Rechtsprechungsticker von Tacheles KW 37/2015

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 16.06.2015 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 4 AS 37/14 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Auszubildende – behinderter Mensch – Bezug von Ausbildungsgeld – Zuschuss zu den ungedeckten Aufwendungen für Unterkunft und Heizung – fiktive Bedarfsberechnung – keine Berücksichtigung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs 4 SGB 2 – kein Abzug von Erwerbstätigenpauschale und Erwerbstätigenfreibetrag vom Ausbildungsgeld

Leitsätze (Autor)
1. Auch als Auszubildender, der Teilhableistungen bezieht, ist er von Leistungen zu Sicherung der Lebensunterhalts iS des § 7 Abs 5 SGB II ausgeschlossen.

2. Ein als besondere Leistung für Auszubildende in Betracht kommender Anspruch auf einen Zuschuss zu den angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 7 SGB II aF bzw nach § 27 Abs 3 SGB II besteht nicht, weil der Antragsteller wegen seines Einkommens aus Ausbildungsgeld und Kindergeld keinen ungedeckten Unterkunftsbedarf hat. Dies folgt aus dem Vergleich zwischen der fiktiven Bedarfslage nach dem SGB II und der tatsächlichen Bedarfsdeckung durch anderes Einkommen, einschließlich Ausbildungsförderungsleistungen.

3. Bei der fiktiven Bedarfsberechnung bleibt ein Mehrbedarf nach § 21 Abs 4 SGB II unberücksichtigt, weil es sich dabei um einen ausbildungsgeprägten Bedarf handelt, der nicht durch Grundsicherungsleistungen gedeckt werden soll sondern durch die Teilhabeleistungen gedeckt wird.

4. Ausbildungsgeld ist als bedarfsorientierte spezifische Teilhabeleistung für behinderte Menschen kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit und somit nicht um eine Erwerbstätigenpauschale oder den Erwerbstätigenfreibetrag zu bereinigen.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 25.06.2015 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – BSG, Urteil vom 25.06.2015 – B 14 AS 17/14 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Nachzahlung von Asylbewerberleistungen

Leitsätze (Autor)
1. Nachzahlung von Sozialleistungen (von sogenannten Analog-Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz) sind gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II a.F. (jetzt: § 11a Abs. 1 SGB II) von der Einkommensanrechnung ausgeschlossen.

2. § 11 Abs 1 SGB II aF, der § 11a Abs 1 SGB II nF entspricht, enthält hinsichtlich des zu berücksichtigenden Einkommens nur eine lückenhafte Regelung, wie schon die Rechtsprechung zu den gemischten Bedarfsgemeinschaften zeigt.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – LSG Baden-Württemberg Urteil vom 9.9.2015 – L 1 AS 3579/15 B

Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis für einstweiligen Rechtsschutz bei Erreichbarkeit des angestrebten Zieles auf einfachere Weise

Leitsätze (Juris)
Das Rechtsschutzbedürfnis für die Durchführung eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens fehlt, wenn der im SGB-II-Leistungsbezug stehende Antragsteller eine unverzügliche (d.h. unter Abkürzung der normalen Bearbeitungszeit) Abänderung seiner Leistungsbewilligung begehrt und deren besondere Dringlichkeit dem Antragsgegner nicht dargelegt hat. Die (ggf. nochmalige) Kontaktierung des Antragsgegners mit dem Ziel, auf die Dringlichkeit besonders hinzuweisen, stellt keine unzumutbare Obliegenheit dar.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Ebenso LSG NRW, Beschluss vom 12.04.2012 – L 7 AS 372/12 B

3.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.05.2015 – L 7 AS 643/13 – Die Revision wird zugelassen.

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommenserzielung – Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen – Nichterstattung von 56 % der Kosten der Unterkunft – Abstellung auf den bei der Anspruchsberechnung berücksichtigten Bedarf vor Anrechnung von Einkommen

Leitsatz (Juris)
Maßgeblich für die Erstattungsbeschränkung nach § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II a. F. (jetzt: § 40 Abs. 4 Satz 1) ist der rechnerisch berücksichtigte Bedarf für Unterkunft (§ 22 Abs. 1 SGB II) und nicht der – ggf. nach Abzug von Einkommen – gewährte Auszahlungsbetrag.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Anmerkung:
So auch: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. August 2013 – L 20 AS 678/10

3.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 13. Senat, Beschluss vom 27.07.2015 -  L 13 AS 205/15 B ER

Einstweiliger Rechtsschutz – Anforderung an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – Arbeitslosengeld II – Kosten der Unterkunft und Heizung – Verwandtenmietverhältnisse – Einsatz von geschützten Einkommensteilen und Vermögen

Leitsätze (Juris)
1. Es ist überlegenswert, den Beschwerdewert in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach dem SGB II aufgrund des vorübergehenden Charakters des Eilverfahrens stets auf maximal sechs Monate zu begrenzen.

2. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes in Verfahren der Grundsicherung, in denen im Eilrechtsschutz die Gewährung von Kosten der Unterkunft und Heizung begehrt wird, ist stets eine Einzelfallentscheidung und einer Verallgemeinerung etwa in der Weise, ein solcher Anordnungsgrund sei stets erst mit der Kündigung oder mit der Erhebung der Räumungsklage des Vermieters anzunehmen, nicht zugänglich. Für Verwandtenmietverhältnisse gelten Besonderheiten.

3. Die Möglichkeit des Einsatzes leistungsrechtlich geschützter Einkommensanteile und frei verfügbarer leistungsrechtlich geschützter Vermögenspositionen steht der Annahme eines Anordnungsgrundes regelmäßig entgegen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

3.4 – Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 25.03.2015 – L 6 AS 166/12

6. Senat hält an seiner Rechtsprechung der Angemessenheit der Kieler Unterkunftskosten fest.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.5 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 28.07.2015 – L 5 AS 486/15 B ER

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags –

Die Frage, ob der Antragsteller in der Lage wäre, den Grundsicherungsbedarf mit einer vorzeitigen Altersrente voll zu decken, ist nicht von Bedeutung. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers ist auch dann deren vorzeitige Inanspruchnahme zuzumuten, wenn die Hilfebedürftigkeit lediglich verringert werden kann.

Leitsätze (Autor)
Die Frage der wirtschaftlichen Folgen der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente kann im Rahmen der Prüfung der Unbilligkeit schon aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden (so aber: Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 10. Dezember 2014, L 2 AS 520/14 B ER).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.6 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 22.07.2015 – L 4 AS 380/15 B ER und – L 4 AS 381/15 B – rechtskräftig

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS)

Leitsatz (Juris)
1. Eine darlehensweise Leistungsgewährung darf der SGB II-Leistungsträger nur dann von einer dinglichen Sicherung vorhandenen Grundvermögens abhängig machen, wenn feststeht, dass es sich um zu berücksichtigendes, verwertbares Vermögen handelt. Solange die Verwertbarkeit des Vermögens nicht geklärt ist, bleibt für eine dingliche Sicherung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kein Raum.

2. Provoziert der SGB II-Leistungsträger durch das Unterlassen notwendiger Ermittlungen die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtschutzes, kann dies dazu führen, dass ihm im Rahmen von § 193 SGG Kosten auferlegt werden

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.7 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 26.08.2015 – L 12 AS 2395/14

Die Umschulungsmaßnahme zum Immobilienkaufmann stellt eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben im Sinne des § 21 Abs. 4 SGB II dar.

Leitsätze (Autor)
Für die Bestimmung ist allein auf den Inhalt und Schwerpunkt der Maßnahme abzustellen. Es kommt allein darauf an, ob die Maßnahme final auf die in § 33 Absatz 1 SGB IX umschriebenen Ziele der Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben Leben ausgerichtet ist. In einem solchen Fall stellt sie eine Maßnahme der “beruflichen Rehabilitation” dar, deren Besuch den Anspruch auf Mehrbedarf auslöst (BSG, Urteil 06.04.2011, B 4 AS 3/10 R). Dies ist bei der Umschulung zum Immobilienkaufmann unzweifelhaft der Fall

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.8 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 27.08.2015 – L 7 AS 1161/14 – Die Revision wird zugelassen

Wer früher schon in Deutschland gearbeitet hatte, hat Anrecht auf SGB II- Leistungen

Hartz IV – Richter stärken die Stellung von Zuwanderern(Italiener)

Leitsatz (Autor)
Für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausgeübt haben, ist der automatische Leistungsausschluss unverhältnismäßig, wenn der Betroffene eine tatsächliche Verbindung zu dem Arbeitsmarkt des anderen Mitgliedstaats aufweist. Eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt kann sich aus familiären Umständen, einer effektiven und tatsächlichen Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums, einer früheren Erwerbstätigkeit im anderen Mitgliedstaat oder auch aus dem Umstand ergeben, dass der Betroffene nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.9 – Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 17.08.2015 – L 9 AS 618/14

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Entschädigungszahlungen für einen Nichtvermögensschaden wegen Benachteiligung eines schwerbehinderten Menschen – § 11a Abs. 2 SGB II

Leitsätze (Juris)
1. Von der Anrechnung als Einkommen nach § 11a Abs. 2 SGB II ausgenommen sind Zahlungen zum Ausgleich eines immateriellen Schadens nach § 15 Abs. 2 AGG, nicht aber Zahlungen zum Ausgleich eines materiellen Schadens nach § 15 Abs. 1 AGG.

2. Der Entschädigungscharakter einer in einem arbeitsgerichtlichen Vergleich vereinbarten Zahlung muss sich aus dem Vergleich selbst – unter Berücksichtigung des Gegenstands des arbeitsgerichtlichen Verfahrens – ergeben. Der auf diese Weise festzustellende Rechtsgrund der in einem arbeitsgerichtlichen Vergleich vereinbarten Zahlung kann nicht durch nachträgliche Ermittlungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit geändert werden.

3. Liegen die Voraussetzungen für einen Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X bzw. § 33 SGB II nicht vor, kann der übergeleitete Zahlbetrag vom Leistungsberechtigten im Wege des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs geltend gemacht werden.

4. Im Rahmen des § 33 SGB II ist eine Zeitraumidentität der Ansprüche ausreichend.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

4.1 – SG Aurich, Urteil v. 25.08.2015 – S 55 AS 100/14

Krankheitsbedingtes Untergewicht kann einen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV Leistungen) wegen kostenaufwändiger Ernährung bedeuten.

Hinweis des Gerichts
1. Nach Auffassung des Sozialgerichts sind die Mehrleistungen nach Einholung von Berichten der behandelnden Ärzte des Mannes zu gewähren. Der amtsärztlichen Stellungnahme komme schon deswegen keine überwiegende Beweiskraft zu, weil diese nicht aufgrund beigezogener Arztberichte und auch ohne Untersuchung des jungen Mannes erstellt worden sei. Die Berichte der Fachärzte hingegen belegten eine chronische Erkrankung und zeigten keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Untergewicht nicht durch die Krankheit hervorgerufen wurde.

2. Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, erhielten nach dem Gesetz (§ 21 Abs. 5 SGB II) einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Das zuständige Jobcenter habe die Voraussetzungen bei Leistungsempfängern medizinisch zu überprüfen, wenn es darauf hingewiesen wird. Für das Bestehen medizinischer Gründe in diesem Sinne gäben die “Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe” Hinweise. Diese Empfehlungen lägen in vierter aktualisierter Auflage vom 10.12.2014 vor. Sie besagten, dass bei chronisch kranken Menschen mit einem krankheitsbedingten BMI unter 18,5 von einem erhöhten Nahrungsbedarf auszugehen ist. Gebe es keine andere Ursache des Untergewichts, sei pro Monat ein Mehrbedarf von 10% der Regelbedarfsstufe 1 (aktuell 39,90 Euro) zu gewähren.

Quelle: Pressemitteilung 1/2015 des SG Aurich v. 10.09.2015, abgedruckt auf Juris: juris.de

Anmerkung:
So auch im Ergebnis: SG Gießen, Beschluss vom 09.07.2013 – S 22 AS 866/11 WA

4.2 – Sozialgericht Dresden, Urteil v. 21.08.2015 – S 40 AS 1713/13

Nicht zu folgen ist den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II, wonach mit der Geburt eines eigenen Kindes ausgeschlossen werden könne, dass die minderjährige Mutter selbst noch der Pflege und Erziehung durch die eigenen Eltern bedürfe. Der maßgebende Text der fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit laute: “Damit werden die tatsächlichen Lebensverhältnisse abgebildet. Es wird davon ausgegangen, dass ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung durch ein Kind, das selbst ein Kind hat, nicht mehr verursacht wird.”

Der Antragstellerin ist auch dann der Mehrbedarf für Alleinerziehende zu gewähren, wenn die minderjährige Tochter selbst bereits ein eigenes Kind hat. Denn durch die Geburt des Enkelkindes habe sich an der alleinigen Betreuung der minderjährigen und der Gestaltung der Lebensverhältnisse der Familie durch die Antragstellerin nichts geändert.

Leitsätze (Autor)
1. Es ist fernliegend, einzelne Gruppen von Teenagern – hier die jungen Mütter – die im Haushalt eines allein erziehenden Elternteils leben, vom Gesetzeswort gleichermaßen auszunehmen und für diese pauschal zu unterstellen, dass sie grundsätzlich nicht mehr der Pflege und Erziehung bedürften.

2. Der Mehrbedarf für Alleinerziehung ist der Mutter einer minderjährigen Tochter auch dann zu gewähren, wenn die Tochter bereits selbst Mutter ist. Das Gesetz stellt nämlich allein auf die Minderjährigkeit ab, ohne dass der konkrete Betreuungsaufwand geprüft werden muss.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
S. a. Pressemitteilung des Sozialgerichts Dresden

Hartz IV: Die Geburt eines Kindes durch eine Minderjährige lässt den Anspruch ihrer Mutter auf Mehrbedarf für Alleinerziehung unberührt.

Der Mehrbedarf für Alleinerziehung ist der Mutter einer minderjährigen Tochter auch dann zu gewähren, wenn die Tochter bereits selbst Mutter ist.

Quelle: www.justiz.sachsen.de

4.3 – Sozialgericht Dresden, Urteil vom 10.08.2015 – S 20 AS 1507/14

100 % Sanktionierung rechtswidrig – Zumutbarkeit einer Arbeit – gesundheitliche Einschränkungen – Arbeitgeber hätte kein Interesse an der Einstellung des Antragstellers in Anbetracht der gesundheitlichen Einschränkungen

Die vom Sozialgericht Gotha im Beschluss vom 26.05.2015 (S 15 AS 5157/14) geäußerten Bedenken an der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen des SGB II werden von der erkennenden Kammer geteilt.

Leitsätze (Autor)
1. Einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person ist demnach eine Arbeit zumutbar, es sei denn, dass sie zu der bestimmten Arbeit körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB II). Dem Antragsteller war die angebotene Arbeit zum Zeitpunkt des Zuganges des Vermittlungsvorschlages nicht zumutbar, da er zu ihr seelisch nicht in der Lage war.

2. Ferner war die Weigerung des Antragstellers, sich auf die angebotene Stelle zu bewerben, nicht kausal für die Verhinderung der Anbahnung der Arbeit. Denn der Arbeitgeber hätte kein Interesse an der Einstellung des Antragstellers aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen gehabt.

3. Die vom Sozialgericht Gotha im Beschluss vom 26.05.2015 (S 15 AS 5157/14) geäußerten Bedenken an der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen des SGB II werden von der erkennenden Kammer geteilt, was letztendlich offen bleiben kann, weil zwischenzeitlich alle Minderungen vom SG aufgehoben worden sind.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.4 – SG Hannover 70. Kammer, Beschluss vom 24.08.2015 – S 70 AS 1893/15 ER

Zur Rechtsstellung nicht arbeitssuchender EU Bürger

Leitsatz (Juris)
Nicht arbeitssuchende EU-Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sind nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von den Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, solange kein Feststellungsbescheid gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU und keine vollziehbare Ausreisepflicht im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG vorliegt. (Anschluss an LSG NRW, Urteil vom 10. Oktober 2013 – L 19 AS 129/13).

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4.5 – SG Hannover 82. Kammer, Beschluss vom 30.07.2015, S 82 AS 2607/15 ER

Bei dem Endbericht “Festlegung der Angemessenheitsgrenzen gemäß SGB II und SGB XII für die 21 Kommunen der Region Hannover 2015” (insbesondere Mietwerterhebung für die Landeshauptstadt Hannover 2015) handelt es sich nicht um ein “schlüssiges Konzept” im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

Leitsatz (Juris)
Die These, die “normativ das 33% Quantil festgelegt, welches das untere Drittel des Wohnungsmarktes als einfachen Wohnungsstandard festlegt”, erweist sich nicht als wissenschaftlich fundiert.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4.6 – Beschluss des Sozialgerichts München vom 23.07.2015 (Az. S 8 AS 1505/15 ER)

Orientierungssätze von Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht & Fachanwalt für Sozialrecht Mathias Klose:

1. Die einem SGB II-Empfänger in einem Eingliederungsverwaltungsakt durch das Jobcenter auferlegten Pflichten müssen dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechen, d.h. die Pflichten müssen klar und eindeutig bestimmt sein.

2. Die Pflicht, eine “detaillierte, schriftliche Ausarbeitung der jeweils ausgehändigten ‘Hausaufgabe’ vorzulegen” genügt dem Bestimmtheitsgebot nicht; ein Verstoß dagegen kann daher keine Sanktion rechtfertigen.

3. Eine Pflicht, Fragen schriftlich auszuarbeiten ist als Grundlage für eine integrationsorientierte Persönlichkeitsentwicklung nicht geeignet

Quelle: www.ra-klose.com

5.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – Pressemeldung 14/2015 Landessozialgericht RP – Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.08.2015 – L 5 SO 70/15 B ER

Anrechnung von russischen Renten bei der Sozialhilfe
Leistungen der russischen Rentenversicherung für Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges sowie für Träger des Zeichens “Überlebende der Blockade Leningrads” (sogenannte Invalidenrente, DEMO-Leistung, Erhöhungsbetrag zur Altersrente) sind als Einkommen anzurechnen und mindern die Sozialhilfe oder schließen sie sogar aus. Dies hat der 5. Senat des Landessozialgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden.

Quelle: www.mjv.rlp.de

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.08.2015 – L 5 SO 70/15 B ER

Sozialhilfe – Einkommenseinsatz – Leistungen der russischen Rentenversicherung – keine Vergleichbarkeit mit der Grundrente nach dem BVG

Zur Anrechnung von russischen Renten, die an Teilnehmer des “Großen vaterländischen Krieges” bzw. Träger des Zeichens “Überlebende der Blockade Leningrads” geleistet werden (hier bejahend)

Leitsätze (Autor)
1. Die von den Antragstellern aus Russland bezogenen Leistungen sind zwar nicht unmittelbar von der Ausnahmeregelung des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfasst. Diese Bestimmung ist jedoch aus Gründen der Gleichbehandlung auf ausländische Leistungen entsprechend anzuwenden, soweit sie nach Grund und Höhe einer anrechnungsfreien Grundrente im Sinne dieser Regelung vergleichbar sind (BSG 5.9.2007 – B 11b AS 49/06 R).

2. Soweit mangels Vergleichbarkeit der Leistungen eine entsprechende Anwendung des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht in Betracht kommt, ist auch eine Privilegierung nach § 83 SGB XII ausgeschlossen, da § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB V hinsichtlich der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und vergleichbarer Leistungen die speziellere Regelung darstellt, die einen Rückgriff auf andere Privilegierungstatbestände ausschließt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 02.07.2015 – L 8 SO 17/15 B ER – rechtskräftig

Angelegenheiten nach dem SGB XII (SO)

Leitsatz (Juris)
Es besteht kein Anordnungsanspruch für eine einstweiligen Anordnung, mit der im Wege der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII im Rahmen eines Persönlichen Budgets vorläufig Kosten für eine wissenschaftliche Assistenz während des Studiums übernommen werden sollen, solange nicht geklärt ist, ob die begehrte Hilfestellung durch den wissenschaftlichen Assistenten als Dritten hochschulrechtlich überhaupt zulässig ist. Es daher kann dahinstehen, dass nicht erkennbar ist, ob die begehrte Leistung (im Umfang von fünf Wochenstunden) zur Überbrückung einer Phase des Hilfebedarfs oder dauerhaft für die Zeit des weiteren Studiums benötigt wird

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

6.1 – SG Rostock 8. Kammer, Urteil vom 11.08.2015 – S 8 SO 106/12

Streitigkeiten nach dem SGB XII

1. Im Sozialhilferecht richtet sich der Bedarf einer erwachsenen leistungsberechtigten Person bei Leistungen für den Lebensunterhalt im Grundsatz nach der Regelbedarfsstufe 1 auch dann, wenn sie mit ihren Eltern in einer Haushaltsgemeinschaft lebt (Anschluss an BSG, Urt. v. 23.07.2014 – B 8 SO 31/12 R -).

2. Jedenfalls bei einer leistungsberechtigten Person mit einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen aG) sind die Beiträge zur Kfz Haftpflichtversicherung für einen tatsächlich mehrfach wöchentlich selbst genutzten PKW nach § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII vom Einkommen abzusetzen. In einem solchen Fall ist ein angemessener PKW nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII geschütztes Vermögen, weil seine Verwertung eine Härte bedeuten würde.

3. Der Begriff des Eintritts in den Ruhestand in § 168 Abs. 3 VVG (unwiderrufliche Verwertungsausschlüsse bei für die Altersvorsorge bestimmten Versicherungsverträgen) ist so auszulegen, dass er mit den spezifischen Regelungen zur Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit des Vermögens im SGB XII ebenso harmoniert, wie er dies im Verhältnis zu § 12 Abs. 2 Nr. 3 SGB II tut.

4. Daher sind Personen, die Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung haben und folglich endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, als bereits im Ruhestand im Sinne des § 168 Abs. 3 VVG befindlich anzusehen mit der Folge, dass diese Personen einen Verwertungsausschluss nach § 168 Abs. 3 VVG nicht mehr wirksam vereinbaren können, weil diese Regelung Verwertungsausschlüsse für die Zeit nach dem Eintritt in den Ruhestand nicht zulässt und folglich die jederzeitige Kündigungsmöglichkeit zum Schluss der laufenden Versicherungsperiode nach § 168 Abs. 1 VVG weiterhin besteht.

5. Da nach § 171 Satz 1 VVG u.a. von § 168 VVG nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers, der versicherten Person oder des Eintrittsberechtigten abgewichen werden kann, sind nach dem Eintritt in den Ruhestand vereinbarte Verwertungsausschlüsse auch zivilrechtlich unwirksam (§ 134 BGB).

6. Die Frage, ob Verwertungsausschlüsse, die vor dem Eintritt in den Ruhestand abgeschlossen werden und die Verwertung bis zum (frühestmöglichen) Eintritt in die Altersrente unwiderruflich ausschließen, ohne Möglichkeiten eines vorzeitigen endgültigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben (etwa durch den Eintritt einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung) zu berücksichtigen, wirksam sind, bedarf hier keiner Entscheidung.

7. Gleichwohl konnte der Kläger hier seine Versicherungen in den streitgegenständlichen Zeiträumen und in einem angemessenen Zeitraum darüber hinaus nicht verwerten, weil angesichts der vereinbarten Verwertungsausschlüsse davon auszugehen ist, dass die Versicherungsgesellschaften eine Kündigung oder sonstige Verwertung der Versicherungen durch den Kläger nicht akzeptiert hätten und auch sonstige Akteure des Wirtschaftslebens sich angesichts der Verwertungsausschlüsse nicht bereitgefunden hätten, die Versicherungen des Klägers zu beleihen oder anzukaufen.

8. Für die Zukunft wird der Kläger eine etwaige fortbestehende Unverwertbarkeit der Versicherungen durch Darlegung seiner darauf gerichteten Bemühungen und Bezeichnung geeigneter Beweismittel zu beweisen haben.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

6.2 – Sozialgericht Landshut, Urteil v. 27.08.2015 – S 11 SO 22/13

Streitigkeiten nach dem SGB XII (Sozialhilfe)

Leitsätze (Juris)
1. Ein Anspruch auf ergänzende Pflegekraftkosten nach § 65 Abs. 1 SGB XII besteht grundsätzlich nur dann, wenn die Sachleistung der Pflegeversicherung nach § 36 SGB XI voll in Anspruch genommen wurde. Dabei ist bei ausschließlichem Bezug von Pflegegeld ein mangels Sachleistungsbezug fiktiver, Leistungen nach § 36 SGB XI überschreitender und Ansprüche nach § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auslösender Aufstockungsbedarf durch die Behörde nicht zu ermitteln (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 1. Oktober 2014 – L 4 SO 41/10).

2. Die Einordnung einer beanspruchten Leistung als Maßnahme der Eingliederungshilfe oder als Maßnahme der Hilfe zur Pflege vollzieht sich nach dem konkreten Ziel der Hilfe. Von einer Maßnahme der Hilfe zur Pflege ist dann auszugehen, wenn in erster Linie mit bewahrendem Charakter vornehmlich unter Ausweitung von Pflegeleistungen der Zweck der Sicherung der Existenz durch regelmäßig wiederkehrende notwendige Hilfen verfolgt wird. Ob daneben auch Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht werden, ist unerheblich.

3. Die einen allgemeinen Rechtssatz beinhaltende Regelung des § 366 BGB findet nach § 61 Satz 1 SGB X auch innerhalb der Sozialgesetzbücher Anwendung.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.3 – SG Gießen, Beschluss v. 02.09.2015 – S 18 SO 131/15 ER

Anspruch eines behinderten Schülers auf Schulbegleiter für schulisches Nachmittagsangebot

Leitsatz (Autor)
1. Der Anspruch auf einen Schulbegleiter besteht auch für die Zeit der Teilnahme an den Nachmittagsangeboten der offenen Ganztagsschule.

2. Die Bestimmungen umfassten nicht nur den Pflichtunterricht in der Schule, sondern auch die nachmittägliche Betreuung, die geprägt von schulischen Inhalten sei, und diese stützten und förderten.

Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen v. 08.09.2015: www.juris.de

7.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Asylrecht

7.1 – Sozialgericht Landshut, Urteil v. 27.08.2015 – S 11 AY 9/15

Asylbewerberleistung – kein pauschaler Mehrbedarf wegen Schwangerschaft

Ein Anspruch auf pauschalierte Mehrbedarfsleistungen für Schwangere kann nicht aus einer analogen Anwendung von § 30 Abs. 2 SGB XII hergeleitet werden.

Leitsätze (Juris)
Nach § 1 Abs. 1 AsylbLG haben Leistungsberechtigte wegen Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage keinen Anspruch auf einen pauschalen Mehrbedarf wegen Schwangerschaft. Mangels Regelungslücke kann ein solcher Anspruch auch nicht aus einer analogen Anwendung von § 30 Abs. 2 SGB XII hergeleitet werden. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (Az: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Autor des Rechtsprechungstickers: Willi 2 von Tacheles – alias Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de