Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 13.02.2014 – Az.: S 12 AS 890/13

URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,
– Kläger –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 E

gegen

Landkreis xxx,
– Beklagter –

hat die 12. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2014 durch die Richterin xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx für Recht erkannt:

1. Die Kostenentscheidung im Abhilfebescheid vom 18. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2013 wird abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren gegen den Bescheid der Stadt E vom 28. November 2012 notwendig war.

3. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

TATBESTAND
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten nach § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Der 19xx geborene Kläger bezieht seit Juni 2011 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von der Stadt E.

Mit Schreiben vom 23. August 2011 wies die Stadt E auf die Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB II gegenüber dem Kindergeld hin und forderte den Kläger auf, bis zum 6. September 2011 Stellung zu nehmen bzw. die erfolgte Antragstellung nachzuweisen. Sollte er dieser Aufforderung nicht nachkommen, werde er ab dem 1. Oktober 2011 so gestellt, als ob der Antrag gestellt wurde und es werde ein Betrag in Höhe des Kindergeldanspruchs bedarfsmindernd berücksichtigt werden. Da eine Reaktion des Klägers ausblieb, brachte die Stadt E bei den folgenden Leistungsbewilligungen ab Oktober 2011 einen Betrag in Höhe von 184,00 € in Abzug.

In den Folgeanträgen auf Bewilligung von SGB II-Leistungen fehlten Angaben des Klägers über den Bezug von Kindergeld. Weitere Mitteilungen der Stadt E in diesem Zusammenhang erfolgten nicht. Insbesondere auch nicht auf eine E-Mail vom 16. August 2012, mit der der Kläger im Rahmen einer erfolgten Sanktionierung mitteilte, trotz Antragstellung vor einem Jahr nach wie vor kein Kindergeld zu erhalten. Mit Schreiben vom 17. September 2012 wandte sich der Kläger erneut an die Stadt E und bat um Besprechung der Kindergeldfrage. Er habe eine Ablehnung des Kindergeldes bekommen, dennoch werde das Kindergeld von seinem Regelsatz abgezogen. Eine Reaktion der Stadt E ist nicht aktenkundig.

Mit dem hier zugrunde liegenden Bescheid vom 28. November 2012 bewilligte die Stadt E Leistungen für die Zeit von Januar bis April 2013, wiederum unter Anrechnung von 184,00 € Kindergeld.

Auf das Schreiben der Familienkasse F vom 29. November 2012, wonach Kindergeld beantragt worden sei, teilte die Stadt E anforderungsgemäß die Höhe der Leistungen für August 2011 bis Dezember 2011 mit. Gegen den Bescheid vom 28. November 2012 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2012 Widerspruch einlegen, der mit weiterem Schriftsatz vom 8. Februar 2013 dahingehend begründet wurde, dass kein Kindergeld bezogen werde und die Anrechnung daher fehlerhaft sei.

Am 4. März 2013 legte der Bevollmächtigte des Klägers den Bescheid der Familienkasse F vom 22. Januar 2013 vor, mit dem Kläger für die Zeit von August 2011 bis März 2012 ein Abzweigungsbetrag in Höhe von 186,00 € monatlich aus dem Kindergeldanspruch seiner Mutter gewährt wurde.

Mit Bescheid vom 18. März 2013 hob die Stadt E den Bescheid vom 28. November 2012 auf und bewilligte für die Zeit von Januar bis April 2013 Leistungen nach dem SGB II ohne Kürzung des Kindergeldanspruchs und erklärte sich zur Kostentragung dem Grunde nach bereit. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes sei nicht erforderlich gewesen. Dem Widerspruchsverfahren habe eine Frage der Sachverhaltsaufklärung zugrunde gelegen, die leicht zu beantworten und ohne unzumutbare Erschwernisse aufklärbar gewesen sei. Wegen der Verpflichtung der Sozialbehörden zur Beratung und Auskunft könne von ratsuchenden Personen verlangt werden, sich zunächst an die Behörde zu wenden. Erst wenn das Bemühen um die Regelung der Rechtsangelegenheit aus der von der ratsuchenden Person nicht zu vertretenden Gründen scheitert, sei die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts geboten.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2013 als unbegründet zurück. Bereits mit Schreiben vom 23. August 2011 sei der Kläger aufgefordert worden, einen Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes zu stellen und die Antragstellung nachzuweisen. Mit E-Mail vom 16. August 2012 habe er lediglich angegeben, einen Antrag gestellt zu haben, aber kein Kindergeld zu bekommen. Seiner Mitwirkungspflicht sei er erst im Widerspruchsverfahren durch Vorlage des Bescheides vom 22. Januar 2013 und von Kontoauszügen nachgekommen. Ein Erfolg des Widerspruchs im Sinne des § 63 Abs. 1 SGB X liege daher nicht vor.

Hiergegen richtet sich die Klage vom 10. Juni 2013. Unter Hinweis auf Fundstellen aus Rechtsprechung und Literatur vertritt der Kläger die Auffassung, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts entgegen der Entscheidung des Beklagten erforderlich gewesen sei. Es seien monatlich 184,00 € nicht vorliegendes Einkommen rechtswidrig angerechnet worden. Der Kläger habe im Vorfeld mehrfach darauf hingewiesen, kein Kindergeld zu erhalten. Bei einer solchen Ausgangssituation sei die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten selbstverständlich erforderlich.

Der Kläger beantragt,
die Kostenentscheidung im Abhilfebescheid vom 18. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2013 abzuändern und festzustellen, dass die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren gegen den Bescheid der Stadt E vom 28. November 2012 notwendig war.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die angefochtene Entscheidung. Da der Kläger erst mit beträchtlicher Verzögerung seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen sei, habe erst am 18. März 2013 eine Abhilfeentscheidung ergehen können. Nach Auffassung des Beklagten sei für die Beibringung von notwendigen Unterlagen die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes grundsätzlich nicht erforderlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten (1 Band), die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die zulässige Klage ist begründet. Die Kostenentscheidung im Bescheid vom 18. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2013 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten war im Vorverfahren gegen den Bescheid der Stadt E vom 28. November 2012 notwendig.

Die Frage, ob die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren notwendig war, ist vom Standpunkt einer verständigen Person aus zu beurteilen. Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf die objektive Schwierigkeit der Rechtssache an und nicht auf die individuelle Rechts- und Sachkenntnis des Widerspruchsführers, weil individuelle Kenntnisse und Erfahrungen des Widerspruchsführers vielfach für das Gericht nicht erkennbar oder jedenfalls nicht mit vertretbarem Aufwand feststellbar sind (BSG, Urteil vom 20. November 2001, Aktenzeichen B 1 KR 21/00 R).

Bei der Beurteilung der objektiven Schwierigkeit der Rechtssache darf nach der Rechtsprechung des BSG kein zu strenger Maßstab angelegt werden. Dem Gesetz sei kein Hinweis dafür zu entnehmen, dass die Erstattung der Kosten der Vertretung im Widerspruchsverfahren auf Ausnahmen beschränkt bleiben solle. Der Gesetzgeber habe dadurch, dass er die Kostenerstattung von der Notwendigkeit der Vertretung im Widerspruchsverfahren abhängig gemacht habe, lediglich zum Ausdruck gebracht, dass eine Kostenerstattung nicht stets, sondern nach der rechtlichen Schwierigkeit der jeweiligen Angelegenheit anzuerkennen sei. Es komme nach alledem darauf an, ob vom Standpunkt einer vernünftigen Person ohne spezielle Rechtskenntnisse in der gegebenen Konstellation die Zuziehung eines Rechtsbeistandes geboten gewesen wäre. Dabei sei nicht die subjektive Sicht des Widerspruchsführers maßgebend, sondern die Frage, wie ein verständiger Dritter in dessen Situation gehandelt hätte. Die Beurteilung sei nach der Sachlage vorzunehmen, wie sie sich im Zeitpunkt der Erhebung des Widerspruchs dargestellt habe (BSG, aaO.). Sofern der zugrunde liegende Sachverhalt bloß einfach gelagerte Tatsachenfragen aufwirft oder es lediglich um Fragen allgemeiner Lebenshilfe geht oder nur ein Missverständnis zwischen Behörde und Rechtsuchendem vorliegt, aufgrund dessen lediglich eine Rückfrage notwendig war, um das Missverständnis aufzuklären, kommt eine Notwendigkeit zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nicht in Betracht, weil ein Bemittelter deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 11. Mai 2009, Az. 1 BvR 1517/08). Liegt dem Sachverhalt dagegen ein konkretes rechtliches Problem zugrunde, ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts regelmäßig zu bejahen (BVerfG, aaO.).

Zunächst ist festzustellen, dass der Beklagte vorliegend nicht mit einer Verletzung und Nachholung von Mitwirkungspflichten durch den Kläger und einem daraus folgenden Misserfolg des Widerspruchs argumentieren kann. Denn hierbei handelt es sich um Erwägungen, die bei der Frage der Kostenerstattungspflicht dem Grunde nach zum Tragen kommen. Die Kostenerstattung dem Grunde nach wurde indes bereits im Abhilfebescheid vom 18. März 2013 bejaht. Hiervon streng zu trennen ist die Frage, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten erforderlich war. Allein dies ist vorliegend streitgegenständlich.

Bei Zugrundelegung der obigen Ausführungen war die Hinzuziehung des Bevollmächtigten vorliegend erforderlich. So geht aus dem Schreiben vom 23. August 2011 nicht ohne weiteres hervor, dass – auch später noch – der bloße Nachweis der erfolgten Antragstellung ausreichend ist, um eine fiktive Anrechnung von Kindergeld zu verhindern. Vielmehr wird darauf abgestellt, dass Stellung zu beziehen und/oder ein Antrag zu stellen ist. Dies lässt nach Auffassung der Kammer auch den Schluss zu, dass die bloße Mitteilung über die Antragstellung bzw. den Ausgang des Verfahrens genügen könnte. Jedenfalls besteht keine Vergleichbarkeit mit den oben genannten Fällen, in denen die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten entbehrlich ist. Vor dem Hintergrund der jedenfalls missverständlichen Belehrung musste der Kläger auf der Grundlage der E-Mail vom 16. August 2012 und des Schreibens vom 17. September 2012 und der hierauf ausgebliebenen Reaktion davon ausgehen, dass eine Anrechnung trotz Kenntnis der Behörde von dem Nichtbezug von Kindergeld erfolgen sollte. In dieser Situation ist es nachvollziehbar und legitim, dass sich ein juristischer Laie der Hilfe eines Rechtsanwaltes bedient. Der Kläger war insbesondere auch nicht gehalten, sich zum Zweck einer Auskunft und Beratung nochmals an die Stadt E zu wenden. Abgesehen davon, dass dies nach dem Ablauf der Geschehnisse zu diesem Zeitpunkt aus seiner Sicht nicht erfolgversprechend war, besteht aufgrund der immanenten Interessenkollision und zur Herstellung von “Waffengleichheit” keine Verpflichtung, sich vorrangig an die Behörde zu wenden (vgl. hierzu Roos in: von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 63 Rn. 26 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht zulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes die maßgebliche Grenze von EUR 750,00 nicht übersteigt. Der Streitwert beträgt vorliegend selbst bei fiktiver Ansetzung einer Höchstgebühr für die anwaltliche Tätigkeit im Widerspruchsverfahren nach Nr. 2400 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) a.F. lediglich maximal EUR 642,60 (Geschäftsgebühr, Nr. 2400 W RVG, EUR 520,00 zzgl. Post- und Telekommunikationspauschale, Nr. 7002 W RVG, EUR 20,00 zzgl. 19% Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG, EUR 102,60). Ein Grund für die Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 2 SGG ist nicht ersichtlich.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.