Verwaltungsgericht Stuttgart – Urteil vom 22.10.2015 – Az.: 1 K 5060/13

URTEIL

In der Verwaltungsrechtssache

xxx,
– Kläger –

prozessbevollmächtigt:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, Az: 0575/13sva
Beistand:
Herrn Ass. iur. Alexander Tischbirek,

gegen

Bundesrepublik Deutschland,
vertreten durch die Bundespolizeidirektion Stuttgart,
– Beklagter –

wegen Personalienfeststellung

hat das Verwaltungsgericht Stuttgart – 1. Kammer – durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht xxx, den Richter am Verwaltungsgericht xxx und die Richterin xxx sowie durch den ehrenamtlichen Richter xxx und die ehrenamtliche Richterin xxx auf die mündliche Verhandlung
vom 22. Oktober 2015
für Recht erkannt:

Es wird festgestellt, dass die von Beamten der Beklagten am 19.11.2013 im ICE 377 zwischen Baden-Baden und Offenburg durchgeführte Identitätsfeststellung und der anschließend erfolgte Datenabgleich rechtswidrig gewesen sind.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Berufung wird zugelassen.

TATBESTAND
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer durch die Bundespolizei vorgenommenen Identitätsfeststellung und des anschließend erfolgten Datenabgleichs.

Der 1985 in Kabul geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger afghanischer Abstammung. Am 19.11.2013 befand er sich im Rahmen einer Geschäftsreise in der 1. Klasse des ICE 377 von Berlin nach Freiburg. Im Waggon befanden sich weitere sechs bis sieben Personen. Auf dem Streckenabschnitt zwischen Baden-Baden und Offenburg wurde der Kläger gegen 22:30 Uhr von drei Beamten der Bundespolizei angesprochen und aufgefordert, sich auszuweisen. Der Kläger zeigte seinen deutschen Personalausweis vor und händigte diesen Polizeikommissar H. aus. Sodann äußerte er gegenüber den Beamten, dass die Personalienfeststellung in dieser Form rechtswidrig sei, und forderte die Beamten zur Herausgabe ihrer Namen bzw. Dienstnummern auf. Polizeikommissar H. führte anhand des Personalausweises des Klägers einen Datenabgleich durch und teilte dem Kläger anschließend die Dienststellen und -nummern der drei Polizeibeamten mit. Weitere Personen wurden in dem Waggon nicht kontrolliert. Die Beamten verließen nach der Feststellung der Personalien des Klägers den Bereich der 1. Klasse.

Der Kläger hat am 18.12.2013 Klage erhoben, mit der er die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Personalienfeststellung begehrt. Er trägt vor, die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart zulässig. Er sei trotz Erledigung des Verwaltungsakts klagebefugt, da durch die Personalienfeststellung in seine allgemeine Handlungsfreiheit und in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen worden sei. Das Feststellungsinteresse ergebe sich aus seinem Rehabilitationsinteresse, aus der bestehenden Wiederholungsgefahr und schließlich auch aus nachhaltiger Grundrechtsbetroffenheit. Die Personalienfeststellung sei ferner materiell rechtswidrig erfolgt. Die von der Beklagten angeführte Ermächtigungsgrundlage, § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG, verstoße gegen Europarecht. Sie sei nach den Grundsätzen des sogenannten Melki-Urteils des Europäischen Gerichtshofs nicht mit den Art. 20, 21 der Verordnung der Europäischen Gemeinschaft Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) vereinbar. Die einzig alternativ in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 22 Abs. 1a BPoIG sei den gleichen rechtlichen Bedenken ausgesetzt. Zudem lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs. 1a BPolG nicht vor. Hinweise auf eine migrationsrechtswidrige Nutzung des kontrollierten ICE 377 seien nicht ersichtlich. Auch sei der Zug von Berlin nach Basel gefahren; bei einer Kontrolle zwischen Baden-Baden und Offenburg habe daher schon begrifflich keine “unerlaubte Einreise” in das Bundesgebiet – wie von § 22 Abs. 1 a BPolG vorausgesetzt -, sondern allenfalls eine Ausreise stattfinden können. Die Maßnahmen der Identitätskontrolle und des folgenden Datenabgleichs seien ferner rechtswidrig, weil die Beklagte die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens überschritten habe. Eine Identitätsfeststellung, die sich am Kriterium der Hautfarbe orientiere, verstoße gegen Art. 3 Abs. 3 GG und auch gegen völkerrechtliche Grundsätze, insbesondere gegen Art. 26 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und gegen Art. 14, Art. 8 Abs. 1 Var. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass die von Beamten der Beklagten am 19.11.2013 im ICE 377 zwischen Baden-Baden und Offenburg durchgeführte Identitätsfeststellung und der anschließend erfolgte Datenabgleich rechtswidrig gewesen sind.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung trägt sie vor, die beim Kläger durchgeführte Personalienfeststellung sei nicht rechtswidrig gewesen. Der Bundespolizei obliege gemäß § 2 Abs. 1 BPolG der grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebiets. Der Grenzschutz umfasse u.a. gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 BPolG im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern die Abwehr von Gefahren, welche die Sicherheit der Grenze beeinträchtigten. Die Kompetenz sei dabei auf den effektiven Schutz der Grenzregionen zugeschnitten, die aufgrund der Grenznähe einem erhöhten Risiko grenzüberschreitender Kriminalität ausgesetzt seien und daher als besonderer Gefahrenraum angesehen werden müssten. Die Norm knüpfe dabei nicht an die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 BPoIG an und ermögliche somit polizeiliche Eingriffsmaßnahmen, die nicht unmittelbar aus Anlass des Grenzübertritts erfolgten. Die Einstufung erfolge unabhängig davon, ob es sich um den Grenzraum einer Außen- oder Binnengrenze handle. Im Rahmen dieser Aufgabenwahrnehmung könne die Bundespolizei gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BPoIG die Identität einer Person feststellen. Die Norm setze hierbei keine konkrete Polizeigefahr voraus. Sie trage insoweit einem Vorsorgekonzept Rechnung und erlaube eine erhebliche polizeiliche Kontrolldichte im Grenzgebiet, was durch eine eingeschränkte Möglichkeit der Speicherung “kompensiert” werden könne. Der Zug habe sich auf der Fahrt von Baden-Baden nach Offenburg und damit im 30 km-Grenzbereich befunden. Die Bundespolizeiinspektion Offenburg habe den gesetzlichen Auftrag, unerlaubte Einreisen zu unterbinden. Da in der Vergangenheit immer wieder unerlaubt eingereiste Personen in den Zügen festgestellt worden seien, sei eine Personenkontrolle aufgrund der Lageerkenntnisse angebracht und erforderlich gewesen. Die Bundespolizeiinspektion Offenburg stelle im Grenzgebiet zu Frankreich monatlich durchschnittlich 70 unerlaubt eingereiste Personen fest. Im ICE 377 seien am 19.11.2013 zehn bis 15 Personen – sowohl europäischer als auch nicht europäischer Herkunft – fahndungsmäßig überprüft worden. Der Abgleich der personenbezogenen Daten des Klägers sei rechtmäßig gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BPoIG erfolgt. Da die Kontrolle keine Anhaltspunkte für eine Polizeigefahr ergeben habe, seien die Personalien des Klägers nicht gespeichert worden. Die Maßnahmen der gesamten Zugkontrolle seien nicht dokumentiert worden. Dazu habe kein Anlass bestanden, da die gesamte Kontrolle keine Treffer ergeben habe. Für die Auswahl der kontrollierten Reisenden seien mehrere Kriterien maßgeblich. Zunächst sei das Lagebild der Bundespolizeiinspektion Offenburg zu berücksichtigen. Ferner seien polizeiliche Erfahrungen sowie das Gesamterscheinungsbild (Alter, mitgeführte Gegenstände, Kleidung, Verhalten) miteinzubeziehen. Die ethnische Erscheinung stelle kein Auswahlkriterium dar.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Behördenakten verwiesen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klage ist als – auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Identitätsfeststellung gerichtete – Fortsetzungsfeststellungsklage und als – auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Datenabgleichs gerichtete – Feststellungsklage zulässig.

Die Klage ist, soweit sie auf die Feststellung der Rechtwidrigkeit der Identitätsfeststellung des Klägers durch die Aufforderung zur Vorlage des Ausweises durch Beamte der Bundespolizei gerichtet ist, als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO in den Fällen, in denen sich – wie hier – der Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung erledigt hat, entsprechende Anwendung (vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 14.07.1999 – 6 C 7.98 -, BVerwGE 109, 203 ff., und vom 25.06.2008 – 6 C 21.07 -, BVerwGE 131, 216 ff.).

Bei dem im Anschluss an die Identitätsfeststellung erfolgten Datenabgleich handelt es sich mangels Regelung hingegen nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um eine tatsächliche Maßnahme. Denn ein Datenabgleich ist lediglich die Prüfung und Feststellung, ob zu einer bestimmten Person Speicherungen in bestimmten Dateien vorliegen (vgl. Drewes/Malmberg/Walter, Bundespolizeigesetz, 5. Aufl. 2015, § 34 Rn. 1). Insoweit ist die Klage indes als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft, da ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis auch die hier in Streit stehende Befugnis eines Hoheitsträgers zum Erlass eines den Bürger belastenden Realakts umfasst (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24.01.2013 – 7 A 10816/12 -, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 43 Rn. 11).

Dem Kläger steht vorliegend ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung zur Seite. Aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und dem systematischen Zusammenhang mit § 42 VwGO ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden können. Nach dem Wegfall der mit dem Verwaltungsakt verbundenen Beschwer wird gerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nur zur Verfügung gestellt, wenn der Kläger ein berechtigtes rechtliches, wirtschaftliches oder ideelles Interesse an einer nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Maßnahme hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 113 Rn. 129). Sowohl die Identitätsfeststellung als auch der sich anschließende Datenabgleich stellen sich typischerweise – d.h. entsprechend der Eigenart des Verwaltungsakts – kurzfristig erledigende polizeiliche Maßnahmen dar, die in das Grundrecht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eingegriffen haben. Da sich kurzfristig erledigende Maßnahmen ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten, eröffnet Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts im Wege nachträglicher Feststellung (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 30.04.1997 – 2 BvR 817/90 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 05.07.2013 – 2 BvR 370/13 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2015 – 6 S 494/15 -, juris). Unter Berücksichtigung der Umstände der Maßnahmen kann dem Kläger vorliegend ein berechtigtes Interesse an den begehrten Feststellungen nicht abgesprochen werden. In Fällen der vorliegenden Art, in denen Feststellungsbegehren polizeiliche Maßnahmen in grundrechtlich geschützten Bereichen zum Gegenstand haben, das Feststellungsinteresse und damit die verwaltungsgerichtliche Überprüfung des polizeilichen Handelns zu verneinen, würde einen rechtsfreien Raum eröffnen, der mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit aus Art. 20 Abs. 3 GG und dem durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nicht zu vereinbaren wäre (vgl. VG Köln, Urteil vom 13.06.2013 – 20 K 4683/12 -, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 113 Rn 145 m.w.N.). Ob der sich kurzfristig erledigende Grundrechtseingriff auch tiefgreifend war, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Zwar wurde in der Vergangenheit für die Bejahung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses meist ein tiefgreifender, sich typischerweise kurzfristig erledigender Grundrechtseingriff gefordert Nach einer im Vordringen befindlichen Auffassung, der die Kammer sich anschließt, ist ein auf Art. 19 Abs. 4 GG gestütztes Fortsetzungsfeststellungsinteresse indes nicht auf Fälle tiefgreifender Grundrechtseingriffe beschränkt (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 25.09.2015 – 4 K 35/15 -, juris). Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits mehrfach (Urteil vom 16.05.2013 – 8 C 20.12 -, juris; Urteil vom 16.05.2013 – 8 C 38.12 -, juris; Urteil vom 20.06.2013 – 8 C 39.12 -, juris) festgestellt, die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG differenziere nicht nach der Intensität des erledigten Eingriffs und dem Rang der betroffenen Rechte. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist danach in Fällen typischerweise kurzfristiger Erledigung eines Verwaltungsakts zu bejahen, ohne dass es insoweit besonderer Anforderungen etwa an die Intensität des Grundrechtseingriffs bedürfte (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 25.09.2015, a.a.O., mit Verweis auf VG Freiburg, Urteil vom 23.02.2012 – 4 K 2649/10 -, juris; vgl. auch Sächsisches OVG, Urteil vom 27.01.2015 – 4 A 533/13 -, juris; ebenso Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 113 Rn. 145). Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob sich ein rechtliches Interesse des Klägers außerdem aus einer Wiederholungsgefahr und aus dem geltend gemachten Rehabilitationsinteresse ergibt.

Die Klage ist auch begründet.

Die am 19.11.2013 durchgeführten polizeilichen Maßnahmen stellen sich als rechtswidrig dar und haben den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 5 VwGO.

Die Identitätsfeststellung durch Beamte der Bundespolizei war rechtswidrig. Die Beklagte hat diese Maßnahme auf die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG gestützt. Danach kann die Bundespolizei die Identität einer Person im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BPoIG feststellen.

Die Beklagte konnte die Maßnahme der Personalienfeststellung bereits deswegen nicht wirksam auf die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG stützen, weil diese nicht unionsrechtskonform ist und auch nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann. Der deutsche Gesetzgeber hat die sich bei der Einführung derartiger Kontrollen im Grenzgebiet zu anderen Schengenstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aus dem Schengener Grenzkodex ergebenden Anforderungen nicht beachtet.

Die Art. 20 und 21 VO (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (im Folgenden: VO (EG) Nr. 562/2006; ABI G, Nr. L 105, 1) stehen der Anwendung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG entgegen. Die nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG stattfindenden Identitätsfeststellungen stellen Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats dar, die unter Art. 21 VO (EG) Nr. 562/2006 fallen, da sie nicht “an den Grenzen” oder in dem Moment, in dem die Grenze überschritten wird, durchgeführt werden, sondern innerhalb des Hoheitsgebiets (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 22.06.2010 – C-188/10 und C-189/10 [Melki und Abdeli] Slg. 2010, 1-5667). Gemäß Art. 72 AEUV berührt dessen Titel V zwar nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Insoweit bestimmt auch Art. 21 lit. a VO (EG) Nr. 562/2006, dass die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat.

Art. 21 lit. a VO (EG) Nr. 562/2006 (“Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets”) lautet:
Die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:
a) die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen
i) keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;
ii) auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;
iii) in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;
iv) auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

Bei einer ausschließlich am Wortlaut der Norm orientierten Auslegung wäre eine unionsrechtskonforme Interpretation des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG wohl möglich. Zwar dienen die in dieser Befugnisnorm vorgesehenen Kontrollen auch der Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise und haben damit dasselbe Ziel wie Grenzkontrollen, sie werden jedoch in der Praxis lediglich stichprobenartig in einer Art und Weise durchgeführt, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet (vgl. zum Kontrollumfang BT-Drs. 18/4149, 4 f.).

Nach der vom Europäischen Gerichtshof im sogenannten Melki-Urteil im Jahr 2010 vorgenommenen Auslegung, welche er im Jahr 2012 bestätigt und konkretisiert hat (vgl. Urteil vom 19.07.2012 – C-278/12 PPU [Adil] juris), genügt jedoch eine bestimmte Zielsetzung oder faktische Ausgestaltung für die Vereinbarkeit der nationalen, grenznahen Kontrollbefugnisse mit der europarechtlich vorgegebenen Freiheit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen gerade nicht. Vielmehr muss das in Art. 21 lit. a Satz 1 VO (EG) Nr. 562/2006 formulierte Postulat, die Ausübung nationaler Kontrollbefugnisse dürfe nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben, sich nach der Lesart des Europäischen Gerichtshofs zwingend aus normativen Einschränkungen der Kontrollbefugnisse hinsichtlich Intensität und Häufigkeit der Kontrollen ergeben. Danach stehen Art. 67 AEUV und Art. 21 VO (EG) Nr. 562/2006 einer nationalen Ermächtigungsgrundlage entgegen, wenn diese nicht selbst durch konkrete Vorgaben hinreichend sicherstellt, dass ihre Anwendung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. EuGH, Urteil vom 22.06.2010 [Melki und Abdeli], a.a.O., Rn. 74). Der Europäische Gerichtshof begründet die hohen Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit. Gerade eine nationale Regelung, die einerseits auf Identitätsfeststellungen im Grenzgebiet beschränkt sei, andererseits verdachtsunabhängige Kontrollen vorsehe, müsse “den erforderlichen Rahmen für die […] eingeräumte Befugnis vorgeben, um insbesondere das Ermessen zu lenken, über das [die Behörden] bei der tatsächlichen Handhabung der Befugnis verfügen. Dieser Rahmen muss gewährleisten, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, wie insbesondere aus den in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 genannten Umständen hervorgeht.” (vgl. EuGH, Urteil vom 22.06.2010 [Melki und Abdeli], a.a.O., Rn. 74).

Nach diesen Maßgaben verstößt die nationale Regelung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG gegen Art. 21 VO (EG) Nr. 562/2006. Die Ermächtigungsgrundlage enthält nicht die vom Europäischen Gerichtshof geforderten normativen Einschränkungen, die gewährleisten, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. Insbesondere findet keine Beschränkung der Befugnis hinsichtlich der Intensität und Häufigkeit der Kontrollen statt. Vielmehr kann jede Person im Grenzgebiet jederzeit anlassunabhängig Adressat der polizeilichen Identitätsfeststellung sein (vgl. zur Verfassungskonformität dieser Eingriffsvoraussetzungen Kastner, VerwArch 2001, 216 <240 ff.>; Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. E Rn. 357). Die einzige Tatbestandsvoraussetzung des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG ist das Antreffen einer Person im Grenzgebiet. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder ein Gefahrverdacht wird auf Tatbestandsebene hingegen nicht vorausgesetzt. Auch eine Einschränkung des Adressatenkreises dahingehend, dass diese nach allgemeinen Zurechnungskriterien ordnungsrechtlich als Störer verantwortlich sein müssten, sieht § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG nicht vor (vgl. Trennt, DÖV 2012, 216 <221>). Im Ergebnis steht es – aufgrund der Unbestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage – den Beamten der Bundespolizei frei, ob sie lediglich stichprobenartig verdachtsunabhängige Kontrollen im Grenzgebiet durchführen oder im Gegenteil eine den Grenz(übertritts)kontrollen i.S.d. Art. 2 Nrn. 9 bis 11 VO (EG) Nr. 562/2006 angenäherte Verwaltungspraxis etablieren. Da weder auf Tatbestands- noch auf Ermessensebene vom Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen wurden, um § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG entsprechend den vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Bestimmtheitserfordernissen auszugestalten, ist die Vorschrift mit dem Schengener Grenzkodex unvereinbar (so auch Trennt, DÖV 2012, 216 <218 ff.>; Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. E Rn. 387 f; Wehr, BPoIG, 1. Aufl. 2013, § 23 Rn. 5; a. A. für die inhaltlich ähnlich ausgestaltete landesrechtliche Befugnisnorm des § 13 Abs. 1 Nr. 5 bayPAG: Kempfler, BayVBl. 2012, 9 <10 ff.>).

Die Befugnisnorm des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG konkretisierende Verwaltungsvorschriften liegen dem Gericht nicht vor. Selbst wenn es solche geben sollte, wären sie nach den im “Melki-Urteil” formulierten Grundsätzen zur normativen Einschränkung der Befugnisnorm nicht ausreichend (vgl. Trennt, DÖV 2012, 216 <222>; a. A. Kempfler, BayVBI. 2012, 9 <11>, zu § 13 Abs. 1 Nr. 5 bayPAG). Denn nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs muss die nationale, zu Kontrollmaßnahmen ermächtigende Vorschrift selbst “den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis” vorgeben (vgl. EuGH, Urteil vom 22.06.2010 [Melki und Abdeli], a.a.O., Rn. 75). Auch die englische und die französische Sprachfassung streiten für die Auslegung, dass die Befugnisnorm selbst die normativen Einschränkungen beinhalten muss (vgl. Wortlaut der französischen Fassung “[…] que I’article 67, paragraphe 2, TFUE ainsi que les articles 20 et 21 du règlement n° 562/2006 s’opposent à une législation nationale conférant aux autorités de police de l’État membre concerné la compétence de contrôler,[…], sans prévoir l’encadrement nécessaire de cette compétence garantissant que l’exercice pratique de ladite compétence ne puisse pas revêtir un effet équivalent à celui des vérifications aux frontières.”). Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtssache “TA-Luft” (Urteil vom 30.05.1991 – C-361/88 -, Slg 1991, 1-2567), wonach Verwaltungsvorschriften grundsätzlich ungeeignet sind, der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Umsetzung von EU-Richtlinien zu genügen, stützt diesen Befund. Denn der Gedanke, dass Verwaltungsvorschriften mangels Außenwirkung von Betroffenen nicht unmittelbar gerichtlich geltend gemacht werden können und überdies den betroffenen Bürgern häufig nicht bekannt seien, lässt sich vorliegend dahingehend fruchtbar machen, dass Verwaltungsvorschriften per se weniger Rechtssicherheit gewährleisten als formelle Gesetze (vgl. Trennt, DÖV 2012, 216 <222>).

Aufgrund des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts darf die Befugnisnorm des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG im vorliegenden Kollisionsfall nicht herangezogen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führt die Unvereinbarkeit einer Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht nicht zur Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. Stattdessen ist das nationale Gericht in dieser Situation verpflichtet, die nationale Vorschrift unangewendet zu lassen (vgl. EuGH, Urteile vom 15.07.1964 – 6/64 [Costa/E.N.E.L.] -, Slg 10, 1251, vom 22.10.1998 – C-10/97 bis C-22/97 -, Slg 1998, 630, und vom 19.01.2010 – C-555/07 [Kücükdeveci] -, Slg 2010, 1-365).

Zur Vermeidung von Missverständnissen weist das Gericht darauf hin, dass § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG auch künftig in Ausnahmesituationen als Ermächtigungsgrundlage für verdachtsunabhängige Personenkontrollen herangezogen werden kann, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der Art. 23 ff. des Schengener Grenzkodex und im Einklang mit dessen Vorgaben vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betreffenden Binnengrenze einführt. Dies war zum Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Personenkontrolle im November 2013 indes nicht der Fall.

Die Beklagte kann die Maßnahme der Identitätsfeststellung auch nicht auf eine andere Vorschrift stützen. Der Austausch der Ermächtigungsgrundlage kommt zwar auch bei Ermessensentscheidungen ausnahmsweise in Betracht, sofern die von der Behörde angestellten Ermessenserwägungen übertragbar sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist dem Gericht die Heranziehung anderer als im angefochtenen Bescheid genannter Normen nur dann verwehrt, wenn dies zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheids führen würde oder der Betroffene in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar beeinträchtigt würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 – 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30 ff.). Auf die vorliegend einzig alternativ in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 22 Abs. la BPoIG kann die vorgenommene Identitätsfeststellung nicht gestützt werden. Denn die Vorschrift dürfte – ebenso wie Art. 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG – mit den Art. 20, 21 VO (EG) Nr. 562/2006 unvereinbar sein. Zudem liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs. 1a BPoIG, der die Identitätsfeststellung als Annexkompetenz zur Befragung zum Zweck der Erfüllung einer bestimmten der Bundespolizei obliegenden Aufgabe ausgestaltet (vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPoIG, 5. Aufl. 2015, § 22 Rn. 7), nicht vor.

Ob die Identitätsfeststellung ferner rechtswidrig ist, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPoIG im Zeitpunkt der Kontrolle nicht vorlagen, kann nach den obigen Ausführungen im Ergebnis offen bleiben. Auch die Frage, ob die Beklagte ihr Ermessen bei der Identitätsfeststellung fehlerhaft ausgeübt und somit gegen Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen hat, bedarf nach den obigen Ausführungen keiner Entscheidung.

Die sich an die Identitätsfeststellung anschließende Maßnahme des Datenabgleichs ist ebenfalls rechtswidrig erfolgt. Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 BPoIG kann die Bundespolizei die im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung erlangten personenbezogenen Daten mit dem Fahndungsbestand abgleichen. Danach können alle personenbezogenen Daten, die der Bundespolizei auf rechtmäßige Art und Weise bekannt geworden sind, mit dem Datenbestand abgeglichen werden (vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPoIG, 5. Aufl. 2015, § 34 Rn. 12). Da die Beklagte die personenbezogenen Daten des Klägers – wie ausgeführt – auf rechtswidrige Weise erlangt hat, liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 2 BPolG nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht liegen vor, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Denn die Klärung der für die Beurteilung des Streitfalles maßgeblichen Rechtsfrage hat – über ihre Bedeutung für den zu entscheidenden konkreten Fall hinaus – wesentliche Bedeutung für die einheitliche Auslegung und Anwendung sowie für die Fortbildung des Rechts (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 132 Rn. 9). Ausweislich der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE wurden im Jahr 2013 2.321.243 und im Jahr 2014 2.313.750 Identitätskontrollen auf die Befugnisnorm des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG gestützt (vgl. BT-Drs. 18/4149, 4 f.). Die Unvereinbarkeit des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG mit den Art. 20, 21 des Schengener Grenzkodex wird vorliegend erstmals verwaltungsgerichtlich festgestellt. Auch die Europäische Kommission ist im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens mit Fragen zur Vereinbarkeit von § 23 Abs. 1 Nr. 3 des BPolG mit der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 an die Bundesregierung herangetreten. Die Bundesregierung geht demgegenüber nach wie vor davon aus, dass § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG mit europäischem Recht vereinbar ist und Kontrollintensität und -häufigkeit für den Binnengrenzbereich in Deutschland rechtlich hinreichend konkret normiert sind; sie erklärte im Innenausschuss des Deutschen Bundestages am 17.12.2014, dass sie in Verhandlungen mit der Europäischen Kommission stehe und den Zweifeln an der Unionsrechtskonformität der Polizeikontrollen im Grenzbereich durch untergesetzliche Maßnahmen begegnen wolle (vgl. BT-Drs. 18/4149, 1 f.).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.