1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 28.10.2014 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – BSG, Urteil vom 28.10.2014 – B 14 AS 39/13 R
Sozialgerichtliches Verfahren – Streitgegenstand – maßgeblicher Zeitpunkt – Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Antrag auf Überprüfung sämtlicher Bescheide der letzten Jahre auf ihre Rechtmäßigkeit ohne Darlegung von Gründen
Leitsätze (Autor)
1. Beantragt ein Leistungsberechtigter „die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide auf ihre Rechtmäßigkeit“, fehlt es an einer inhaltlichen Prüfverpflichtung des SGB II-Trägers, wenn der Sozialleistungsträger den Einzelfall, der zur Überprüfung gestellt werden soll, objektiv nicht ermitteln kann (Anschluss an BSG, Urt. v. 13.02.2014 – B 4 AS 22/13 R – und BSG, Beschluss v. 4.6.2014 – B 14 AS 335/13 B).
2. Es genügt nicht, wenn der Leistungsberechtigte – wie hier – eine Nachbesserung des bis dahin unbestimmten und nicht objektiv konkretisierbaren Antrags erst im Klageverfahren vornimmt. Für die Beurteilung, ob die formellen Erfordernisse eines solchen Antrags vorliegen, der überhaupt erst eine Prüfpflicht des Leistungsträgers auslöst, ist auf die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu diesem Überprüfungsantrag vorgetragenen tatsächlichen und/oder rechtlichen Anhaltspunkte abzustellen.
Quelle: juris.bundessozialgericht.de
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11.12.2014, L 8 AS 176/14 B PKH
Zur KdU-Richtlinie der Hansestadt Rostock
Leitsatz (Autor)
Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das der KdU-RL-HRO zugrundeliegende Konzept zur Bestimmung der angemessenen Kosten nicht den vom Bundessozialgericht aufgestellten Anforderungen entspricht, sind nicht zu erkennen (ebenso zur KdU-RL-HRO der 10. Senat des LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 9. Dezember 2011 – L 10 AS 411/11 B PKH).
Quelle: www.landesrecht-mv.de
2.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2014 – L 10 AS 2254/14 B ER – rechtskräftig
Aufforderung – Rentenantrag – vorzeitige Altersrente – Abschläge – „Kompetenz-Kann“ – intendiertes Ermessen – Härte – aufschiebende Wirkung
Leistungsbezieherin war verpflichtet, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen.
Leitsätze (Autor)
1. Das Jobcenter (JC) hat bei seiner Entscheidung nach §§ 12a, 5 Abs 3 Satz 1 SGB II Ermessen auszuüben und dessen gesetzliche Grenzen einzuhalten (§ 39 Abs 1 Satz 1 SGB I); es handelt sich bei dem „Kann“ in § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II nicht um ein so genanntes „Kompetenz-Kann“.
2. Damit korrespondierend hat der Leistungsempfänger einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I), die der richterlichen Kontrolle, insbesondere auf Ermessensnichtgebrauch, Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG) unterliegt.
3. Allerdings ergibt sich hier aus dem Regelungszusammenhang, dass dem Leistungsträger so genanntes intendiertes Ermessen eingeräumt ist. Damit sind die Abwägungs- und Begründungserfordernisse modifiziert, insbesondere ist die Höhe der zu erwartenden vorgezogenen Altersrente kein Aspekt, der im Einzelfall ermessensleitend zu prüfen und zu erläutern ist. Hier verbleiben keine Besonderheiten des Sachverhalts, die zu wägen gewesen wären und damit eine defizitäre Ermessensausübung begründen könnten.
4. § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II lenkt das dem Leistungsträger zustehende Ermessen in der Weise, dass er die Aufforderung zur Rentenantragstellung als Regel festlegt (vgl LSG BB, Beschl. v. 25. Juni 2014 – L 31 AS 800/14 B ER).
5. Danach müssen besondere Gründe vorliegen, wenn von der Aufforderung zur Rentenantragstellung abgesehen werden soll. Liegt ein vom Regelfall abweichender Sachverhalt nicht vor, versteht sich das Ergebnis der Abwägung von selbst; versteht sich aber das Ergebnis von selbst, bedarf es insoweit auch nach § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X keiner das Selbstverständliche darstellenden Begründung.
6. Nur dann, wenn dem Leistungsträger außergewöhnliche Umstände des Falles bekannt geworden oder erkennbar sind, die eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen, liegt ein rechtsfehlerhafter Gebrauch des Ermessens vor, wenn diese Umstände vom Leistungsträger nicht erwogen worden sind. Die entsprechenden Erwägungen sind dann auch in der Begründung kenntlich zu machen.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
3.1 – SG München, Beschl. v. 09.12.2014 – S 13 AS 2924/14 ER – unveröffentlicht
Meldeaufforderung ist Verwaltungsakt – keine Rechtsfolgenbelehrung – Eilverfahren unzulässig wegen erforderlichem Rechtsschutzbedürfnis
Leitsätze (Autor)
1. Bei der Meldeaufforderung handelt es sich um einen Verwaltungsakt (LSG BB, Beschl. v. 21.07.2011 – L 14 AS 999/11 B ER).
2. Kein einstweiliger Rechtsschutz gegen Meldeaufforderung, wenn diese nicht mit einer Rechtsfolgenbelehrung versehen wurde, so dass bei Nichterscheinen zum Meldetermin eine Minderung der Leistungen nach § 32 Abs. 1 S. 1 SGB II rechtlich nicht zulässig wäre.
3.2 – SG Konstanz, Beschl. v. 17.05.2013 – S 9 AS 1111/13 ER
Termin beim Jobcenter wahrnehmen ohne Reden reicht nicht aus
Leitsätze (Autor)
1. Beim Meldetermin im Jobcenter muss man nicht nur Erscheinen sondern auch mit dem Sachbearbeiter sprechen.
2. Die Meldung beim Sachbearbeiter verbunden mit der Weigerung, mit diesem zu kommunizieren, erfüllt nicht den Zweck der Meldeaufforderung. Dies ist wie ein Nichterscheinen zu werten und stellt daher eine Meldepflichtverletzung dar.
Quelle: sg-konstanz.de
Anmerkung:
Ähnlich – Bayerisches LSG, Beschluss vom 3. Januar 2011 – L 7 AS 921/10 B ER – Ein kurzes wortloses Erscheinen zum Meldetermin ist keine Erfüllung der Meldepflicht nach § 59 SGB II iVm § 309 Abs. 1 S. 2 SGB III.
3.3 – Sozialgericht Kassel, Urteil vom 22.10.2014 – S 7 AS 935/12 – Die Berufung wird zugelassen.
Zur fiktiven Anrechnung des Kindergeldes bei einer verbindlichen Weisungslage der Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit
Jobcenter dürfen Leistungsbeziehern (LB) das Kindergeld nicht fiktiv als Einkommen anrechnen, wenn es dem LB tatsächlich nicht zugeflossen ist.
Leitsätze (Autor)
1. In der mangelnden Mitwirkungshandlung gegenüber einem Dritten, hier der Familienkasse, liegt keine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II vor.
2. Eine wesentliche Änderung kann auch nicht entsprechend der Rechtsauffassung des Jobcenters darin gesehen werden, dass nunmehr wegen mangelnder Mitwirkungshandlungen des Leistungsbeziehers (LB) Kindergeld fiktiv anzurechnen wäre, weil es – hätte der LB entsprechend mitgewirkt – ihm als Einkommen gezahlt worden wäre, er somit seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II verringert hätte. Dieses Vorgehen mag der Weisungslage des JC entsprechen, ist jedoch rechtswidrig.
3. Denn maßgebend ist allein der tatsächliche Zufluss von anderen Leistungen oder von Einkommen. Es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass die Minderung eines Bedarfes anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (BSG, Urteil vom 29.11.2012, B 14 AS 161/11 R).
4. Da dem LB keine Kindergeldleistungen zugeflossen sind, ist es bei ihm auch tatsächlich nicht anzurechnen.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3.4 – SG Kiel, Beschluss vom 09.04.2014 – S 38 AS 88/14 ER
Das Sozialgericht Kiel hat entschieden, dass ein arbeitsloser Vater, welcher an 55 Tagen im Jahr sein Umgangsrecht mit seinen beiden Kindern ausübt, einen Anspruch auf eine größere Wohnung und damit auch höhere Leistungen für die Unterkunft hat, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt; mehr hier: sozialberatung-kiel.de
Anmerkung:
Vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.5.2014 – L 3 AS 1895/14 ER-B – Durch die Berücksichtigung des hälftigen Platzbedarfs wird das Umgangsrecht, jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, ausreichend ermöglicht (Anschluss an LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 04.01.2012 -L 11 AS 635/11 B ER-).
4. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB X II)
4.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 21.11.2014 – L 8 SO 5/14
Aufhebung für die Vergangenheit, Jahresfrist, Vorverlagern des Änderungszeitpunkts auf den Monatsersten, für den Hilfebedürftigen günstige Änderung, monatsweise Betrachtung, Bedarfszeitraum, Bewilligungsperiode, Härtefall
Auch Einkommen, das auf nicht verbrauchte Sozialhilfeleistungen zurückzuführen sei, müsse nach dem Grundsatz des Nachrangs für den aktuellen Lebensunterhalt eingesetzt werden (vgl. LSG NRW vom 28.07.2009 – L 20 SO 17/08 – für die Berücksichtigung von aus Sozialhilfe angespartem Vermögen).
Leitsätze (Juris)
1. Bei Änderungen zugunsten des Leistungsempfängers z.B. einer Vermögensreduzierung unter den Schonbetrag kann die erhöhte Grundsicherungsleistung bei späterer Antragstellung bzw. Mitteilung erst mit Beginn dieses Monats gezahlt werden kann.
2. § 48 Abs. 1 und 2 SGB X kann auch auf anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakte angewendet werden, wenn die nachträgliche Änderung der Verhältnisse sich auf tatsächliche oder rechtliche Umstände bezieht, auf denen die Rechtswidrigkeit nicht beruht hat (zul. Urt. BSG 27.5.2014, Az.: B 8 SO 26/12 R).
3. Der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 SGB X beschränkt sich nicht ausschließlich nur auf rechtswidrig gewordene Verwaltungsakte.
4. Zum Verhältnis der Aufhebung nach §§ 44 und 48 SGB X.
5. Bei den laufenden Leistungen werden Einnahmen im Bedarfszeitraum, d.h. dem Zeitraum in dem der Bedarf und die konkrete Hilfebedürftigkeit nach dem Monatsprinzip geprüft werden, berücksichtigt. nicht verbrauchtes Einkommen ist im nächsten Bedarfszeitraum zum Vermögen (sog. modifizierte Zuflusstheorie).
6. Der Begriff des Bedarfszeitraums von der Bewilligungsperiode ist zu unterscheiden.
7. Die Freibeträge für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (4. Kapitel SGB XII) sind in entsprechender Ergänzung der DVO § 90 SGB XII diejenigen der Hilfe zum Lebensunterhalt (3. Kapitel SGB XII).
8. Für die Prüfung des Vorliegens einer Härte iSv § 90 Abs. 3 SGB XII sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und daraufhin zu überprüfen, ob sie in ihrem Zusammenwirken eine bei anderen Hilfebedürftigen regelmäßig nicht anzutreffende, also atypische schwere Belastung des Vermögensinhabers ergeben. Eine Härte kann sich unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung eines bereits manifestierten Selbsthilfewillens ergeben.
9. Der Einsatz von aus Leistung der Grundsicherung angespartem Vermögen ist nicht als Härte i.S.d. § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII anzusehen.
10. Die falsche Wortwahl Rücknahme anstelle von Aufhebung stellt keinen Verfahrensfehler dar, der eine Aufhebung rechtfertigt.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Anmerkung:
Vgl. SG Stade, Urteil vom 27.11.2014 – S 33 SO 65/14 – Angespartes Vermögen aus Pflegegeld nach dem SGB XI ist vorrangig zum Lebensunterhalt einzusetzen.
5. 30.12.2014: Vorlagebeschluss zum Bundesverfassungsgericht wegen „Mietobergrenzen“ für „Hartz-IV“-Bezieher, ein Beitrag der RA Fritz und Kollegen
Das SG Mainz hat mit Beschluss vom 12.12.2014 (Az. S 3 AS 130/14) ein Verfahren ausgesetzt, das die Übernahme von Aufwendungen für die Unterkunft im Rahmen von Leistungen nach dem SGB II betrifft. Das Gericht hält § 22 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB II für verfassungswidrig und hat die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt (Art. 100 GG). Während eine Verfassungsbeschwerde auch durch einen Nichtannahmebeschluss zurückgewiesen werden kann, den das BVerfG nicht begründen muss, wird es über den Vorlagebeschluss in der Sache und mit einer schriftlichen Begründung entscheiden. Damit ist jetzt eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage zu erwarten, ob die Regelung der § 22 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB II („soweit diese angemessen sind“) vor dem Hintergrund des Karlsruher Hartz-IV-Urteils vom 9.2.2010 noch als mit der Verfassung vereinbar gelten kann (vgl. unsere Verfassungsbeschwerden vom 3.3.2014, anhängig unter 1 BvR 617/14 und vom 3.4.2014, anhängig unter 1 BvR 944/14). Sobald die Begründung des Beschlusses des SG Mainz vorliegen wird, werden wir sie hier zur Verfügung stellen. (rr)
Quelle: www.sozialrecht-in-freiburg.de
6. Neue Expertise zu Hartz IV: Paritätischer fordert 485 Euro Regelsatz – Pressemeldung vom 29.12.2014
Als völlig unzureichend kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband die Anhebung des Regelsatzes bei Hartz IV zum 1.1.2015 um lediglich acht Euro von 391 auf 399 Euro. Der Regelsatz sei „mutwillig kleingerechnet“ und erfülle nach wie vor nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das zuletzt im Juli 2014 deutliche Nachbesserungen bei der Bedarfsermittlung gefordert hatte. Nach eigenen Berechnungen des Paritätischen sei eine Erhöhung des Regelsatzes um 24 Prozent auf 485 Euro notwendig, um das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern.
Weiterlesen und zum Download der Expertise: www.10jahre-hartz4.de
7. Sozial-Info 03/2014
Zum Jahresende wie immer die aktuellen sozialrechtlichen Veränderungen: www.lebenshilfe-duesseldorf.de
8. „Entschädigungsklagen – kein Recht für „Hartz IV“-Empfängerinnen und – Empfänger“ von Herbert Masslau
Zunächst einmal möchte der Autor dieser Zeilen auf seinen Artikel Entschädigungsgesetz wegen überlanger Gerichtsverfahren zum Entschädigungsrecht hinweisen.
Weiter: www.herbertmasslau.de
9. Union will Zuschüsse für Selbstständige auf fünf Jahre begrenzen.
Nach dem Willen der Union sollen selbstständige Hartz-IV-Aufstocker künftig nur noch für maximal fünf Jahre Leistungen vom Jobcenter erhalten. Informationen der WirtschaftsWoche zufolge bereitet die CDU/CSU-Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“ eine entsprechende Gesetzesinitiative vor, die bis zum Sommer umgesetzt werden könnte.
weiterlesen: www.wiwo.de
Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de