Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 29/2015

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 24.04.2015 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 24.04.2015 – B 4 AS 22/14 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – frühzeitiger Antrag auf Arbeitslosengeld II für die Zeit nach Haftentlassung – Unzulässigkeit der Antragsrücknahme oder -verschiebung im Hinblick auf den Bezug von Überbrückungsgeld nach Haftentlassung – Einkommens- oder Vermögensberücksichtigung – sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Leitsätze (Autor)
1. Eine Antragsrücknahme (hier wegen des Zuflusses von Überbrückungsgeld) ist nach Zugang des Antrags nicht mehr möglich, wenn – wie hier – eine materiell-rechtliche Leistungsvoraussetzung verändert werden soll.

2. Es handelt sich insoweit um eine im Grundsicherungsrecht nicht zulässige einseitige Disposition über die Gestaltung des Sozialrechtsverhältnisses. Sie bewirkt einen nachträglichen Eingriff in die materiell-rechtliche Rechtslage, wie sie sich zu Beginn des durch den Antrag eröffneten Verwaltungsverfahrens darstellt.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.06.2015 – L 4 AS 249/15 B ER und – L 4 AS 248/15 B

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen – Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente – Anforderungen an die Ermessensausübung

Leitsatz (Autor)
1. Der Auffassung, der SGB II-Träger habe die wirtschaftlichen Folgen der vorzeitigen Renteninanspruchnahme umfassend zu prüfen und dabei auch den Träger des SGB XII mit einzubeziehen, wird nicht gefolgt (a. A. LSG Sachsen-Anhalt vom 10. Dezember 2014, L 2 AS 520/14 B ER).

2. Die Forderung einer Inzidentprüfung von künftigen Sozialhilfeleistungen verkennt, dass u.a. in § 12a SGB II der Nachrang der SGB II-Leistungen bei Rentenansprüchen bereits gesetzlich vorgegeben ist. Wegen dieses Vorrangs anderer Sozialleistungen besteht eine generelle Pflicht des Leistungsberechtigten sich zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit vorrangiger Leistungen anderer Sozialleistungsträger zu bedienen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 12.02.2015 – L 3 AS 643/13

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Eingliederungsleistungen an Selbständige – Eingliederung von Selbstständigen nach § 16c SGB II – wirtschaftliche Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit

Leitsätze (Autor)
1. Die vom Antragsteller ausgeübte selbstständige Tätigkeit ist wirtschaftlich nicht tragfähig. Wirtschaftlich tragfähig im Sinne von § 16c Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. (seit 1. April 2012: § 16c Abs. 3 Satz 1 SGB II) ist eine selbständige Tätigkeit, wenn der erzielte Gewinn wenigstens die Betriebsausgabe deckt.

2. Fehlt es damit der Tätigkeit auf unabsehbare Zeit an der wirtschaftlichen Perspektive und ist nicht absehbar, ob eine Überwindung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit durch sie erreicht werden kann, ist kein Raum für eine Ermessensentscheidung des Leistungsträgers über den Förderantrag.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Ebenso LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 9. September 2011 – L 3 AS 326/11 B ER

2.3 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 16.06.2015 – L 9 AS 828/15

Zur Rechtmäßigkeit eines endgültigen Leistungsbewilligung bei erstmaliger Einkommenserzielung durch den Leistungsberechtigten.

Leitsatz (Autor)
Trotz Zuflusses erst am letzten Tag des Monats war das Junigehalt im Juni zur Deckung des Lebensunterhalts des Hilfebedürftigen einzusetzen (ständige Rspr. des BSG, vgl. nur Urteil vom 17.07.2014, B 14 AS 25/13 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.07.2015 – L 6 AS 41/15 B ER

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Zweifel an den Mietobergrenzen für Hartz IV Bezieher in der Stadt Neumünster, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

weiterlesen: sozialberatung-kiel.de

2.5 – Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 20.05.2015 – L 4 AS 285/12 – rechtskräftig

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Widerspruchsverfahren gegen vorläufige Entscheidung – Unzulässigkeit eines Widerspruchs gegen ersetzenden endgültigen Verwaltungsakt während des Vorverfahrens

Leitsätze (Juris)
1. Hat ein Leistungsberechtigter gegen einen vorläufigen Bewilligungsbescheid zu Leistungen nach dem SGB II Klage erhoben, wird nicht nur der nachfolgende Bescheid, der die Leistungen für denselben Bewilligungsabschnitt endgültig festsetzt, sondern auch der Bescheid, der in dessen Folge die überzahlten Beträge erstattet verlangt, nach § 96 SGG Gegenstand dieses Klageverfahrens.

2. Die Klärung der Frage, in welchem Umfang ein Verwaltungsakt eine vorläufige Regelung i. S. d. § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III enthält, erfolgt durch Auslegung des Bescheides im Einzelfall.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. Juni 2014 – L 4 AS 55/12 R – § 86 SGG ist trotz Abweichungen im Wortlaut genauso wie § 96 SGG auszulegen. Hat der Leistungsberechtigter gegen einen vorläufigen Bewilligungsbescheid Widerspruch eingelegt, wird ein nachfolgender Bescheid, der die Leistung für denselben Bewilligungsabschnitt endgültig festsetzt und überzahlte Beträge zurückfordert, zum Gegenstand dieses Verwaltungsverfahrens. Ein gesonderter Widerspruch gegen den endgültigen Bescheid ist unzulässig.

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – SG Gießen, Urteil vom 09.06.2015 – S 28 AS 816/12

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit – Berücksichtigung von Betriebsausgaben – keine offensichtliche Unangemessenheit

Für die konkret ausgeübte Tätigkeit als Fitnesstrainer war die Anmietung von Räumlichkeiten erforderlich.

Selbständiger bedarf keiner Zustimmung des Jobcenters zur Anmietung von Räumlichkeiten.

Eine Begrenzung selbständiger Tätigkeit durch ein Zustimmungserfordernis vor der Anmietung von Räumlichkeiten (wie das grundsätzliche Erfordernis einer Zusicherung bei Anmietung von Wohnraum gem. § 22 Abs. 4 SGB II) kennt das Gesetz nicht.

Leitsätze (Autor)
Selbständige Aufstocker können Betriebsausgaben vom Einkommen absetzen, sofern sie nicht offensichtlich unangemessen sind. Maßstab ist eine Missbrauchsabwehr. Entscheidend ist, ob die Ausgabe aus Sicht eines verständigen wirtschaftlich handelnden Selbständigen vertretbar ist. Den Jobcentern ist es verwehrt, sich mit eigenen Sparvorschlägen an die Stelle des Selbständigen zu setzen (Anlehnung an BSG, Urt. v. 5.6.2014 – B 4 AS 31/13 R u. SG Berlin, Urt. v. 28.11.2014 – S 37 AS 11431/14).

3.2 – Sozialgericht Aachen, Beschluss vom 02.07.2015 – S 11 AS 577/15 ER

Gewährung von Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz bei Nachzug eines ausländischen Familienangehörigen zwecks Familienzusammenführung

Syrischer Staatsangehöriger hat Anspruch im Eilverfahren auf die Regelleistung.

Leitsatz (Autor)
1. Eine Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II scheidet aus, da sich das Aufenthaltsrechts der Antragstellerin erkennbar nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Es ergibt sich vielmehr zum Zwecke des Familiennachzugs (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 37/12 R).

2. Dem Wortlaut nach scheint die Antragstellerin in der Tat von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hinsichtlich dieses Ergebnisses bestehen indes verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Bedenken, die es erforderlich scheinen lassen, in Fällen wie dem vorliegenden, in dem es um den Familienzuzug zu Personen geht, die bestandskräftig als Flüchtling anerkannt sind, eine einschränkende Auslegung vorzunehmen. Diese Bedenken speisen sind insbesondere aus dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz – GG) sowie dem Zusammenspiel der rechtlichen Wertungen des SGB II mit denjenigen des Aufenthaltsrechts. Art. 6 Abs. 1 GG beinhaltet ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates, eine Institutsgarantie aber auch eine wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des die Ehe und Familie betreffenden öffentlichen Rechts enthält und nicht nur für Deutsche sondern auch für Ausländer gilt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.03.2014 – L 7 AS 326/14 B ER, unter Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.12.2009 – L 19 B 363/09 AS).

3. Hat aber ein Mitglied einer Ehe oder einer Familie einen entsprechenden Anspruch strahlt Art. 6 GG jedenfalls auch auf die Frage des Anspruch der übrigen Mitglieder aus.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Arbeitsförderung nach dem SGB III

4.1 – SG Karlsruhe Urteil vom 6.7.2015, S 5 AL 3838/14

Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe; Altersteilzeitvertrag; Verschulden; Wichtiger Grund; Maßgeblicher Zeitpunkt; Nahtloser Übergang in die Altersrente; Rentenabschlag; Nachträgliche Änderung der Rechtslage; Altersrente für besonders langjährig Versicherte

Leitsätze (Juris)
Löst ein Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss eines Altersteilzeitvertrags, so kann er sich auf einen wichtigen Grund für die Arbeitsaufgabe berufen, wenn er im Anschluss an die Altersteilzeit nahtlos in den Ruhestand wechseln will und dies prognostisch möglich erscheint, insbesondere nach der rentenrechtlichen Lage. Unerheblich ist, ob der Arbeitnehmer später entsprechend seiner ursprünglichen Absicht tatsächlich Altersrente beantragt oder ob er seine Pläne für den Ruhestand ändert, z.B. wegen einer neuen Rechtslage

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – SG Speyer, Urteil vom 13.05.2015 – S 1 AL 311/14 – Die Berufung wird zugelassen

Sperrzeit bei Altersteilzeitvereinbarung

Leitsätze (Juris)
1. Im Falle des Abschlusses einer Altersteilzeitvereinbarung ist ein wichtiger Grund iSd Sperrzeitregelung des § 159Abs 1 S 1 SGB III anzuerkennen, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss der Vereinbarung beabsichtigte endgültig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden und dies nach der Gesetzeslage auch möglich war (Anschluss an BSG vom 21.7.2009 B 7 AL 6/08 R).

2. Ändert der Arbeitnehmer nach Abschluss der Altersteilzeitvereinbarung allein im Hinblick auf das zum 1.7.2014 in Kraft getretene RV-Leistungsverbesserungsgesetz, mit dem eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte bereits ab dem vollendeten 63. Lebensjahr geschaffen wurde, seine Rentenpläne und wird hierdurch arbeitslos, liegt auch insoweit ein wichtiger Grund iSd § 159 Abs 1 S 1 SGB III vor, sofern der Arbeitnehmer zuvor vergebens versucht hat seine Altersteilzeitbeschäftigung entsprechend zu verlängern.

Quelle: www.mjv.rlp.de

5.   Zwangsverrentung durch Unrecht – Verleugnung des Eigentumsschutzes Artikel 14 Grundgesetz, ein Beitrag von Herbert Masslau

weiterlesen: herbertmasslau.de

6.   Kritik an den schlüssigen Konzepten von Analyse & Konzepte

In ihrem Artikel “Keine schlüssigen Konzepte durch Analyse & Konzepte” vom 04.06.2015 setzt sich Rechtsanwältin Monika Sehmsdorf, Weiden, mit von uns erstellten schlüssigen Konzepten zu den angemessenen Unterkunftskosten (KdU) auseinander.

Da die Kritik nicht sachgerecht ist und Behauptungen aufgestellt werden, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten, haben wir dies zum Anlass genommen, den Artikel entsprechend zu kommentieren und richtig zu stellen.

weiterlesen: www.analyse-konzepte.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de