Hessischer Verwaltungsgerichtshof – Beschluss vom 09.02.2015 – Az.: 2 B 186/15

BESCHLUSS

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des Herrn xxx,
Antragstellers und Beschwerdeführers,

bevollmächtigt: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

die Stadt xxx,
Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin,

wegen Versammlungsrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof – 2. Senat – durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Prof. Dr. xxx, Richter am Hess. VGH xxx, Richterin am Hess. VGH xxx am 9. Februar 2015 beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 6. Februar 2015 – 6 L 157/15.KS – mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung abgeändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 4. Februar 2015 wird wiederhergestellt, soweit in der Verfügung die vom Antragsteller für den 9. Februar 2015 angemeldete Versammlung verboten wurde.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

GRÜNDE
Die gemäß §§ 146 und 147 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor bezeichneten erstinstanzlichen Beschluss hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die angefochtene Verfügung der Antragsgegnerin vom 4. Februar 2015 wiederherzustellen, soweit in dieser Verfügung die vom Antragsteller für den 9. Februar 2015 angemeldete Versammlung verboten wurde. Es sprechen ganz überwiegende Gründe dafür, dass dieses Verbot – wie auch die darin des Weiteren verfügten Verbote der vom Antragsteller für den 16. und 23. Februar 2015 angemeldeten Versammlungen – rechtswidrig ist. An der Vollziehung einer rechtswidrigen Verfügung besteht kein besonderes öffentliches Interesse.

Nach§ 15 Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz – VersG -) kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Die von der Antragsgegnerin und vom Verwaltungsgericht herangezogenen Umstände tragen die Annahme einer von der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung selbst ausgehenden unmittelbaren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht.

Konkrete Anhaltspunkte für einen unfriedlichen Verlauf der vom Antragseller angemeldeten Versammlung am 9. Februar 2015 – sowie der übrigen angemeldeten Versammlungen – werden von der Antragsgegnerin und vom Verwaltungsgericht nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich. Das von der Antragsgegnerin in der Begründung ihrer Verbotsverfügung vom 4. Februar 2015 angeführte “hausinterne Management” zur Bereitstellung öffentlicher Flächen, konkret die “Reservierung” des vom Antragsteller für die Versammlung am 9. Februar 2015 vorgesehenen Ortes “Scheidemannplatz” Ecke “Kölnische Straße” für eine andere, zu einem späteren Zeitpunkt angemeldete Versammlung, ist kein Aspekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der es im hier gegebenen Einzelfall rechtfertigt, die durch Art. 8 des Grundgesetzes (GG) garantierte Versammlungsfreiheit zu beschränken. Des Weiteren ist nicht ersichtlich, dass die vom Antragsteller angemeldete Versammlung sowie die für dieselbe Zeit, jedoch später angemeldete Versammlung des Bündnisses “Kagida” in einer die Versammlungsfreiheit sichernden Weise nicht ausreichend polizeilich geschützt werden könnten. Dies würde voraussetzen, dass die Versammlungsbehörde der Antragsgegnerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre. Eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht nicht aus. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen solcher Gründe für ein Verbot einer Versammlung liegt grundsätzlich bei der Versammlungsbehörde (siehe hierzu: BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 -, NVwZ 2013, 570 = DVBI. 2013, 367 = EuGRZ 2013, 76, m. w. N.). Die von der Antragsgegnerin in der Begründung ihrer Verbotsverfügung herangezogene Bindung von Polizeikräften für “andere Kagida-Versammlungen in Hessen, z. B. PEGIDA Rhein-Main” kann jedenfalls nicht pauschal als Argument für ein Verbot der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung herangezogen werden.

Auch mit der vom Verwaltungsgericht seiner angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten Prioritätsgrundsatz bei der Anmeldung von Versammlungen lässt sich die Verbotsverfügung des Antragsgegners nicht rechtmäßig begründen.

Nach dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 6. Mai 2005 (- 1 BvR 961/05-, NVwZ 2005, 1055 = DVBI. 2005, 969 = BayVBI. 2005, 592 = NJW 2005, 3060 [LS]) wird durch die grundsätzliche Einräumung einer zeitlichen Priorität für den Erstanmelder einer Versammlung gesichert, dass die zuerst angemeldete Versammlung nicht allein deshalb zurückzutreten hat, weil ein anderer Veranstalter – wie hier – für den vorgesehenen Zeitpunkt und Ort ebenfalls eine Versammlung anmeldet. Andererseits würde es die Ausrichtung allein am Prioritätsgrundsatz ausschließen, gegenläufige Erwägungen zu berücksichtigen; dies widerspräche dem Anliegen des Grundgesetzes, allen Grundrechtsträgern die Ausübung der Versammlungsfreiheit grundsätzlich zu ermöglichen. Kommt es in derartigen Fällen – wie hier- zu konkurrierenden Nutzungswünschen von unterschiedlichen Veranstaltern einer Versammlung, so ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Ausübung der Grundrechte unterschiedlicher Rechtsträger eine praktische Konkordanz herzustellen. Dies hat auch das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt.

Anders als jedoch das Verwaltungsgericht angenommen, führt diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier nicht dazu, dass eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur bei einem Verbot der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung zu verhindern ist. Nach dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der Verfügung der Antragsgegnerin vom 4. Februar 2015 (siehe§ 15 Abs. 1 VersG), sind keine Gesichtspunkte vorgetragen oder ersichtlich, die es notwendig erscheinen lassen, dass bei einer Durchführung der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung eine Verlegung der für den denselben Ort und für dieselbe Zeit beabsichtigten Kagida-Versammlung an einen anderen Ort als den “Scheidemannplatz” erfolgen muss. Vielmehr ergibt sich aus der Begründung des angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Beschlusses selbst, dass es durchaus ohne konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung möglich ist, die Kagida-Versammlung und die als “Gegenveranstaltung” zu dieser Versammlung konzipierte, vom Antragsteller zuerst angemeldete Versammlung, wie nach der Mitteilung des Polizeipräsidiums Nordhessen, Abteilung Einsatz E 1 vom 3. Februar 2015 (BI. 10 der Verwaltungsvorgänge) beschrieben und ausdrücklich gewünscht, gleichzeitig auf dem “Scheidemannplatz” stattfinden zu lassen. Auf diese Weise kann dem vom Bundesverfassungsgericht in der vorstehend genannten Rechtsprechung hervorgehobenen Grundsatz, beiden Grundrechtsträgern die Ausübung der Versammlungsfreiheit zu ermöglichen, Rechnung getragen werden, ohne dass die Kagida-Versammlung an einen anderen Versammlungsort als den “Scheidemannplatz” verlegt werden müsste und ohne das Selbstbestimmungsrecht des Antragstellers hinsichtlich des Ortes der von ihm zuerst angemeldeten Versammlung zu beschränken bzw. zu versagen.

Dass eine gleichzeitige Durchführung der beiden Versammlungen auf dem “Scheidemannplatz” möglich ist, ergibt sich zur Überzeugung des Senats ohne Zweifel aus der Begründung des angefochtenen erstinstanzlichen Beschlusses. Danach hat die Antragsgegnerin gegenüber dem Verwaltungsgericht mündlich mitgeteilt, dass die vom Antragsteller angemeldete Versammlung auf dem “Scheidemannplatz” Ecke “Treppenstraße” durchgeführt werden könne, ohne dass hierfür ein Verbot drohe. Es ist nichts dafür vorgetragen und auch aus den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin nicht ersichtlich, weshalb es dann nicht möglich ist, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Antragstellers hinsichtlich Ort und Zeitpunkt der von ihm angemeldeten Versammlung diese wie von ihm angemeldet auf dem “Scheidemannplatz” Ecke “Kölnische Straße” stattfinden zu lassen und die später angemeldete Kagida-Versammlung ebenfalls auf dem “Scheidemannplatz” zu belassen, aber in den Bereich “Treppenstraße” zu verweisen, für den zum Zeitpunkt der Anmeldung durch den Antragsteller eine andere Versammlung noch nicht angemeldet worden war. Auf diese Weise wäre sowohl den Anträgen beider Grundrechtsträger unter Beachtung des Prioritätsgrundsatzes als auch dem Anliegen des Polizeipräsidiums Nordhessen, Abteilung Einsatz E 1 in dessen Mitteilung vom 3. Februar 2015 Rechnung getragen. Dabei weist das Verwaltungsgericht in seiner angefochtenen Entscheidung zutreffend darauf hin, der Veranstalter und die Teilnehmer der Kagida-Versammlung könnten, “…kein Recht darauf geltend machen, ihre Versammlungen stets auf demselben Standort auf dem Scheidemannplatz abzuhalten …”. Da die Durchführung der Kagida-Versammlungen nicht aus inhaltlichen oder sonstigen Gründen des Selbstbestimmungsrechts an einen bestimmten Ort gebunden sind, bestehen – wie hier – im Fall konkurrierender Nutzungswünsche keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine solche Beschränkung des versammlungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts im Hinblick auf die später angemeldete Kagida-Versammlungen (vgl.: BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 2005 – 1 BvR 961/05 -, a. a. 0.).

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist deshalb aus den vorstehenden Gründen mit Ausnahme der Festsetzung des Streitwertes abzuändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gesamten Verfahrens gemäߧ 154 Abs. 1 VwGO zu tragen, da sie unterlegen ist.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 52 Abs. 1 und Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 47 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) und folgt in der Höhe der Wertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht, die von keinem Beteiligten angefochten wurde.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3 und 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).