Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 28.04.2016 – Az.: L 10 SF 14/15 EK AS

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,
– Kläger –

gegen

das Land Niedersachsen, vertreten durch xxx,
– Beklagter –

wegen Entschädigung für eine unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens
hier: der Verfahren zu den Aktenzeichen S 38 AS 853/10 und S 33 AS 1035/10 des Sozialgerichts Hildesheim

hat der 10. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 28. April 2016 in Celle durch seine Richter xxx und xxx sowie seine Richterin xxx beschlossen:

Auf seinen Antrag wird dem Kläger für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenbeteiligung ab Klageerhebung bewilligt und Rechtsanwalt Adam, Göttingen, beigeordnet.

Zu dem Verfahren wird gemäß § 75 Abs. 2 SGG der Landkreis Göttingen beigeladen, weil die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreites nur einheitlich auch mit Wirkung gegenüber dem Beigeladenen erfolgen kann.

GRÜNDE
Dem Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe ist stattzugeben.

Gemäß § 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO kann Prozesskostenhilfe u. a. nur bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Dazu muss ein Erfolg des Klageverfahrens nicht bereits sicher sein. Es genügt vielmehr, wenn unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes und der vertretbaren Rechtsauffassungen ein Erfolg nicht fernliegend ist. Diese Voraussetzung liegt vor.

Ein Anspruch des Klägers auf Entschädigung für immaterielle Schäden durch die überlange Dauer des Rechtsstreits zum Aktenzeichen S 33 AS 1035/10 (SG Hildesheim) in dem mit der Klageschrift in Verbindung mit dem Schriftsatz vom 22. Oktober 2015 geltend gemachten Umfang erscheint durchaus vorstellbar.

Mit Recht bestreitet der Beklagte nicht, dass der vorgenannte Rechtsstreit unangemessen lange im Sinn des § 198 GVG gedauert hat. Weil eine Verzögerung des Rechtsstreites nicht bereits bei Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) am 3. Dezember 2011 vorgelegen hat, liegen die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift der Sätze 2 und 3 des Art. 23 ÜGG nicht vor. Eine im Sinn von Art. 23 Satz 2 ÜGG unverzügliche Rüge war nicht erforderlich, so dass eine in diesem Sinn verzögerte Rüge nicht automatisch die Berücksichtigung der Verfahrensdauer vor der Rüge für die Ermittlung der Gesamtdauer des Verfahrens ausschließt. Dass im Übrigen die Rüge vom 18. April 2013 von dem Kläger bewusst zum Erreichen einer möglichst hohen Entschädigung zu einem späten Zeitpunkt erhoben worden wäre (Verbot des “dulde und liquidiere”), ist nicht ersichtlich.

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht auch nicht fest, dass der Kläger den Entschädigungsanspruch wegen § 33 SGB II nicht – mehr – geltend machen kann. Ob ein gesetzlicher Forderungsübergang auf den beigeladenen Landkreis Göttingen als aktuell für den Kläger zuständigen Träger von Leistungen nach dem SGB II stattgefunden hat, erscheint zwar möglich, durchaus aber auch wenigstens diskussionsfähig. Obergerichtliche Rechtsprechung dazu existiert bisher nicht. Nach § 33 Satz 1, letzter Satzteil SGB II ist Voraussetzung für den gesetzlichen Anspruchsübergang, dass die SGB II-Leistungen bei rechtzeitiger Leistung des Anderen nicht – oder nur in geringerem Umfang – erforderlich gewesen wären. Das wiederum setzt voraus, dass die Zahlungen nach § 198 Abs. 3 GVG bei rechtzeitiger Zahlung zu einer Verminderung des SGB II-Anspruches geführt hätten. Insoweit ist der Hilfesuchende von § 9 Abs. 1 SGB II zunächst auf die Verwertung seines Einkommens verwiesen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II soll umfassend jede Einnahme in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der in §§ 11a, 11b SGB II genannten Beträge erfasst sein.

Näher in Betracht kommt im vorliegenden Fall § 11a Abs. 2 Satz 1 SGB II. Danach sind Leistungen, die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur insoweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach dem SGB II im Einzelfall demselben Zweck dienen. Dass es sich bei den streitigen Leistungen nach § 198 Abs. 3 GVG um solche handelt, die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu erbringen sind, erscheint nicht zweifelhaft.

Nicht gänzlich abwegig erscheint auch der Gedanke, dass derartige Leistungen einem ausdrücklichen Zweck im Sinn von § 11a Abs. 2 Nr. 1 SGB II zu dienen bestimmt sind. Leistungen nach § 198 Abs. 3 GVG dienen der Entschädigung für die erlittene Verletzung des Rechtes auf ein zügiges Verfahren; insoweit vermutet das Gesetz den Eintritt eines immateriellen Schadens, der an sich nur in der Beeinträchtigung oder dem teilweisen Verlust von Lebensqualität liegen kann. Zweck der Leistung nach § 198 Abs. 3 GVG ist es deshalb, dem in seinen Rechten Verletzten durch das Zurverfügungstellen von Geld die Möglichkeit zu eröffnen, durch die Verwendung des Geldes seine Lebensqualität wieder zu steigern und damit den Mangel möglichst auszugleichen; dieser Zweck würde durch eine Verwendung des Geldes für das Bestreiten des Lebensunterhaltes nicht erreicht werden können, so dass von einer Zweckidentität einerseits der Leistung nach § 198 Abs. 3 GVG und andererseits den für den laufenden Lebensunterhalt bestimmten Leistungen des SGB II eher nicht auszugehen sein wird.

Jedenfalls wird diese Auffassung offenbar ernsthaft vertreten (vgl. Söhngen in: SchlegelNoelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 11a RdNr. 38). Die gegenteilige Auffassung in dem von dem Beklagten zitierten Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. November 2015 (Az.: L 15 SF 23/15 EK AS PKH) enthält – jedenfalls zu diesem Aspekt – keine zwingenden Argumente. Zwar hat das Bundessozialgericht gelegentlich (vgl. etwa Urteil vom 23. März 2010, Az.: B 8 SO 17/09 R, SozR 4-3500 § 82 Nr. 6) im Rahmen der Prüfung einer möglichen Zweckbestimmung einer Leistung die Frage aufgeworfen, ob denn mit der Gewährung der Leistung die Erwartung einer bestimmten Verwendung der Leistung verbunden sei. Andererseits hat es aber auch (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2007, Az.: B 8/9b SO 20/06 R, SozR 4-3500 § 90 Nr. 1) Landesblindengeld als zweckbestimmt im Sinn von § 83 Abs. 1 SGB XII angesehen, obwohl mit dieser Leistung keine konkrete Verwendungserwartung verbunden ist. Zwar soll das Blindengeld für den Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen dienen, ob allerdings ein konkret fassbarer Mehrbedarf in der Höhe der Leistung besteht und der Blinde diese zur Deckung des Mehrbedarfes verwendet, ist weder Anspruchsvoraussetzung noch wird es überhaupt geprüft. Dasselbe gilt auch für das Überbrückungsgeld nach § 51 Abs. 1 StVollzG, das das Bundessozialgericht ebenfalls als zweckbestimmt angesehen hat (vgl. Urteil vom 28. Oktober 2014, Az.: B 14 AS 36/13 R, Az.: SozR 4-4200 § 37 Nr. 7), das aber nach § 51 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nur ausnahmsweise einer Verwendungskontrolle unterliegt, wobei auch insoweit gesetzlich die Verwendung zu dem intendierten Zweck nicht vorgeschrieben ist. Offenbar besteht hinsichtlich der Voraussetzungen einer Zweckbestimmung eine abschließende und gefestigte Rechtsprechung noch nicht.

Der Kläger ist nach seinen Angaben in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auch außer Stande, die mit der Prozessführung verbundenen Kosten aus eigenen Mitteln zu bestreiten.

Unabhängig davon, wie die Frage des Anspruchsübergangs nach § 33 SGB II im vorliegenden Fall zu beantworten sein wird, muss jedenfalls die Entscheidung auch bindende Wirkungen gegenüber dem Leistungsträger haben, der deshalb gemäß § 75 Abs. 2 SGG beizuladen gewesen ist.

Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.