Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Urteil vom 24.02.2015 – Az.: L 7 AS 187/14

URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,
vertreten durch
xxx,
– Kläger und Berufungskläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis xxx,
– Beklagter und Berufungsbeklagter –

hat der 7. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 24. Februar 2015 in Celle durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht xxx, den Richter am Landessozialgericht xxx, den Richter am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx für Recht erkannt:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 30. Januar 2013 aufgehoben. Der Bescheid des Beklagten vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2008 wird geändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld II vom 1. bis zum 10. April 2008 zu zahlen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

TATBESTAND
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. bis zum 10. April 2008 streitig.

Der 2005 geborene Kläger lebt mit seiner Mutter, xxx, und deren Lebensgefährten, xxx, in einer Bedarfsgemeinschaft und steht im laufenden Bezug von SGB II-Leistungen. Der Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 13. November 2007 Arbeitslosengeld II bis zum 31. März 2008 in Höhe von 181,00 € monatlich. Dieser Bescheid enthielt folgenden Hinweis: “Damit Sie auch über diesen Zeitraum hinaus Leistungen erhalten, ist rechtzeitig vor Ablauf des Bewilligungszeitraums (ca. ein Monat vorher) ein erneuter Antrag zu stellen. Das Formular erhalten Sie bei mir.”.

Den Fortzahlungsantrag stellte die Mutter des Klägers am 11. April 2008. Mit Bescheid vom 14. April 2008 bewilligte der Beklagte dem Kläger SGB II-Leistungen vom 11. April 2008 bis zum 30. April 2008 in Höhe von 121,00 Euro monatlich. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein mit der Begründung, der Antrag für den vorangegangenen Leistungszeitraum sei ausreichend gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 2008 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 30. April 2008 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Hildesheim erhoben und im Laufe des Verfahrens unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Januar 2011 – B 4 AS 29/10 R – vorgetragen, der Beklagte habe auch im vorliegenden Fall seine Beratungspflicht verletzt, weil dieser ihn nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ende des Bewilligungszeitraums auf die neue Antragstellung hingewiesen habe. Demgegenüber hat der Beklagte erwidert, der Kläger sei bereits im Bewilligungsbescheid vom 13. November 2007 darauf hingewiesen worden, er müsse ca. einen Monat vor Ablauf des Bewilligungszeitraums einen Folgeantrag stellen.

Das Sozialgericht Hildesheim hat mit Urteil vom 30. Januar 2013 die Klage abgewiesen. In den Gründen hat es ausgeführt, der Kläger könne erst ab dem Tage der Antragstellung, dem 11. April 2008, Leistungen beanspruchen. Ein Anspruch für die Zeit davor im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs scheitere an einer fehlenden Pflichtverletzung durch den Beklagten. Durch den Hinweis im Bewilligungsbescheid vom 13. November 2007 sei der Beklagte seinen Verpflichtungen, wie diese sich aus dem Urteil des Bundesozialgerichts vom 18. Januar 2011 ergeben, nachgekommen. Soweit andere Leistungsträger unmittelbar vor dem Ende eines Bewilligungszeitraums auf die Notwendigkeit einer Antragstellung erneut hinweisen und Antragsformulare zusenden würden, stelle diese Handlung keine Pflicht des Leistungsträgers dar, sondern eine freiwillige Leistung.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 4. Februar 2014 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 30. Januar 2013 zugelassen.

Der Kläger trägt vor, der Beklagte habe ihn bzw. seine Mutter nicht ausreichend vor dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums darauf aufmerksam gemacht, dass eine Fortzahlung der Leistungen von einer Antragstellung abhängig sei und erst dieser Antrag die Leistungsgewährung auslöse. Der Hinweis im früheren Bewilligungsbescheid sei ca. fünf Monate vor dem Ende des Bewilligungszeitraums erfolgt und somit nicht zeitnah im Sinne der BSG-Rechtsprechung. Das BSG habe als Bestandteil des Sozialrechtsverhältnisses die Verpflichtung des Leistungsträgers festgestellt, wie diese in den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit (Ziffer 31.11a) enthalten sei, nämlich dass vier Wochen vor Ablauf des Bewilligungsabschnitts die Leistungsbezieher unter Zusendung eines neuen Antragsformulars auf die Notwendigkeit des Folgeantrages hingewiesen werden müssen.

Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 30. Januar 2013 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2008 zu ändern.
2. den Beklagten zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld II vom 1. bis zum 10. April 2008 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte sieht keinen Widerspruch zwischen seiner Praxis und dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Januar 2011. So werde in seinem Geschäftsbereich heute noch in allen Leistungsangelegenheiten verfahren. Seiner Beratungspflicht sei er durch den Hinweis im Bewilligungsbescheid nachgekommen. Da dem Kläger dadurch die Notwendigkeit eines Folgeantrages bekannt geworden sei, habe es keiner weiteren Erinnerung bedurft. Er sei insbesondere nicht verpflichtet gewesen, die Einhaltung von Terminen durch die Leistungsberechtigten zu überwachen.

Wegen des vollständigen Sachverhalts und des umfassenden Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die kraft Zulassung durch den Senat zulässige Berufung des Klägers ist begründet und führt zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind teilweise rechtswidrig und in der Weise zu ändern, dass dem Kläger bereits ab 1. April 2008 Arbeitslosengeld II (§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) zu zahlen ist.

Es ist zwischenzeitlich nach früheren abweichenden instanzgerichtlichen Urteilen durch das Bundessozialgericht geklärt, dass – anders als früher im Recht der Arbeitslosenhilfe – nach Beendigung des Bewilligungszeitraums für die Weitergewährung von Leistungen gemäß § 37 Abs. 1 SGB II ein Fortzahlungsantrag erforderlich ist (BSG 18. Januar 2011 – B 4 AS 29/10 R SozR 4 – 4200 § 37 Nr. 5; BSG 18: Januar 2011 – B 4 AS 99/10 R -). Der ursprüngliche Antrag ist durch die befristete Leistungsbewilligung verbraucht, so dass ein neues Verfahren durch eine eigenverantwortliche Erklärung der Hilfebedürftigen über die aktuellen persönlichen Verhältnisse eingeleitet werden muss. Vorliegend ist ein neuer Antrag erst durch die Mutter des Klägers am 11. April 2008 erfolgt, wobei SGB II-Leistungen grundsätzlich nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht werden (§ 37 Abs. 2 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 gültigen Fassung; ab 1. Januar 2011 wirkt der Antrag auf den Ersten des Monats zurück, § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II).

Der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II ab 1. April 2008 folgt aber. aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch wegen einer Verletzung der Aufklärung- und Beratungspflichten aus §§ 14, 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) durch den Beklagten. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch vermittelt einem Anspruchsberechtigten, der aufgrund eines behördlichen Beratungsmangels einen Nachteil erlitten hat, einen Anspruch darauf, dass der Zustand wieder hergestellt wird, der ohne die Pflichtverletzung des Anspruchsgegners bestehen würde. Voraussetzung dafür ist, dass der Sozialleistungsträger eine Aufklärungs- und Beratungspflicht als Betreuungspflicht rechtswidrig verletzt hat, der Hilfebedürftige dadurch kausal einen Antrag verspätet gestellt hat und bei ihm deswegen ein Nachteil eingetreten ist (BSG 23. Mai 1996 – 13 RJ 17/95 -, SozR 3 – 5750 Artikel 2. § 6 Nr. 15; BSG 26. Juli 2007 – B 13 R 4/06 R SozR 4 – 2600 § 115 Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Der Beklagte hat rechtswidrig seine Pflicht, den Kläger rechtzeitig vor Ablauf des Bewilligungszeitraums zum 31. März 2008 auf die Notwendigkeit eines Folgeantrages für den weiteren Leistungsbezug hinzuweisen, schuldhaft verletzt. Ein solcher Hinweis hätte etwa einen Monat vor Ablauf des Bewilligungszeitraums bis zum 31. März 2008 erbracht werden müssen. Um diese Hinweispflicht zu erfüllen, war es nicht ausreichend, dass der Beklagte im Rahmen des früheren Bewilligungsbescheides vom 13. November 2007 mitgeteilt hatte, dass ca. ein Monat vor Ablauf des Bewilligungszeitraums ein erneuter Antrag zu stellen sei. Dies folgt eindeutig aus dem Urteil des BSG vom 18. Januar 2011 – B 4 AS 29/10 R-.

Das BSG hat in dieser Entscheidung die Verpflichtung des SGB II-Trägers hervorgehoben, die Leistungsbezieher über die Erforderlichkeit eines Folgeantrages im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums hinzuweisen. Die Beratungspflicht des Leistungsträgers erschöpft sich nicht mit einem nicht zeitnahen Hinweis, bei Fortbestehen der Hilfebedürftigkeit rechtzeitig einen Antrag auf Weiterzahlung zu stellen. Vielmehr folgt aus dem Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Grundsicherungsträger und dem Hilfebedürftigen die Verpflichtung, wie diese nach Auffassung des BSG in den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit unter Ziffer 37.11a ihren Niederschlag gefunden hat, nämlich dass vier Wochen vor Ablauf des Bewilligungsabschnitts die Leistungsbezieher zentral einen neuen Antrag zugeschickt bekommen und darauf hingewiesen werden, noch vor dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums die Leistungsfortzahlung zu beantragen (BSG aa. 0. Randziffer 13).

Der Senat folgt ausdrücklich dieser BSG-Rechtsprechung und stellt fest, dass der mit Bewilligungsbescheid vom 13. November 2007 erteilte Hinweis auf eine erst fünf Monate später erforderliche Neuantragstellung nicht im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums erfolgt ist. Der Einwand des Beklagten, der vom BSG entschiedene Sachverhalt sei mit dem Vorliegenden nicht vergleichbar, ist nicht nachvollziehbar. Denn dort ging es genauso um einen im Bewilligungsbescheid vom 23. Mai 2005 enthaltenen Hinweis auf eine neue Antragstellung vor Ablauf des Bewilligungszeitraums vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2005.

Der Beklagte hätte also den Hinweis auf den Fortzahlungsantrag zeitnah vor dem Ende des Bewilligungszeitraums erteilen müssen. Es entspricht der Konzeption des SGB II mit dem Gedanken des Förderns und Forderns sowie dem Existenzsicherungsanspruch aus Artikel 1 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz, dass der Grundsicherungsträger die Leistungsempfänger von sich aus effektiv beraten muss, so dass diese ihre Rechte rechtzeitig in Anspruch nehmen können. Der Pflicht, den Hinweis auf den Folgeantrag im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende des Bewilligungszeitraums zu erteilen, konnte der Beklagte nicht dadurch nachkommen, dass er bereits mit dem früheren Bewilligungsbescheid mitteilte, nach Ablauf des Leistungszeitraums werde ein Neuantrag notwendig. Zweck einer zeitnahen Beratung ist es vor dem Hintergrund des Existenzsicherungszwecks des SGB II, darauf hinzuwirken, dass der Hilfebedürftige seine Grundsicherung geltend machen kann. Dazu soll er zu einem Zeitpunkt auf die Notwendigkeit eines Folgeantrages hingewiesen werden, zu dem er tatsächlich auch den Folgeantrag stellen kann.

Diese Pflichtverletzung des Beklagten war kausal dafür, dass dem Kläger ein sozialrechtlicher Nachteil entstanden ist. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht einen Monat vor dem Ende des Bewilligungszeitraums den Folgeantrag gestellt hätte, wenn er auf diese Notwendigkeit hingewiesen worden wäre, dass er bis spätestens zum 1. April 2008 die Folgeleistungen beantragen muss, sind nicht erkennbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Da der Beklagte unterliegt, muss er für die .außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen aufkommen.

Die Revision bedarf der Zulassung (§ 160 SGG). Diese ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und das Urteil nicht von obergerichtlichen Entscheidungen abweicht.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.