Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 07.03.2016 – Az.: S 54 AS 4031/16 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
– Antragsgegner –

hat die 54. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 7. März 2016 durch den Richter xxx am Sozialgericht beschlossen:

1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung 1.519,47 EUR unter Anrechnung für den Monat Februar 2016 erbrachter Leistungen sowie ab 01.04.2016 jeweils zum Ersten eines Monats im Voraus 814,- EUR zu zahlen, längstens jedoch bis zum 31.10.2016. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

GRÜNDE
I.
Der Antragsteller begehrt im Rahmen eines Leistungsverhältnisses nach dem SGB II einstweiligen Rechtsschutz gegen einen vom Antragsgegner erlassenen Versagungsbescheid nach §§ 60, 66 SGB I.

Der 196x geborene Antragsteller war bis zur Gewerbeabmeldung im Oktober 2015 mit der Verarbeitung, Vertrieb und Handel von mineralischen Oberflächensystemen selbständig erwerbstätig. Er bewohnt eine 2-Zimmer-Wohnung in Göttingen mit einer Wohnfläche von 48 qm vor, für die einschließlich Heiz- und Nebenkosten 410,- EUR aufzuwenden sind. Die Miete wurde ua von Oktober bis Dezember 2015 von der Mutter des Antragstellers darlehenshalber beglichen. Von dieser erhält er daneben laufend ein zinsfreies Darlehen zur Lebenshaltung in Höhe von wöchentlich 50,- Euro, ferner gelegentliche Sachzuwendungen seiner geschiedenen Frau.

Am 28.10.2015 beantragte er beim Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II. im Rahmen einer bei der Antragstellung ausgehändigten “Laufliste” forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bei ihm bis zum 11.11.2011 insgesamt 22 Unterlagen vorzulegen. Der Antragsteller kam der Aufforderung teilweise nach. In der Folgezeit forderte der Antragsgegner den Antragsteller in verschiedenen Schreiben zur Vorlage weiterer Erklärungen und Unterlagen auf, die der Antragsteller sodann teilweise übersandte. Zuletzt forderte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 21.01.2016 zur Einreichung von Erklärungen auf, ob für den Unfall aus dem Jahre 2004 Versicherungsschutz (z. B. Unfallversicherung, Betriebsrentenkasse etc.) bestehe und ob der Antragsteller arbeitsfähig sei, ferner forderte er Nachweise über die rechtliche Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Geschäftspartner, über die Höhe der Mietschulden, bis wann die Mutter die Mieten bezahlt habe, wie bislang der Lebensunterhalt sichergestellt worden sei, wie der Strom bezahlt wurde und über welches Konto die selbständige Tätigkeit abgewickelt wurde. Die Mutter des Antragstellers beglich im Januar 2016 darlehenshalber eine offene Stromrechnung in Höhe von 172,20 Euro.

Am 04.02.2016 hat der Antragsteller Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt

Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Leistungsvoraussetzungen zumindest für eine vorläufige Leistungsbewilligung erfüllt seien. Ihm fehlten die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts notwendigen Mittel.

Mit Bescheid vom 29.02.2016 hat der Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II “für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis 30.04.2016” abgelehnt, weil der Antragsteller die mit Schreiben vom 21.01.2016 erbetenen, zur Bearbeitung des Leistungsantrages erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht habe.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner zu verpflichten, ihm ab dem 04.02.2016 vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen,

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller sei seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Leistungsakten Bezug genommen.

II.
Der zulässige Antrag ist im erkannten Umfang begründet.

Er richtet sich nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung nötig erscheint (Satz 2). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist deshalb, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile müssen glaubhaft gemacht werden, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

1. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i. S. des § 20 Abs 1 SGB II glaubhaft gemacht.

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind erfüllt. Der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1), er ist erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Nr. 4). Insbesondere hat der Beklagte auch keine Tatsachen behauptet, die gegen einen dauerhaften Aufenthalt in Göttingen sprechen würden.

2. Der Antragsteller hat auch Tatsachen glaubhaft gemacht, aus denen sich ein Anspruch auf Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II ergibt.

Der Antragsteller hat eine Mietbescheinigung vorgelegt, die bestätigt, dass der Antragsteller Hauptmieter einer Wohnung mit 48 qm Wohnfläche ist und hierfür einschließlich Heiz- und Nebenkosten 410,- EUR aufzuwenden hat.

Die Unterkunftskosten von monatlich EUR 410,- erscheinen auch – unabhängig davon, dass der Antragsgegner dies nicht eingewandt hat – angemessen. Die Tabelle zu § 12 Wohngeldgesetz in der seit 01.01.2016 geltenden Fassung weist für einen Haushalt mit einer Person im Landkreis Göttingen (Mietenstufe IV) einen Kostenrahmen für Kaltmiete und “kalte” Nebenkosten (ohne Heizkosten) von bis zu 434,- EUR pro Monat aus. Zur vom Antragsteller gezahlten Warmmiete verbleibt daher kein Differenzbetrag für Heizkosten.

3. Ein Einkommen oder verwertbares Vermögen des Antragstellers sind nicht ersichtlich. Insbesondere verfügt der Antragsteller nach der Aufgabe seiner selbständigen Tätigkeit gegenwärtig über kein hieraus erwachsendes Einkommen.

4. Dem Anordnungsanspruch stehen nicht die vom Antragsgegner für erforderlich gehaltenen, bislang aber nicht vorliegenden Erklärungen entgegen, ob aus dem Unfall im Jahr 2004 Versicherungsschutz (z. B. Unfallversicherung, Betriebsrentenkasse etc.) besteht, ob der Antragsteller arbeitsfähig sei. Ebenso wenig bedarf es für die vorläufige Bewilligung von Leistungen (weiterer) Nachweise über die rechtliche Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Geschäftspartner des Antragstellers, über die Höhe der Mietschulden, bis wann die Mutter die Mieten bezahlt habe, wie bislang der Lebensunterhalt sichergestellt worden sei, wie der Strom bezahlt wurde und über welches Konto die selbständige Tätigkeit abgewickelt wurde.

Die Angaben zur Deckung der Mietzahlungen, der Stromabschläge und zur Deckung des Lebensunterhalts hat der Antragsteller jedenfalls im laufenden Verfahren gemacht. Die diesbezüglichen Angaben erscheinen dem Gericht auch schlüssig, zumal sich der Antragsteller bereits unmittelbar nach Antragstellung erkundigte, wie die Leistungsbewilligung beschleunigt werden könne, damit Mietzahlungsrückstände vermieden werden könnten. Auch die Informationen über ggf. unterhaltene Geschäftskonten stehen jedenfalls einer vorläufigen Bewilligung nicht entgegen, wenn der Antragsgegner nicht den geringsten Anhaltspunkt benennen kann, dass der Antragsteller seine selbständige Tätigkeit auch nach der Gewerbeabmeldung fortgesetzt hat und aus ihr Einkommen erzielt. Der Stand einer eventuellen Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Geschäftspartner oder eventuelle Ansprüche gegen Dritte aus einem mehr als zehn Jahre zurückliegenden Unfall sind für eine vorläufige Leistungsbewilligung ohne weitergehende Anhaltspunkte für erzieltes Einkommen oder vorhandenes und auch unmittelbar verwertbares Vermögen ebenfalls unerheblich. Schließlich könnte selbst die Frage der – vom Antragsgegner ohnehin nicht mit Anknüpfungstatsachen belegten – möglichen eingeschränkten Erwerbsfähigkeit nach einer vorläufigen Bewilligung geklärt werden.

Das Gericht möchte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, dass es die Verfahrensführung des Antragsgegners für in hohem Maße bedenklich hält. Der Leistungsantrag wurde trotz der prekären finanziellen Lage des Antragstellers insbesondere im November und Dezember 2015 nur schleppend bearbeitet. Dabei kann sich das Gericht nicht des Eindrucks erwehren, dass die Leistungsbewilligung insbesondere durch eine Vielzahl, weitgehend dem § 65 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB I widersprechender Mitwirkungsverlangen und geradezu “ins Blaue hinein” durchgeführter Ermittlungen zumindest hinausgezögert werden soll. Schützenswerte Gründe sind hierfür weder genannt noch sonst ersichtlich. Auch im gerichtlichen Verfahren war der Antragsgegner selbst auf den deutlichen Hinweis des Gerichts vom 23.02.2016 nicht willens, von dieser Linie Abstand zu nehmen. Vielmehr hat er trotz der zuvor formulierten Bedenken des Gerichts den auf mangelnde Mitwirkung des Antragstellers gestützten Ablehnungsbescheid vom 29.02.2016 erlassen. Abgesehen davon, dass dieser durch den zugleich verfügten sofortigen Vollzug unzureichende Kenntnisse des Verfahrensrechts belegt, ist dieser auch materiell rechtswidrig, weil der Antragsgegner keine Ermessensentscheidung über die Leistungsentziehung nach § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I getroffen hat.

Vorläufig zu bewilligen ist ein Betrag von monatlich 814,- Euro (Regelleistungen 404,- Euro + Leistungen für Unterkunft und Heizung 410,- Euro). Auf den Zeitraum vom 04.02.2016 (Eingang des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz) bis zum 29.02.2016 entfallen 26/30 der Monatsleistung, also (gerundet) 705,47 Euro. Folglich sind mit der Zustellung des Beschlusses vom Antragsgegner 1.519,47 Euro für den Zeitraum bis zum 31.03.2016 und sodann monatlich im Voraus 814,- Euro zu leisten.

Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller verfügt ausweislich der in den Verwaltungsakten befindlichen Kontoauszüge nur über ein erheblich überzogenes Girokonto. Ihm fehlt es daher bereits an den notwendigen Lebensgrundlagen. Da er im Hinblick auf die gänzliche Leistungsversagung auch keine Unterkunftskosten aufbringen kann und daher mit einer kurzfristigen Einstellung der Energieversorgung und einer Kündigung der Wohnung zu rechnen wäre, ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Das Gericht hat die einstweilige Anordnung gemäß §§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG, 938 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO) im ausgesprochenen Umfang begrenzt. Der Antragsteller hat kein schützenswertes Interesse, über den in § 41 Abs 1 Satz 5 SGB II bestimmten Zeitraum hinaus vorläufige Leistungen zu erhalten. Das Gericht bestimmt wegen der Verfahrensführung des Antragsgegners und die aktenkundigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers ausnahmsweise eine vorläufige Leistung über den Sechsmonatszeitraum gemäß § 41 Abs 1 Satz 5 SGB II hinaus. Ggf. ist der Antragsteller gehalten, erneut um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen. Gleichermaßen kann der Antragsgegner im Falle einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse um Abänderung des Beschlusses nachsuchen.

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG, Soweit das Gericht die einstweilige Anordnung begrenzt hat, ist der Misserfolg im Verhältnis zum Erfolg des Antragstellers unerheblich, so dass der Antragsgegner, der auch Anlass zum Verfahren gegeben hat, die gesamten außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.