Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 27/2015

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 25.06.2015 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 25.06.2015 – B 14 A S 30/14 R

Sozialrichter wollen nicht Aufgaben der Behörden übernehmen

Kassel (jur). Will eine Sozialbehörde eine Leistungsbewilligung zurücknehmen, muss sie selbst die entsprechenden Voraussetzungen ermitteln. Im Fall einer Klage kann sie diese Aufgabe nicht den Gerichten zuschieben, wie das Bundessozialgericht (BSG) am Donnerstag, 25. Juni 2015, in Kassel entschied (Az.: B 14 AS 30/14 R).

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2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.06.2015 – L 2 AS 80/15 B ER – rechtskräftig

Rumänische Antragsteller haben Anspruch auf Regelleistung im Rahmen der Folgenabwägung.

Leitsätze (Juris)
Auch bei in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Bürgern aus Mitgliedsstaaten der EU, bei denen vor Eintritt der Arbeitslosigkeit kein Eintritt in den hiesigen Arbeitsmarkt festzustellen war, kann der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II mit Art 4 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit unvereinbar sein. Dies kann sich im Einzelfall daraus ergeben, dass eine schon weitgehende Integration in der Bundesrepublik Deutschland keine Beachtung gefunden hat. Eine Klärung ist erst durch die Entscheidung des EuGH auf den Vorlagebeschluss des BSG im Verfahren B 4 AS 9/13 hin zu erwarten. Solange ist, wenn Anhaltspunkte für eine weitgehende Integration vorliegen, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren im Wege der Folgenabwägung über eine vorläufige Leistungserbringung zu entscheiden.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05.06.2015 – L 4 AS 242/15 B ER – rechtskräftig

Zum vorbeugenden Feststellungsantrag im einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs 2 SGG

Zur Aufforderung des Jobcenters zur Vorlage eines Belegs über die Durchführung eines Verfahrens zur Statusfeststellung bei dem Rentenversicherungsträger

Ein Sozialleistungsberechtigter kann sich grundsätzlich gerichtlich nicht bereits gegen die Aufforderung zur Mitwirkung wehren, sondern muss erst einen ggf. darauf aufbauenden Bescheid abwarten, bevor er gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann.

Leitsätze (Autor)
1. Der Antragsteller wehrt sich gegen eine Aufforderung zur Mitwirkung, die keine Verwaltungsaktqualität iSv § 31 SGB X hat. Das Jobcenter kann den Antragsteller nicht verpflichten, den geforderten Beleg vorzulegen und damit die gewünschte Mitwirkungshandlung zu erbringen, er kann dazu nur auffordern.

2. Wenn der Antragsteller sie – wie hier – nicht befolgt, muss das JC in einem weiteren Schritt des Verwaltungsverfahrens prüfen, ob das Verhalten als Verletzung der Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, § 65 SGB I zu werten ist, und ob er ggf. berechtigt ist, aufgrund dieser Verletzung die Leistung zu versagen bzw. zu entziehen (§ 66 Abs. 1 SGB I). Erst die Versagung oder der Entzug der Leistung ist ein Verwaltungsakt, der eine belastende Regelung für den Antragsteller beinhaltet und gegen die er sich mit den vorgesehenen Rechtsbehelfen (Widerspruch) wehren kann.

3. Die Rechtsschutzgarantie gewährleistet einen Schutz gegen staatliche Eingriffe. Dies bedeutet, dass sich ein Bürger regelmäßig nicht gegen vorbereitendes Verwaltungshandeln wehren kann, das seine Rechte (noch) nicht beeinträchtigt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B

Slowakischer Staatsangehöriger hat kein Anspruch auf ALG II.

Leitsätze (Juris)
Von dem Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 sind auch EU-Bürger, bei denen ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche nicht bestanden hat oder fortgefallen ist und kein anderes materielles Aufenthaltsrecht feststellbar ist, mit umfasst.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung: a. A. Sächsisches LSG, Beschluss vom 14.04.2014 – L 7 AS 239/14 B ER

2.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.06.2015 – L 2 AS 587/15 B ER und – L 2 AS 588/15 B – rechtskräftig

Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Alt. 1 SGB II – Eingliederungsvereinbarung – Zusicherung i. S. v. § 34 SGB X

Leitsatz (Autor)
1. Eine Leistungspflicht des Jobcenters kommt nicht im Hinblick auf die Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Betracht.

2. Denn ein Grundsicherungsträger kann sich in einer Eingliederungsvereinbarung rechtswirksam, d.h. ohne Berücksichtigung des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 7 ff. SGB II weder zu einer Gewährung von Arbeitslosengeld II gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichten noch kann er diese – auf der Grundlage von § 34 SGB X wirksam zusichern (siehe umfassend dazu BSG, Urteil vom 02.04.2014, Az. B 4 AS 26/13 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.06.2015 – L 19 AS 717/15 B ER – rechtskräftig

Kein Leistungsausschluss wegen Aufenthalts zur Arbeitsuche bei Nichtvorliegen eines materiellen Aufenthaltsrechts im Inland – Unionsbürger

Leitsatz (Autor)
Vorläufige Verpflichtung des Grundsicherungsträgers den italienischen Antragstellern den Regelbedarf für Partner nach § 20 Abs. 4 SGB II einschließlich der Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 7 SGB II zu erbringen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung: vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 11.03.2015 – L 19 AS 195/15 B

2.6 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.2015 – L 19 AS 360/15 B ER – rechtskräftig

Gewährung von ALG II im Rahmen der Folgenabwägung für rumänische Antragsteller – keine Mietschuldenübernahme – ernsthafte Bewerbungsbemühungen sind zu belegen bzw. zu konkretisieren (Bejahend)

Schutzgut der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung im Sinne von § 22 SGB II ist nicht die Schuldenfreiheit, sondern die Deckung des elementaren Bedarfes, eine Unterkunft zu haben (Anordnungsgrund verneinend).

Leitsätze (Autor)
1. Der Senat folgt insoweit nicht der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, wonach die Formulierung in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II “deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt” nicht auf das Bestehen eines materiellen Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche abstellt sondern im Sinne des einzig denkbaren Grundes für ein Aufenthaltsrecht zu verstehen und dieses Aufenthaltsrechts vor Einleitung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu vermuten ist (vgl. Senatsbeschluss vom 20.03.2015 – L 19 AS 196/15 B ER; siehe zur identischen Vorschrift des § 23 Abs. 3 S. 1 2 Alt. SGB XII: BSG, Urteil vom 18.11.2014 – B 8 SO 9/13 R; a.A. LSG NRW, Urteil vom 28.11.2013 – L 6 AS 130/13).

2. Der “Anordnungsgrund” bei der einstweiligen Zuerkennung von unterkunftsbezogenen Grundsicherungsleistungen nach § 86b Abs.2 SGG ergibt sich weder aus der Vermeidung von Mietschulden/ Mehrkosten noch aus dem Risiko einer im Zeitablauf schwieriger werdenden Abwendung eines Wohnungsverlustes, sondern aus der konkret und zeitnah drohende Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit. Ein Anordnungsgrund ist damit im Regelfall erst bei Nachweis der Rechtshängigkeit einer Räumungsklage gegeben. Selbst eine fristlose Kündigung reicht für die Bejahung der Eilbedürftigkeit regelmäßig nicht aus.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Ebenso f. rumänische Antragsteller: LSG NRW, Beschl. v. 24.06.2015 – L 19 AS 360/15 B ER – Die Antragsteller haben ein materielles Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, auf dessen konkrete Feststellung im Einzelfall es für die Prüfung des hieran anknüpfenden Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ankommt.

2.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.06.2015 – L 7 AS 704/15 B ER und – L 7 AS 705/15 B – rechtskräftig

Regelleistung und Kosten der Unterkunft für polnische Antragstellerin im Eilverfahren.

Leitsatz (Autor)
1. Erscheint aufgrund der psychischen Erkrankung die Erwerbsfähigkeit zumindest fraglich, ist Allerdings das Jobcenter – über den Wortlaut von § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hinaus – ohnehin verpflichtet, auch bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin in Ermangelung einer Abstimmung mit dem Leistungsträger nach dem SGB XII Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen (Urteil des Senats vom 23.04.2015 – L 7 AS 1451/14).

2. Der Generalanwalt empfiehlt dem EuGH (Rn. 126 des Schlussantrags), die Vorlagefrage des BSG dahingehend zu beantworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat suchen, nachdem sie in den dortigen Arbeitsmarkt eingetreten waren, von bestimmten “besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen” im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung 883/2004 automatisch und ohne individuelle Prüfung ausschließt, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

3. Nach diesen Ausführungen, die zwar für den EuGH nicht bindend sind, mindestens aber die Komplexität der Rechtslage verdeutlichen, ist eine Unwirksamkeit des Leistungsausschlusses gegenüber der Antragstellerin offen.

4. Die Versagung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung führt unmittelbar und sogleich zu einer Bedarfsunterdeckung, die bei glaubhaft gemachter Hilfebedürftigkeit den Kernbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums berührt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.8 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.06.2015 – L 19 AS 909/15 B ER – rechtskräftig

Aufforderung zur Beantragung von Altersrente – Bescheid des JC ist wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig – Ermessenfehlgebrauch – aufschiebende Wirkung der Klage

Der Grundsicherungsträger ist bei der Ermessensausübung gehalten, sich mit den vorgetragenen Einwänden des Betroffenen auseinanderzusetzen.

Leitsätze (Autor)
1. Auch die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrags steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. Beschluss des Senats vom 26.01.2015 – L 19 AS 1969/14 B – m.w.N.).

2. Der Grundsicherungsträger ist bei der Ermessensausübung gehalten, sich mit den vorgetragenen Einwänden des Betroffenen auseinanderzusetzen. Er hat die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles abzuwägen, d. h. er ist gehalten, auf die für die Ermessensentscheidung relevanten Verhältnisse des Einzelfalles einzugehen, auch wenn er sich für eine Ermessensentscheidung auf allgemeine Grundsätze berufen will. Den für seine Entscheidung benötigten Sachverhalt hat er ggf. von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei u.a. der Mitwirkung der Beteiligten bedienen.

3. Das JC hat weder die voraussichtliche Höhe der abschlagsfreien Nettoaltersrente (Bruttorente minus Beitrag zur Krankenversicherung- und Pflegeversicherung) noch die voraussichtliche Höhe der vorgezogenen Nettoaltersrente (Bruttorente minus Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag) ermittelt.

4. Ein Abwägungsdefizit liegt vor, wenn der Antragsteller pauschal behauptet, dass er durch den Bezug einer vorgezogenen Altersrente sozialhilfebedürftig werde, ohne dass er dies detailliert dargelegt oder belegt hätte, obwohl ihm dies aufgrund der ihm vorliegenden Renteninformationen möglich gewesen wäre.

5. Diese das Verfahren verzögernde Verhaltensweise rechtfertigt aber nicht, dass das JC seiner aus §§ 20, 21 SGB X ergebenden Amtsermittlungspflicht nicht nachkommt. Vielmehr hätte er den Antragsteller unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflichten aus § 60 SGB I und den daraus ergebenden Beweisnachteilen im Fall ihrer Verletzung, zur Vorlage der vollständigen Renteninformation einschließlich aller Anlagen, ggf. unter kurzer Fristsetzung, auffordern können und müssen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
S. a. zum Ermessenfehlgebrauch – Überprüfung einer Ermessensentscheidung – Abwägungsdefizit – LSG NRW, Beschluss vom 26.01.2015 – L 19 AS 1969/14 B ER

2.9 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.06.2015 – L 6 AS 833/15 B ER – rechtskräftig

Das Jobcenter wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den bulgarischen Antragstellerinnen vorläufig Leistungen nach dem SGB II als Regelbedarf und Kosten für die stadteigene Unterkunft nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Leitsatz (Autor)
1. Dem Antragsteller stehen die beantragten vorläufigen Leistungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 (Nr. 2) SGB III zu (im Ergebnis ebenso LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 27.05. 2014 – L 34 AS 1150/14 B ER).

2. Der Leistungsanspruch aus § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II erstreckt sich auch auf die anteilige kommunale Nutzungsgebühr der Antragstellerinnen für die u.a. mit den Eltern/Großeltern bewohnte Unterkunft als eine Geldleistung für angemessene Unterkunftsaufwendungen. (vgl. bereits LSG für das Saarland 13.04.2010 – L 9 AS 18/09).

3. Kein Abwarten der Räumungsklage wegen Mietrückständen, denn schon zu einem früheren Zeitpunkt können wesentliche Nachteile zu gewärtigen sein, die ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar erscheinen lassen ((LSG NRW Beschluss vom 29.01.2015 – L 6 AS 2085/14 B ER).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.10 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.04.2015 – L 32 AS 1916/13

Zur Übernahme der Kosten einer abzuschließenden Hausratversicherung als Mehrbedarf.

Leitsatz (Autor)
1. Ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II kommt als Übernahme von Kosten einer Hausratversicherung nicht in Betracht.

2. Es handelt sich nicht um einen Mehrbedarf, der unabweisbar ist, denn wenn die durch eine Hausratversicherung abzudeckenden Gefahren zukünftig tatsächlich eintreten sollten, besteht dann Anspruch auf den genannten Sonderbedarf, der dieselben Risiken wie die abzuschließende Hausratversicherung abdeckt (Sonderbedarf nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 und 2 erste Alternative SGB II).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.11 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.05.2015 – L 7 AS 365/15 B ER

Eingliederungsvereinbarung im einstweiligen Rechtsschutz

Leitsätze (Juris)
1. Einstweiliger Rechtsschutz gegen eine von den Beteiligten abgeschlossene Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II ist in Form einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG statthaft. Antragsziel ist die vorläufige Feststellung der Unwirksamkeit/Nichtigkeit der Eingliederungsvereinbarung oder einzelner Pflichten.

2. Auch im Eilverfahren ist ein berechtigtes Feststellungsinteresse erforderlich. Dies kann sich auf die vorläufige Suspendierung von vereinbarten Pflichten beziehen oder auf künftige Sanktionen. Bzgl. künftiger Sanktionen handelt es sich um vorbeugenden Rechtsschutz. Das dafür nötige qualifizierte Feststellungsinteresse fehlt, wenn nachträglicher Rechtsschutz möglich und ausreichend ist.

3. Der Eilantrag ist begründet, wenn ein Anspruch auf die begehrte Feststellung glaubhaft ist (Anordnungsanspruch) und wenn glaubhaft ist, dass die Feststellung eilbedürftig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund). Beim Anordnungsanspruch ist der begrenzte Prüfungsrahmen für öffentlich rechtliche Verträge zu beachten.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de              

2.12 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 23.06.2015 – L 7 AS 750/13

Normen: § 8 SGB X, § 31 SGB X, § 44 SGB X – Schlagworte: Bescheidung mehrerer Überprüfungsanträge in einem Bescheid, Zulässigkeit gesonderter Widersprüche und Klagen, F+B-Gutachten, Göttingen

Leitsatz (Autor)
1. Auch im Falle, dass der Leistungsträger mehrere separate Überprüfungsverfahren gegen verschiedene Leistungsbescheide in einem Bescheid zusammenfasst, ist es dem Leistungsberechtigten nicht verwehrt, separate Widersprüche zu erheben.

2. Auch die Erhebung gesonderter Klagen gegen einen Widerspruchsbescheid ist möglich. Hierin sei kein Fall anderweitiger Rechtshängigkeit zu sehen.

3. Es ist der Klägerin grundsätzlich freigestellt, den dann “vollumfänglichen” Widerspruchsbescheid mittels nur einer Klage anzugreifen, oder aber gegen jede einzelne Regelung im Sinne des § 31 SGB X gesondert Klage zu erheben. Die so einzeln erhobenen Klagen sind daher weder wegen anderweitiger Rechtshängigkeit nach § 202 SGG in Verbindung mit § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG noch mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig (wie hier: Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 24. Juli 2012 – L 4 AS 1353/11 B).

Quelle: Rechtsanwalt Sven Adam: www.anwaltskanzlei-adam.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Leipzig, Urteil vom 16.06.2015 – S 24 AS 2264/14 – Die Berufung wird zugelassen.

Zur Vereinbarkeit der Sanktionen für Unter-25-Jährige nach § 31a Abs 2 S 1 SGB 2 mit Art 3 Abs 1 GG.

Hartz IV- Sanktionen gegen erwerbsfähige Unter-25-Jährige Hilfebedürftige sind nicht verfassungswidrig.

Leitsätze (Autor)
1. Die Regelung des § 31a Abs. 2 S. 1 SGB II, die bei einer ersten Pflichtverletzung eine Minderung i. H… v. 100 % des maßgebenden Regelbedarfs vorsieht, verstößt insbesondere nicht gegen das aus Art. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) hergeleitete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (a. A… u. a. SG Gotha, Beschluss vom 26.05.2015 – S 15 AS 5157/14 – beim Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/15 geführt).

2. § 31a Abs. 2 S. 1 SGB II ist auch im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG – entgegen den in der rechtswissenschaftlichen Literatur geäußerten kritischen Stimmen (vgl. statt vieler Berlit, in: LPK-SGB II, 5. Auflage, § 31a Rn. 6 ff. m. w. N…) – nicht verfassungswidrig.

3. Die Ungleichbehandlung von Über-25-Jährigen und Unter-25-Jährigen ist auch erforderlich und verfassungsrechtlich gerechtfertigt, also verhältnismäßig.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
S. a. SG Aachen, Beschluss vom 16.06.2015 – S 14 AS 513/15 ER – 100% Sanktion für über 25 jährigen Leistungsbezieher nicht rechtswidrig – Das derzeit geltende Sanktionsrecht nach den § 31 ff. SGB II verstößt nicht gegen das aus Art. 1 Grundgesetz i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) hergeleitete menschenwürdige Existenzminimum.

S. a. SG Leipzig bestätigt Kürzung des “Hartz IV”-Regelbedarfs um 100% – zu SG Leipzig, Urteil vom 16.06.2015 – S 24 AS 2264/14

Der im Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) vorgesehene vollständige Wegfall des Regelbedarfs beim erstmaligen Pflichtverstoß eines Leistungsempfängers, der das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das hat das Sozialgericht Leipzig mit Urteil vom 16.06.2015 entschieden. Nach Auffassung des Gerichts liege weder ein Verstoß gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vor noch sei der allgemeine Gleichheitssatz verletzt (Az.: S 24 AS 2264/14 – nicht rechtskräftig).

weiterlesen: rsw.beck.de

S. a. 01.07.2015 – Kürzung des “Hartz IV”-Regelbedarfs um 100% wegen Pflichtverletzung eines Unter-25-Jährigen ist rechtmäßig – Pressemitteilung SG Leipzig

weiterlesen: www.justiz.sachsen.de

S. a. Aufsatz von Prof. Dr. Uwe, Berlit, abgedruckt in info also 5/2013 – Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?

www.info-also.nomos.de

S. a. Ganz weg, ein wenig weg, so lassen, wie es ist oder noch härter auch für die Älteren. Sanktionen im Hartz IV-System vor dem Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages, ein Beitrag von Prof. Dr. Stefan Sell.

weiterlesen: aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de

3.2 – Sozialgericht Aachen, Beschluss vom 16.06.2015 – S 14 AS 513/15 ER

100% Sanktion für über 25 jährigen Leistungsbezieher nicht rechtswidrig – Eingliederungsvereinbarung – Nachweis der Eigenbemühungen – Pflicht einer Dokumentation von sechs Bewerbungen monatlich nicht nachgekommen – Bewerbungskosten – Verfassungswidrigkeit des Sanktionsrechts – Kenntnis der Rechtsfolgen wegen einer bereits zuvor verwirkten 100%igen Leistungskürzung wegen einer identischen Pflichtverletzung – Aufhebung der Bewilligungsentscheidung nach § 48 SGB X
SG Aachen  bestätigt Kürzung des “Hartz IV”-Regelbedarfs um 100%

Leitsätze (Autor)
1. Nach der in der Eingliederungsvereinbarung übernommenen Pflicht, liegt der Zugang der Nachweise von Initiativbewerbungen im Verantwortungsbereich des Leistungsbeziehers. Die Eingliederungsvereinbarung begnügt sich nicht mit der Pflicht der Dokumentation. Vielmehr wird dem Antragsteller die personengebunden unaufgeforderte Vorlage bei seinem persönlichen Ansprechpartner nach § 14 S. 2 SGB II auferlegt.

2. Der Sanktionierte hatte auch Kenntnis der Rechtsfolgen iSv § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II, denn Aufgrund der bereits zuvor verwirkten 100%igen Leistungskürzung wegen einer identischen Pflichtverletzung und aufgrund des dem Antragsteller bekannten Umstandes, dass eine vollständige Leistungskürzung nur deshalb nicht zur Umsetzung gelangte, weil der Sanktionierte den Zugang der Entscheidung bestritt, ist ohnehin von einer Kenntnis des Antragstellers hinsichtlich der Rechtsfolgen zum Zeitpunkt seines Pflichtverstoßes auszugehen.

3. Das derzeit geltende Sanktionsrecht nach den § 31 ff. SGB II verstößt nicht gegen das aus Art. 1 Grundgesetz i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) hergeleitete menschenwürdige Existenzminimum (vgl. dazu BVerfG v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09).

4. Auch in der Rechtsprechung wurde die Verfassungsmäßigkeit des Sanktionsrechts bisher nicht durchschlagend in Frage gestellt (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.2015 -B 14 AS 19/14 R; BSG v. 09.11.2010 – B 4 AS 27/10 R; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09. September 2009 – L 7 B 211/09 AS ER ; LSG Berlin-Brandenburg v. 08.10.2010 – L 29 AS 1420/10 B; LSG Niedersachsen-Bremen v. 21.04.2010 – L 13 AS 100/10 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – L 10 B 2154/08 AS ER).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.3 – Sozialgericht Frankfurt, Urteil vom 11.06.2015 – S 26 AS 795/13 – (in Anlehnung an BSG, Urt. v. 09.11.2010 – B 4 AS 27/10 R)

Nichtwahrnehmung eines Meldetermins – Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Vorlage einer Reiseunfähigkeitsbescheinigung (hier bejahend) – Beweislast des Hilfebedürftigen – Schweigepflichtentbindungserklärung

Hinweis des Gerichts:
Einem Hartz IV-Bezieher dürfen die Leistungen ausnahmsweise auch gekürzt werden, wenn er zu einem Termin bei der Behörde nicht erscheint und hierzu nur eine Krankschreibung vorlegt, nicht aber die verlangte Reiseunfähigkeitsbescheinigung.

Quelle: PM Frankfurt am Main, den 2. Juli 2015 1/15

3.4 – SG Gießen, Urteil vom 05.05.2015 – S 22 AS 629/13

Ehepaar darf zu viel gezahlte Grundsicherungsleistungen behalten, wenn die Behörde die Leistungsbewilligung nicht innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknimmt, welche die Rücknahme der Zahlungen für die Vergangenheit rechtfertigten.

Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen v. 29.06.2015: dejure.org

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.03.2015 – L 15 SO 285/13

VO zur Durchführung des § 90 Abs 2 Nr 9 des SGB XII – Schonvermögen

Leitsatz (Autor)
Eine Differenzierung der Vermögensfreigrenzen im SGB II und im SGB XII ist verfassungsgemäß.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Asylrecht

5.1 – Sozialgericht Detmold, Beschluss vom 02.04.2015 – S 2 SO 102/15 ER – rechtskräftig

Bei Asylanerkennung besteht eine staatliche Unterhaltspflicht auch wenn sich die Kirche zuvor zu Unterhaltszahlungen verpflichtet hat.

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6.   BFH, Urt. v. 05.02.2015 – III R 19/14: Rückwirkender Aufenthaltstitel bringt kein rückwirkendes Kindergeld

BFH, Urt. v. 05.02.2015 – III R 19/14

Erteilt die Ausländerbehörde Ausländern aus Nicht-EU-Staaten rückwirkend eine Aufenthaltserlaubnis mitsamt Arbeitsgenehmigung, besteht deshalb noch kein rückwirkender Anspruch auf Kindergeld. Denn das Kindergeld kann erst dann gewährt werden, wenn der entsprechende Aufenthaltstitel im wahrsten Sinne des Wortes in Händen gehalten werden kann.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen müsse der Ausländer den Aufenthaltstitel “besitzen”, um Kindergeld erhalten zu können.

Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer – Maßgeblichkeit des tatsächlichen “Besitzes” eines aufenthaltsrechtlichen Titels – Aussetzung des Klageverfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren

Leitsätze
Erteilt die Ausländerbehörde rückwirkend einen Aufenthaltstitel, der nach § 62 Abs. 2 EStG zur Inanspruchnahme von Kindergeld berechtigt, so hat dies kindergeldrechtlich keine Rückwirkung. Für den Anspruch auf Kindergeld ist vielmehr der “Besitz” eines solchen Aufenthaltstitels erforderlich. Dies setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte den Titel im maßgeblichen Anspruchszeitraum tatsächlich in den Händen hält.

7.   Streit um SGB-II-Sanktionen, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt, Kiel

“Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.”
Da sieht man, was die Kommunen von Ihren Bürgern und die Arbeitgeber von ihren Arbeitnehmern halten.

weiterlesen: sozialberatung-kiel.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de