Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 20.10.2014 – Az.: S 42 AY 26/14 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis xxx,
– Antragsgegner –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 20. Oktober 2014 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter Rückforderungsvorbehalt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seine Klage S 42 AY 32/14 für die Zeit ab dem 13. August 2014 ungekürzte Grundleistungen gem. §§ 1, 3 AsylbLG unter Zugrundelegung der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Dem Antragsteller wird ab Antragstellung ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam aus Göttingen bewilligt.

GRÜNDE
Der am 13.08.2014 beim Sozialgericht eingegangene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Antragsgegner des sinngemäßen Inhalts, diesen einstweilen zu verpflichten, dem volljährigen Antragsteller, der mit seiner Mutter und Geschwistern in einem Haushalt zusammenlebt und diesen mit führt, ungekürzte Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren, ist zulässig und begründet.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf ungekürzte – in verfassungskonformer Höhe gewährte – Grundleistungen gem. §§ 1, 3 AsylbLG in Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 glaubhaft gemacht, da die vom Antragsgegner verfügte Leistungsbewilligung unter Anwendung der Regelbedarfsstufe 3 (= 80 % der Grundleistungen) nach Auffassung der erkennenden Kammer gegen Art. 3 GG verstößt und mithin rechtswidrig ist.

Die in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ausgewiesenen Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte sind die Grundlage für die Bestimmung von sechs Regelbedarfsstufen (§ 8 Abs. 1 RBEG und Anlage zu § 28 SGB XII). Sie gelten für das Leistungssystem des SGB XII und entsprechend auch für das des AsylbLG. Die Regelbedarfsstufe 1 für alleinstehende oder alleinerziehende Erwachsene im eigenen Haushalt wurde aus den Ausgaben der Einpersonenhaushalte ermittelt; die Regelbedarfsstufe 2 für Erwachsene, die als Paar zusammenleben, errechnet sich aus 90 % und die Regelbedarfsstufe 3 für Erwachsene, die weder einen eigenen Haushalt führen noch als Paar wirtschaften, aus 80 % von der Regelbedarfsstufe 1 (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3404, S. 90).

Dem vom Antragsteller im Eilverfahren geltend gemachten Anspruch steht nach Ansicht der erkennenden Kammer nicht (mehr) die Rechtsprechung des 8. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (vgl. Beschluss vom 08.04.2014, L 8 AY 57/13 B ER, Juris) entgegen. Dort hatte der Senat entschieden, dass im AsylbLG die Leistungsbemessung nach der Regelbedarfsstufe 3 jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keiner weitergehenden gerichtlichen Überprüfung unterliege. Ob eine solche Leistungsbemessung im Allgemeinen und im Leistungssystem nach dem AsylbLG im Besonderen den Maßgaben der Rechtsprechung des BVerfG entspreche, was das SG Detmold in seinem Urteil vom 23.05.2013 – S 16 SO 27/13 -, juris, verneine, bleibe der Klärung in einem ggf. folgenden Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Nunmehr hat das Bundessozialgericht (BSG) am 23.07.2014 über die Revision zum Aktenzeichen 8 SO 14/13 R entschieden. Ausweislich des den Beteiligten bekannten Terminberichts vom 24.07.2014 beantwortet das BSG die hier entscheidungserhebliche Rechtsfrage so:

“Entgegen der Ansicht der Beklagten scheidet indes die Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 bei den Leistungen für den Lebensunterhalt (§ 27a Abs. 3 SGB XII i.V.m. der Anlage zu § 28 SGB XII) für die Verstorbene nicht von vornherein mangels eigenen Haushalts aus. Vielmehr ist im Grundsatz davon auszugehen, dass erwachsenen Personen, die einen Haushalt gemeinsam führen, ohne Partner (Ehegatte, Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft oder Partner einer entsprechenden eheähnlichen bzw. Iebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft) zu sein, seit 01.01.2011 jeweils der Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 1 zusteht. Eine andere Lösung hätte einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zur Folge, weil dann jede der zusammenlebenden Personen einen Regelbedarf in Höhe von nur 80% erhielte, ohne dass zumindest eine Person – wie in den sonstigen Konstellationen des Zusammenlebens – unter die Regelbedarfsstufe 1 (100%) fiele. Insoweit hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 01.01.2011 vom früheren Modell des Haushaltsvorstands Abstand genommen. Für die Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 1 ist also nicht entscheidend, dass allein ein eigener Haushalt geführt wird, sondern es genügt ein gemeinsamer mit einer anderen Person zusammen, die nicht der Partner ist. Auch bei dieser Konstellation ist kein fremder Haushalt anzunehmen.
Damit kann Anknüpfungspunkt für eine gemeinsame Haushaltsführung beim Zusammenleben von erwachsenen Personen auch nicht die individuelle Fähigkeit der Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft sein, einen Haushalt auch ohne Unterstützungsleistung eines anderen allein führen zu können; maßgebend ist vielmehr, dass die zusammenlebenden Personen im Rahmen ihrer körperlichen und geistig-seelischen Leistungsfähigkeit an der Haushaltsführung beteiligt sind. Ansonsten würden gerade die in ihren körperlichen, geistigen und seelischen Funktionen eingeschränkten Menschen ungerechtfertigter Weise schlechter gestellt. Bedürften sie einer außenstehenden Person in Form ambulanter Betreuung, würde dies sogar zu der nicht zu rechtfertigenden Annahme führen, keine dieser behinderten Personen würde einen eigenen Haushalt führen.
Ergänzend dazu wird in § 39 Satz 1 1. Halbsatz SGB XII vermutet, dass Personen bei Zusammenleben gemeinsam einen Haushalt führen. Diese Vermutung, die nicht durch § 43 Abs. 1 2. Halbsatz bzw. § 39 Satz 3 Nr. 2 SGB XII (Nichtgeltung der – teilweisen – Bedarfsdeckung in einer Haushaltsgemeinschaft bei Grundsicherungsleistungen bzw. bei Betreuung eines behinderten bzw. pflegebedürftigen Menschen in einer Haushaltsgemeinschaft) ausgeschlossen wird, ist nicht bereits erschüttert, wenn eine Person gegenüber anderen einen geringeren Beitrag an der Haushaltsführung leistet, selbst wenn für eine umfassende Haushaltsführung notwendige Fähigkeiten fehlen. Nur wenn keinerlei eigenständige oder eine nur gänzlich unwesentliche Beteiligung vorläge, würde kein Haushalt geführt. Hierfür trüge jedoch der Sozialhilfeträger die Beweislast. Damit hat die Regelbedarfsstufe 3 für die Geldleistungen nur eine geringe praktische Bedeutung; allerdings ist ihre Anwendung – abgesehen davon, dass sie als Rechenposten bei den stationären Leistungen zur Anwendung kommt – nicht völlig ausgeschlossen.
Einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfsstufe 3 bedurfte es nicht.”

Da der Antragsteller eben nicht als Ehegatte, Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zusammenlebt, stehen ihm mithin Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 zu. Der Einwand des Antragsgegners, die Entscheidung des BSG liege noch nicht im Volltext vor, greift nach Ansicht der erkennenden Kammer nicht, da sich die Rechtsauffassung des BSG zu der strittigen Rechtsfrage bereits ohne weiteres aus dem Terminsbericht klar ergibt. Ebenso unerheblich ist es, dass die den Gegenstand der Revision darstellende Entscheidung des SG Detmold in der Sache nicht bestätigt wurde, denn dies geschah aus Rechtsgründen, die mit der hier erheblichen Rechtsfrage in keinem Zusammenhang stehen.

Dass das Bundesverfassungsgericht über die Anwendungsbreite der Regelbedarfsstufe 3 noch nicht abschließend entschieden hat, hindert die Kammer nicht an der getroffenen Entscheidung. Das BVerfG hat in seinem (am selben Tage wie die vorgenannte BSG-Entscheidung gefassten) Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 – (juris, RdNr. 100) zu den Regelbedarfsstufen ausgeführt:

“cc) Desgleichen ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Regelbedarf bei Einpersonenhaushalten und damit die Regelbedarfsstufe 1 als Ausgangswert für die Festlegung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf auch derjenigen Erwachsenen nutzt, die mit anderen ebenfalls leistungsberechtigten Erwachsenen einen gemeinsamen Haushalt führen, also die Regelbedarfsstufe 2 für zwei erwachsene leistungsberechtigte Personen als Ehegattin und -gatte, Lebenspartnerinnen oder -partner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft (§ 8 Abs. 1 Nr. 2 RBEG). Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage der Bedarfsgemeinschaften bereits entschieden, dass der Bedarf einer weiteren erwachsenen Person in einer Höhe von 80 % von dem statistisch ermittelten Bedarf der Alleinstehenden abgeleitet werden darf (vgl. BVerfGE 125, 175 <245>), da die Erhebung nach Haushalten geeignet ist, den tatsächlichen Bedarf auch für solche Lebenssituationen zu ermitteln.
Dementsprechend ist die Bestimmung des Regelbedarfs zusammenlebender und gemeinsam wirtschaftender Erwachsener in Höhe von 90 % des im SGB II für eine alleinstehende Person geltenden Regelbedarfs nicht zu beanstanden.”

Diese Rechtsprechung des BVerfG steht somit der Auffassung des BSG nicht entgegen.

Auch das weitere Argument des Antragsgegners, die Rechtsauffassung des BSG führe zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG, weil sie “unverheiratete” Zusammenlebende besser stelle als “verheiratete”, verfängt nicht. Denn die behauptete Besserstellung ist nur vordergründig, die Mehrleistungen werden nämlich durch höheren Bedarf kompensiert.

Gemäß § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Beides liegt hier vor.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.