte der Kläger einen Antrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zur Überprüfung des Zeitraums 24.03.2010 – 31.07.2010. Er begründete diesen damit, dass er von dem Sachbearbeiter des Beklagten falsch beraten worden sei und bei einer korrekten Beratung den Antrag nicht zurückgenommen hätte.

Mit Bescheiden vom 04. März 2011, 07. Oktober 2011 und 10. Oktober 2011 wies der Beklagte den Antrag zurück.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2012 zurück. Eine fehlerhafte Beratung habe nicht stattgefunden, der Kläger habe seinen Antrag aus freien Stücken selbstständig zurückgenommen.

Der Kläger hat am 20. März 2012 Klage vor dem Sozialgericht Hildesheim erhoben. Er ist der Auffassung, dass er einen Anspruch auf Leistungen für den Zeitraum 24.03.2010 bis 31.07.2010 habe. Der Verzicht auf die Sozialleistungen sei nicht rechtswirksam erklärt worden. Der Kläger sei nicht über die Folgen der Antragsrücknahme belehrt worden. Der Anspruch des Klägers auf die Leistungen ergebe sich aus dem sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruch. Er sei bei dem Gesprächstermin am 27. Juli 2010 von seinem Sachbearbeiter falsch beraten worden. Ihm sei mitgeteilt worden, dass er überhaupt keinen Anspruch auf Leistungen habe und es besser für ihn sei, den Antrag sofort zurückzunehmen, damit er seine Unterlagen zurückerhalte und im August einen erneuten Antrag stellen könne. Er habe in die Aussage des Sachbearbeiters vertraut. Daher habe er die Rücknahme überhaupt nur erklärt. Tatsächlich hätten ihm jedoch die Leistungen zugestanden.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 11. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2012 zu verurteilen, dem Kläger Leistungen dem Grunde nach für die Zeit vom 24. März 2010 bis 31. Juli 2010 zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt er aus, dass der Kläger den Antrag auf Leistungen am 27. Juli 2010 aus freien Stücken zurückgenommen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des . Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Zeugen xxx. Soweit es hierauf ankommt, wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 27. Januar 2014 verwiesen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 11. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

I.
Der Kläger ist im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als hätte er den am 24. März 2010 gestellten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II nicht zurückgenommen.

Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des sozialrechtlichen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm auf Grund eines Gesetzes oder konkreten Sozialrechtsverhältnisses dem Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.04.2004 – L 5 RJ 136/03).

Die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen vor.

1. Zwischen den Beteiligten bestand aufgrund des am 24. März 2010 gestellten Antrags ein Sozialrechtsverhältnis.

2. Zur Überzeugung des Gerichts hat der Beklagte eine ihm obliegende Pflicht aus diesem Sozialrechtsverhältnis verletzt. Gemäß § 14 SGB I hat jedermann Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Deren Beratungspflicht entsteht sowohl bei einem ausdrücklich an sie herangetragenen Auskunfts- und Beratungsbegehren, als auch bei einem konkreten Anlass zu einer sog. Spontanberatung (vgl. Mönch-Kalina, JurisPK-SGB I, 2. Auflage, Rn. 22f.).

Eine solche Beratung hat stattgefunden. Bevor der Kläger am 27. Juli 2010 die durch den Zeugen xxx auf dem PC gefertigte und von diesem maßgeblich formulierte Rücknahmeerklärung unterzeichnete, ist es zu einem Gespräch zwischen dem Kläger und dem Zeugen xxx gekommen. Sofern sich der Zeuge xxx an dieses Gespräch nicht mehr erinnert, stellt das Gericht hierbei auf die Angaben des Klägers ab. Es ist für die Kammer zunächst nachvollziehbar, dass sich der Zeuge xxx aufgrund vieler mit in seinen Arbeitsbereich fallender Kundengespräche nicht an jedes einzelne Gespräch erinnern kann und sich insbesondere nicht mehr an das mit dem Kläger geführte Gespräch erinnern konnte. Gleichwohl hat er bestätigt, dass Erklärungen wie die von dem Kläger abgegebene Rücknahme-Erklärung durch ihn als Sachbearbeiter im Beisein des jeweiligen Antragstellers auf dem PC formuliert werden. Es ist für das Gericht auch Situation erdenklich, bei der in einem zwischen Sachbearbeiter und Kunde stattfindenden Termin betreffend die Aufnahme einer solchen Rücknahmeerklärung das Gespräch lediglich auf den Inhalt der schriftlich festgehaltenen Erklärung reduziert ist. Vielmehr entspricht es der Lebenswirklichkeit, wenn dieser Erklärung ein Gespräch zwischen dem Erklärenden und dem die Erklärung aufnehmenden vorausgeht. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass das Gespräch die von dem Kläger dargestellten Inhalte zum Gegenstand hatte. Dass sich der Kläger an den Gesprächsinhalt vom 27. Juli 2010 im Gegensatz zu dem Zeugen xxx erinnern konnte ist vor dem Hintergrund des von ihm auf Anraten seines Prozessbevollmächtigten noch im August 2010 gefertigten Gesprächsvermerkes nachvollziehbar. Dass im Rahmen von Beratungsgesprächen grundsätzlich auch Hinweise auf die Erfolglosigkeit eines Antrags gegeben werden, hat der Zeuge xxx bestätigt.

Dass der Kläger vor dem Hintergrund einer entsprechenden Beratung durch den Zeugen xxx seinen Antrag zurückgenommen hat, steht daher zur Überzeugung der Kammer fest. Hierfür sprechen auch die Gesamtumstände und der Geschehensablauf, wie er sich aus der Verwaltungsakte ergibt: Ausweislich der Verwaltungsakte der Beklagten hatte der Kläger seit der Antragstellung am 24. März 2010 erhebliche Aufwendungen unternommen, um die angeforderten Unterlagen gegenüber dem Beklagten zu erbringen. Auf insgesamt 90 Seiten der Verwaltungsakte ist dokumentiert, dass der zuständige Sachbearbeiter des Klägers, der Zeuge xxx, von dem Kläger Unterlagen in erheblichem Umfang zum Nachweis von dessen Einkommen aus seiner selbstständigen Tätigkeit anforderte und der Kläger diese sukzessive in erheblichem Umfang beibrachte. Dass der Kläger zuletzt mit Schreiben vom 19. Juli 2010 auf Anforderung des Zeugen xxx weitere Unterlagen beibrachte, zu diesem Zeitpunkt über seinen Antrag noch immer nicht entschieden worden war und sich seine wirtschaftliche Situation ausweislich der eingereichten Gewinn- und Verlustrechnungen seit der Antragstellung im März 2010 zudem erheblich verschlechtert hatte, steht im absoluten Gegensatz zu der am 27. Juli 2010 erklärten Antragsrücknahme.

Die Kammer hält den von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderten Ablauf des Gesprächs mit dem Zeugen xxx, wonach er nur auf Veranlassung des Zeugen in dem Gespräch am 27. Juli 2010 seinen Antrag zurückgenommen hat, für nachvollziehbar. Dass der Kläger im Übrigen dringend auf die Leistungen angewiesen war und davon ausging, dass diese ihm zuständen, ergibt sich auch daraus, dass er am 02. August 2010, nur wenige Tage nach dem Gespräch vom 27. Juli 2010, einen erneuten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellte. Insofern sind auch die Angaben des Klägers, der Zeuge xxx habe ihm zur Rücknahme des Antrags geraten, damit er schnell die eingereichten Unterlagen erhalte, um ohne Verzögerung einen neuen Antrag stellen zu können, nachvollziehbar.

Die Aussage des Klägers, wonach der Zeuge xxx ihm zur Rücknahme des Antrags geraten habe, wird im Übrigen auch gestützt durch einen in der Verwaltungsakte enthaltenen Vermerk des Zeugen xxx vom 23. Juli 2010 (vgl. Bl. 105 der VerwA, Band I), in dem es zu den von dem Kläger eingereichten Unterlagen heißt: „Diese Angaben sind angesichts der Höhe des EK als Umsatzsteuer-Vorauszahlung unrealistisch. […] Zudem besteht ein Widerspruch zur Erkl. S. 92 …“. Die in diesem Vermerk zum Ausdruck kommende Skepsis betreffend den Anspruch und die hieraus ferner ablesbare ggf. notwendig werdende weitere Aufklärung der wirtschaftlichen Begebenheiten unterstützen nach Auffassung des Gerichts die Aussage des Klägers, dass der Zeuge xxx ihm zur Rücknahme des Antrags riet, weil er davon ausging, dass ein Anspruch nicht bestehen würde und eine Bescheidung mit erheblichem weiteren Zeitaufwand verbunden sein würde.

Grundsätzlich spricht die von dem in seiner Geschäftsfähigkeit nicht beschränkten Kläger unterzeichnete wirksame Rücknahme des Antrags gegen ihn. Jedoch dürfte aufgrund der Tatsache, dass der rechtsunkundige Kläger sich im Rahmen der Beantragung gegenüber dem Beklagten ausweislich der in der Verwaltungsakte befindlichen Hinweise kooperativ verhielt und sämtliche Unterlagen beibrachte erkennbar sein, dass er auf eine entsprechende Aussage des Zeugen xxx zu den Erfolgsaussichten seines Antrags vertraute und vor diesem Hintergrund den Antrag zurücknahm.

3. Der durch diese fehlerhafte Beratung verursachte Schaden liegt darin, dass der Kläger Ansprüche auf die Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vom 24. März bis 31. Juli 2010 fallen gelassen hat und erst zu einem späteren Zeitpunkt, ab 01. August 2010, Leistungen bewilligt bekommen hat. Die offenbar falsche Beratung durch den Beklagten war auch ursächlich dafür, dass der Kläger den Antrag zurücknahm. Es sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, dass das diesbezügliche Vorbringen des Klägers nicht zutrifft.

4. Der erforderliche Schutzzweckzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Nachteil ist ebenfalls gegeben. Der Zweck der dem Beklagten obliegenden Beratungspflicht ist geradezu, Antragsteller über die ihnen zustehenden Leistungen entsprechend zu beraten und in der Folge sicherzustellen, dass ihnen diejenigen existenzsichernden Leistungen bewilligt werden, die es ihnen ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 1 SGB II).

II.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Leistungen dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG).

III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.