Verwaltungsgericht Kassel – Beschluss vom 05.06.2015 – Az.: 6 L 1019/15.KS

BESCHLUSS

In dem Verwaltungsstreitverfahren
des Herrn xxx,
Antragstellers,
bevollmächtigt: Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

die Stadt xxx,
Antragsgegnerin,

wegen Versammlungsrechts

hat das Verwaltungsgericht Kassel – 6. Kammer – durch
Vorsitzenden Richter am VG xxx,
Richter am VG xxx,
Richterin am VG xxx
am 5. Juni 2015 beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 04.06.2015 gegen die ordnungsbehördliche Verfügung des Bürgermeisters der Stadt xxx vom 02.06.2015 wird wieder hergestellt, soweit dem Antragsteller folgende Auflagen erteilt wurden:

“Es ist dem Aufzug untersagt, an der Strecke stehen zu bleiben und sich zu versammeln,

Transparente dürfen in ihrer Länge 100 cm nicht überschreiten. Ihr Durchmesser darf nicht mehr als 2 cm betragen. Die Breite von Transparenten darf 100 cm nicht überschreiten,

Die Transparente sind lose hintereinander zu tragen (vor dem Körper des jeweiligen Teilnehmers) und dürfen nicht an den Seiten zum Sichtschutz gegen die Polizei verwendet werden,

Jeglicher Eingriff und/oder Störungen in den Festbetrieb sind zu unterlassen, wie z.B. … Tanzeinlagen.”

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,– Euro festgesetzt.

GRÜNDE
Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1, Alt. 2 VwGO statthafte Antrag des Antragstellers hat Erfolg. Die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 04.06.2015 gegen die ordnungsbehördliche Verfügung des Bürgermeisters der Stadt xxx vom 02.06.2015 ist hinsichtlich der angegriffenen Auflagen wiederherzustellen.

Bei den erteilten Auflagen handelt es sich um selbständige und daher selbständig anfechtbare Verwaltungsakte, die von dem Veranstalter ein Tun, Dulden oder Unterlassen verlangen (Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze § 15 Rn. 10 m.w.N.).

Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist geboten, wenn das Interesse des Antragstellers daran, von der Durchsetzung der angegriffenen Verfügung vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung überwiegt. Bei der Interessenabwägung kommt mit Rücksicht darauf, dass der Sofortvollzug eines Demonstrationsverbots in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung führt, den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs besondere Bedeutung zu. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme ist nach Möglichkeit nicht nur summarisch zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012, 1 BvR 2794/10, zitiert nach juris).

Die angegriffenen Auflagen sind ersichtlich rechtswidrig.

Nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes (VersG) kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Die öffentliche Sicherheit im Sinne dieser Bestimmung umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (vgl. BVerfGE 69, 315 <352>; BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2008 – 6 C 21.07 -, juris, Rn. 13 = BVerwGE 131, 216). Dabei kann in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen werden, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht. Die im pflichtgemäßen Ermessen der Versammlungsbehörde stehende Beschränkung der in Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisteten Versammlungsfreiheit durch die Erteilung von Auflagen setzt somit eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt.

Die Auflagen müssen erforderlich und geeignet sein, die Gefahren zu verhindern, denen sie begegnen sollen, und sich auf das zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter unbedingt notwendige Maß unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränken. Voraussetzung ist, dass sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Durchführung der Versammlung und dem geplanten Ablauf stehen und dass sie den Zweck haben, die Versammlung trotz entgegenstehender Verbotsgründe zu ermöglichen. Die zuständige Behörde kann die Versammlung deshalb (nur) von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist (Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 26. April 2006 – 5 UE 1567/05 -, juris).

Die Gefahrenprognose durch die Behörde muss nach dem Wortlaut auf “erkennbaren Umständen”, also auf Tatsachen, Sachverhalten oder sonstigen konkreten Erkenntnissen beruhen. Ein bloßer Verdacht oder lediglich eine Vermutung reichen hingegen nicht aus (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 24. September 1994 – 1 S 2664/94 -, NVwZ-RR 1995, 273; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 26. April 2006 – 5 UE 1567/05 -, juris, Rdnr. 32; BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007, 1 BvR 2793/04, zitiert nach juris).

Für die streitgegenständlichen Auflagen liegen diese Voraussetzungen nicht vor.

Die angegriffenen Beschränkungen wurden damit begründet, dass nach den bisherigen Erfahrungen mit vergleichbaren Versammlungen wie auch Erkenntnissen der Polizei mit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu rechnen sei. Die Auflagen seien notwendig, um einen ungestörten Versammlungsverlauf und gleichzeitig einen möglichst ungestörten Verlauf des Hessentages zu gewährleisten sowie die Polizei in die Lage zu versetzen, die Versammlung zu schützen. Die Auflagen erfolgten insbesondere zum Schutz von Leib und Leben der teilnehmenden Personen, der Einsatzkräfte der Polizei sowie unbeteiligter Dritter.

Eine ausreichende Begründung der erteilten Beschränkungen ist danach nicht dargelegt. Es liegt zunächst schon keine Gefahrenprognose vor, die auf erkennbaren Umständen beruht. Es ist auch nicht offensichtlich, welchen Gefahren durch die erteilten Auflagen begegnet werden soll.

Soweit die Antragsgegnerin lediglich “auf “bisherige Erfahrungen mit vergleichbaren Versammlungen” sowie “Erkenntnisse der Polizei” abstellt, ist nicht dargetan, welche konkreten Gefahren befürchtet werden.

Es ist nicht erkennbar, warum dem Aufzug untersagt wird, an der Strecke stehenzubleiben und sich zu versammeln. Möglicherweise soll verhindert werden, dass der Aufzug etwa vor dem Wohnhaus des Andreas T. oder dem Pavillon des Verfassungsschutzes stehenbleibt und hier eine Zwischenkundgebung abhält. Welche Gefahren in diesem Fall drohen, ist nicht bekannt. Dass es hierbei zu Ausschreitungen kommen könnte, wäre – soweit ersichtlich – spekulativ. Andererseits würde das Versammlungsrecht durch eine derartige Auflage beschränkt, denn der Schutzbereich des Artikels 8 (Versammlungsfreiheit) ist auch betroffen, wenn die Art und Weise der Durchführung einer Versammlung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird (Burghart in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 8 GG, Rn. 1; BVerfGE 111, 147, 155; vgl. zu einem Kostenbescheid für den Erlass versammlungsrechtlicher Auflagen: 1. K. v. 25.10.2007 – 1 BvR 943/02; zum Verbot, bestimmte Wortfolgen zu rufen: 1. K. v. 19.12.2007 – 1 BvR 2793/04).

Gleiches gilt für die Beschränkung der Größe der mitgeführten Transparente auf 100 x 100 cm und 2 cm Durchmesser und das Gebot, diese vor dem Körper zu tragen und nicht seitlich als Sichtschutz gegen die Polizei zu verwenden. Aus welchem Grund eine Größenbeschränkung angeordnet wurde, ist nicht ersichtlich. Auch das Verbot, die Transparente seitlich als Sichtschutz zu tragen, mag aus verschiedenen Gründen wünschenswert sein. So könnte es sinnvoll sein, wenn es Hinweise darauf gäbe, dass im Schutz übergroßer Transparente Straftaten vorbereitet werden, etwa Waffen getragen werden oder ähnliches. Da es auf derartiges Vorgehen aber nach Aktenlage keine Hinweise gibt, ist auch keine konkrete Gefährdung ersichtlich. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Wahl der Größe der Transparente und auch die Art, diese zu tragen oder zu schwenken vom Recht der Versammlungsfreiheit umfasst ist.

Gleiches gilt schließlich für das Verbot von Tanzeinlagen. Auch eine Tanzeinlage kann nach Auffassung des Gerichtes zur Art und Weise der Durchführung der Versammlung gehören und nimmt somit am grundrechtlichen Schutz des Artikels 8 GG teil. Vorliegend ist nicht erkennbar, welchen Gefahren durch das Verbot einer derartigen Einlage begegnet werden kann.

Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen, weil sie unterlegen ist.

Die Streitwertsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 52 Abs. 1, 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei legt das Gericht wegen der faktischen Vorwegnahme einer Hauptsache den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000 € zugrunde.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.