Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2016

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 20.04.2016 zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urteil vom 20.04.2016 – B 8 SO 5/15 R

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Erstattung von Fahrtkosten für Besuche bei einem erkrankten Elternteil – Festlegung des individuellen Bedarfs abweichend vom Regelsatz – Hilfe in sonstigen Lebenslagen – Entstehung und Deckung des Bedarfs vor Kenntniserlangung durch den Sozialhilfeträger
Ermittlungen ins Blaue hinein sind dem Sozialhilfeträger nicht zumutbar.

Hinweis Gericht
1. Auch für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als Sozialhilfeleistung des SGB XII gilt dessen in Gesetz und Rechtsprechung verankerte Voraussetzung der Kenntnis des Sozialhilfeträgers (§ 18 SGB XII).

2. Der daneben in § 41 SGB XII vorgesehene Antrag stellt demgegenüber nur eine besondere Form der Kenntnisverschaffung dar.

3. Bei besonderen Bedarfen, wie etwa einen individuellen Bedarf unabweisbar abweichend vom Regelsatz (§ 27a Abs 4 SGB XII) muss der Sozialhilfeträger – gleichgültig wodurch – jedoch so weit Kenntnis von einer möglichen Bedarfslage haben, dass er in weitere Ermittlungen eintreten muss; Ermittlungen ins Blaue hinein sind ihm nicht zumutbar. Für den alternativ geltend gemachten Anspruch auf Leistungen in sonstigen Lebenslagen (§ 73 SGB XII) gilt dies in gleicher Weise.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Niedersachsen- Bremen, Beschluss v. 04.07.2016 – L 9 AS 310/16 B ER

Normen: § 22 Abs. 1 SGB II – Schlagworte: Kosten der Unterkunft, Angemessenheitsgrenzen in Göttingen, Sicherheitszuschlag, F+B-Gutachten, Vergleichsraum

Hartz IV: Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen kippt Kosten der Unterkunft für Göttingen – Der Senat bestimmt in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Angemessenheitsgrenze für KdU in ständiger Rechtsprechung anhand der Werte in der Tabelle in § 12 Abs. 1 des Wohngeldgesetzes, vorliegend in der seit 1. Januar 2016 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform des Wohngeldrechts.

Hinweise Herbert Masslau
1. In den Verfahren nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG stellt der Senat für die Frage, welcher Zeitraum von einer einstweiligen Anordnung gestaltet werden kann, in den Fällen, in denen das streitige Rechtsverhältnis in zeitlicher Hinsicht bereits durch das Jobcenter geprägt worden ist, auf den dergestalt bestimmten Bewilligungsabschnitt ab; Zeiten vor der Beantragung von einstweiligem Rechtsschutz bei dem SG bleiben regelmäßig außer Betracht.

2. Im Verhältnis zueinander sind die beiden Antragsteller Streitgenossen, die in subjektiver Antragshäufung gemeinsam ihr Begehren verfolgen. Die von ihnen geltend gemachten Ansprüche sind – da es sich nicht um wirtschaftlich identische Streitgegenstände handelt – entsprechend § 5 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zusammenzurechnen. Maßgeblich sind dabei nur solche Begehren, die bereits Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens waren und einem Rechtsmittelführer durch das SG versagt worden sind. Sieht ein Beteiligter davon ab, vor dem SG so vorzutragen, dass dem Senat eine wertmäßige Bestimmung in den Fällen der in § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG aufgeführten Klagen bei gehöriger Anstrengung möglich ist, obwohl er dazu in der Lage wäre, muss er sich so behandeln lassen, als liege eine Überschreitung der Wertgrenze von 750 Euro nicht vor.

3. Der Senat bestimmt in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Angemessenheitsgrenze für KdU in ständiger Rechtsprechung anhand der Werte in der Tabelle in § 12 Abs. 1 des Wohngeldgesetzes, vorliegend in der seit 1. Januar 2016 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform des Wohngeldrechts. Die Tabellenwerte sind dabei nach der Rechtsprechung des BSG um einen Sicherheitszuschlag iHv 10 Prozent zu erhöhen (s. bspw Urt. v. 12. Dezember 2013 – B 4 AS 87/12 R). Der Senat geht davon aus, dass die dort erwähnten Grundsätze für die zum 1. Januar 2016 in Kraft getretenen Änderungen ebenfalls Geltung beanspruchen, so dass auch die neuen Werte in § 12 Abs. 1 WoGG 2016 um den Sicherheitszuschlag zu erhöhen sind (so bereits LSG Bayern, Beschl. v. 18. Januar 2016 – L 7 AS 869/15 B ER).

4. Die Stadt Göttingen ist der Mietenstufe IV zugewiesen. [Anmerkung: Damit widerspricht das LSG Niedersachsen-Bremen der Auffassung des Landkreises Göttingen und dessen A&K-Gutachten, wonach die Stadt Göttingen (Mietenstufe IV) zusammen mit den Umlandgemeinden Rosdorf (Mietenstufe III) und Bovenden (Mietenstufe II) einen Vergleichsraum bildet, ohne dieses allerdings direkt zu sagen.] Damit stehen für die Stadt Göttingen einem Zwei-Personen-Haushalt € 578,60 an Unterkunftskosten zu statt der € 402,00, welche der Landkreis Göttingen als Oprionskommune aufgrund des Gutachtens von Analyse & Konzepte gewährt.

Quelle: www.herbertmasslau.de

2.2 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 01.07.2016 – L 7 AS 350/16 B ER

Der Antragsteller ist nicht deswegen von SGB II-Leistungen ausgeschlossen, weil er erfolglos aufgefordert wurde, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen.

Leitsatz (Redakteur)
1. Die Möglichkeit, eine Altersrente zu beziehen, genügt nicht für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II.

2. Wenn der Antragsteller trotz Aufforderung die vorgezogene Altersrente nicht selbst beantragt, besteht ein Selbsteintrittsrecht des Jobcenters nach § 5 Abs. 3 SGB II.

3. Wenn bereits ein Rentenantrag zum Erlöschen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II führen würde, wäre das Regelungssystem mit §§ 5, 9, 12a und 13 Abs. 2 SGB II überflüssig. Außerdem könne fiktives Einkommen nicht angerechnet werden.

4. Der SGB II-Träger ist auf andere Handlungsmöglichkeiten verwiesen: * Er kann gegen einen Ablehnungsbescheid oder Versagungsbescheid der Rentenversicherung Rechtsbehelfe einlegen. Gegen eine vollständige Versagung der Altersrente kann er einwenden, dass eine geringere Rente zu gewähren sei, wenn mitwirkungsabhängige ungeklärte Rentenzeiten bestehen und nur eine teilweise Versagung erfolgen dürfe (so die fachlichen Weisungen der BA zu § 5 SGB II, Rn. 5.13). *

5. Bezüglich einer Versagung von Arbeitslosengeld II ist zu unterscheiden.

6. Die Weigerung, einen Rentenantrag zu stellen, kann nicht zu einer Versagung von Arbeitslosengeld II führen, weil der SGB II-Leistungsträger nach § 5 Abs. 3 SGB II selbst diesen Antrag stellen kann. Ob wegen anschließender mangelnder Mitwirkung im Rentenverfahren auch eine (teilweise) Versagung von Arbeitslosengeld II möglich ist, ist umstritten. In der Literatur wird dies teilweise bejaht (Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 5 Rn. 37; Luthe in Hauck/Noftz, § 5 Rn. 165 SGB II), soweit der SGB II-Träger die Voraussetzungen nach § 66 Abs. 3 SGB I erfüllt, also selbst erfolglos eine Frist mit Versagungsandrohung gesetzt hat. Nach den vorgenannten fachlichen Weisungen der BA ist eine derartige Versagung nicht möglich (a.a.O., Rn. 5.11). * Daneben ist ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X i.V.m. § 34b SGB II vorgesehen und es kommt ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II in Betracht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp aktuell:
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.04.2016 – L 19 AS 423/16 B ER – rechtskräftig – Kein Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung bei verweigertem Antrag auf Gewährung vorzeitiger Altersrente.

2.3 – LSG München, Beschluss v. 16.06.2016 – L 11 AS 348/16 B ER

Existenzsichernde Leistungen für rumänische Staatsangehörige

Leitsatz (Redakteur)
Nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 03.12.2012 – B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 59/13 R – sowie vom 16.12.2015 – B 14 AS 13/14 R -, bestätigt durch Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R) besteht für rumänische Staatsangehörige im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzes ein Anordnungsanspruch gestützt auf § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 27.06.2016 – L 7 AS 2320/14 B – rechtskräftig

Die auf Änderung der vorläufigen Bescheide gerichtete Klage ist unzulässig.

Hinweis Gericht
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage mit dem Ziel, höhere vorläufige Leistungen zu erhalten, fehlt, wenn der betreffende Leistungszeitraum abgelaufen ist, weil dann der Antrag auf endgültige Festsetzung der Leistungen einen einfacheren Weg darstellt, rückwirkend höhere Leistungen zu erhalten (Sächsisches LSG, Beschluss vom 23.01.2013 – L 7 AS 1033/12 B PKH). Dies gilt, wenn – wie hier – der Grund für die Vorläufigkeit durch den Ablauf des Leistungszeitraums entfallen ist.

2. Nur wenn eine endgültige Festsetzung für den abgelaufenen Bewilligungszeitraum tatsächlich noch nicht möglich ist, ist eine Klage auf höhere vorläufige Leistungen auch für diesen Zeitraum zulässig (Aubel, in: JurisPK, SGB II, § 40 Rn. 69).

3. Im Urteil vom 19.08.2015 – B 14 AS 13/14 R hat das BSG ausgeführt, dass bei der Möglichkeit endgültiger Leistungsfeststellung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine Entscheidung über eine vorläufige, sondern über eine endgültige Leistungsfeststellung erfolgen darf. Sind die spezifischen Voraussetzungen für eine vorläufige Bewilligung nicht erfüllt, liege kein Grund für eine gerichtliche Entscheidung über vorläufige Leistungen anstelle einer endgültigen Klärung des Streits vor. Hierdurch wird die Unzulässigkeit des ausdrücklich auf die Bewilligung höherer vorläufiger Leistungen gerichteten Klageverfahrens bestätigt. Aus der Entscheidung des BSG ist indes nicht zu folgern, dass zulässiger Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens dann ohne Weiteres die Bewilligung endgültiger (höherer) Leistungen ist. Zwar ist eine auf eine endgültige Leistungsbewilligung gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage bei Vorliegen vorläufiger Leistungsbescheide nicht grundsätzlich unzulässig. Dies gilt aber nur, wenn im Verwaltungsakt vorläufige Leistungen bewilligt worden sind und die Verwaltung eine endgültige Leistungsgewährung durch gesonderten Verfügungssatz zumindest konkludent abgelehnt hat (BSG, Urteil vom 06.04.2011 – B 4 AS 119/10 R Rn. 21). Dies ist hier nicht der Fall.

4. Ergeht die endgültige Entscheidung, wird der entsprechende Bescheid zwar nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens (BSG, Urteil vom 19.08.2015 – B 14 AS 13/14 R Rn. 16 f), eine Pflicht zur Aussetzung eines wegen Nichtdurchführung eines Verwaltungsverfahrens unzulässigen Klageverfahrens besteht jedoch nicht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil v. 27.06.2016 – L 1 AS 4849/15

Leitsatz (Redakteur)
1. Der Bescheid über die endgültige Bewilligung von Leistungen ersetzt nicht nur den Bescheid über die vorläufige Bewilligung von Leistungen, sondern ebenfalls einen Bescheid über die Aufhebung der vorläufigen Bewilligung von Leistungen. Auch wenn sich eine Klage nur gegen letzteren richtet (kein Höhenstreit), wird der Bescheid über die endgültige Bewilligung von Leistungen nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens, soweit der Aufhebungszeitraum betroffen ist.

2. Bei der Kindergeldnachzahlung handelt es sich nicht um eine einmalige Einnahme i.S.d. § 11 Abs. 3 SGB II, sondern um laufendes Einkommen, das in voller Höhe im Juni 2015 anzurechnen und nicht gem. § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II auf einen Zeitraum von 6 Monaten gleichmäßig aufzuteilen ist.

3. Klassische Nachzahlungen wie im vorliegenden Fall unterfallen nicht der Regelung des § 11 Abs. 2 S. 3 SGB II, sondern nur laufende Einnahmen, die regelmäßig, aber nicht in aufeinanderfolgenden Monaten, gezahlt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.11.2015 – L 19 AS 924/15).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp aktuell:
Ebenso zur Kindergeldnachzahlung: BSG, Beschluss vom 17.03.2016 – B 4 AS 694/15 B – Bestätigung für LSG NRW, Urteil vom 09.11.2015 – L 19 AS 924/15 – Nachzahlungen auf Sozialleistungen (hier: Kindergeld) sind nicht auf 6 Monate zu verteilen.

2.6 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 06.06.2016 – L 31 AS 662/16 B – rechtskräftig

Ordnungsgeld – Anordnung des persönlichen Erscheinens – unentschuldigtes Ausbleiben – Ermessen

Leitsatz (Redakteur)
Der Ordnungsgeldbeschluss wurde aufgehoben.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – SG Köln, Beschluss v. 04.07.2016 – S 15 AS 2459/16 ER, n. v.

Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen Eingliederungsverwaltungsakt, denn hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Eingliederungsbescheides bestehen zumindest ernsthafte Zweifel.

Leitsatz Willy Voigt
1. Die Übersendung eines “Entwurfs” der Eingliederungsvereinbarung ist nicht ausreichend.

Eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, erschöpft sich nicht darin, eine Eingliederungsvereinbarung als Entwurf vorzulegen und falls dieser nicht unterzeichnet wird, dann als Verwaltungsakt im Ergebnis zu vollziehen.

2. Eine Eingliederungsvereinbarung muss vor Erlass als Eingliederungsverwaltungsakt verhandelt werden.

3. Eine konsensuale Lösung hat hier stets Vorrang gegenüber dem hoheitlichen Handeln durch Verwaltungsakt.

4. Die von der Antragsgegenerin selbst gesetzte Frist war einzuhalten. Den Eingliederungsverwaltungsakt schon vor Ablauf der selbst gesetzten Frist zu erlassen, ist rechtswidrig.

5. Im Eingliederungsverwaltungsakt muss ersichtlich sein, welche individuellen, konkreten und verbindlichen Unterstützungsleistungen für die vom Antragsteller verlangten Bewerbungsbemühungen gewährt werden (vgl. BSG, Urteil v. 23.06.2016 – B 14 AS 26/15 R).

6. Die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nebst einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Depressionen wurde nicht gewürdigt (berücksichtigt).

Rechtstipp: Vgl.
SG Köln, Beschl. v. 07.12.2015 – S 37 AS 3523/15 ER

Leitsätze Dr. Manfred Hammel
Ein Jobcenter hat vor dem Erlass eines Eingliederungsverwaltungsakts (§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II) stets den Versuch zu unternehmen, mit dem Alg II-Empfänger konsensual eine Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II) abzuschließen.

Eine Ausnahme ist hier nur dann vertretbar dar, wenn im Einzelfall besondere Gründe vorliegen, die den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung als nicht sachgerecht auffassen lassen, was im gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II erlassenen Verwaltungsakt eingehend dargelegt zu werden hat.

Die Beweislast für den vom SGB II-Träger unternommenen Versuch, zunächst auf ein Zustandekommen einer Eingliederungsvereinbarung hinzuwirken, trägt das Jobcenter.

SG Köln, Urt. v. 20.052016 – S 37 AS 3940/15 – Berufung beim LSG Essen anhängig, Az.: L 12 AS 1119/16

Leitsätze Dr. Manfred Hammel
Nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II hat seitens des Jobcenters vor dem Erlass eines entsprechenden Eingliederungsverwaltungsakts stets der Versuch unternommen zu werden, mit einem Bezieher von Arbeitslosengeld II konsensual eine Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II) abzuschließen.

Es besteht hier keine Gleichrangigkeit der Handlungsformen “Vereinbarung” und “Verwaltungsakt”, da auch § 15 SGB II vom Grundsatz der aktiven Mitwirkung der Leistungsberechtigten bei der gemeinsamen Ausarbeitung eines Eingliederungskonzepts geprägt ist.

Ein die Eingliederungsvereinbarung ersetzender Verwaltungsakt kommt nur dann in Betracht, wenn der SGB II-Träger zuvor den Versuch unternommen hat, mit Antragsteller/innen eine Vereinbarung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu schließen oder im Einzelfall besondere Gründe vorliegen, die den Abschluss eines solchen öffentlich-rechtlichen Vertrags als nicht sachgerecht erscheinen lassen. Dies ist im ersetzenden Verwaltungsakt im Einzelnen darzulegen. Für die Durchführung entsprechender Verhandlungen trägt das Jobcenter die Beweislast.

3.2 – SG Heilbronn, Urteil v. 23.06.2016 – S 15 AS 2759/12

Jobcenter muss Hartz IV-Bezieher Heizkosten nachzahlen.

Leitsatz (Redakteur)
1. Denn das vom Jobcenter zur Berechnung der angemessenen Heizkosten herangezogene Programm “Heikos 2.0” ist ungeeignet, die angemessenen Heizkosten im Einzelfall zu bestimmen.

2. Beim Computerprogramm “Heikos 2.0” handelt es sich um ein von der Stadt Heilbronn entwickeltes Modell zur Berechnung angemessener Heizkosten. “Heikos 2.0” erfasse nicht den konkreten Wärmebedarf einer Wohnung, sondern lege unzulässiger Weise pauschale Werte eines idealen Heizverhaltens zugrunde.

3. Entsprechend der Rechtsprechung des BSG – ist die Angemessenheit von Heizkosten nach dem “Bundesweiten Heizspiegel” zu bestimmen.

Quelle: Pressemitteilung des SG Heilbronn v. 04.07.2016: www.datev.de

Rechtstipp:
Ebenso Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil v. 21.05.2015 – L 7 AS 980/12

3.3 – SG Bremen, Beschluss v. 29.06.2016 – S 21 AS 1258/16 ER

Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Eingliederungsvereinbarung – Rechtswidrigkeit einzelner Regelungen eines Ersetzungsbescheides – Geltungsdauer – Übernahme der Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen – Übernahme von Kosten bezüglich der Maßnahme

EGV rechtswidrig, denn der Betroffene muss bevor die Kosten anfallen jedenfalls annähernd wissen, welche er bei Stellung eines entsprechenden Antrags ersetzt bekommt.

Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt rechtswidrig wegen Ausdehnung der Geltungsdauer hinsichtlich der Maßnahme, sowohl die Klausel hinsichtlich der Übernahme der Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen als auch diejenige bezüglich der Übernahme von Kosten, die im Zusammenhang mit der Teilnahme an der Maßnahme entstehen, nicht hinreichend bestimmt ist.

Leitsatz (Redakteur)
1. Die Verbindung der Geltungsdauer einer Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt mit der Dauer einer Eingliederungsmaßnahme erscheint soweit, wie hier, eine Verlängerung der Geltungsdauer damit einhergeht, generell als sachfremde Erwägung. Denn es besteht kein rechtlich relevantes Bedürfnis des Jobcenters die Geltungsdauer auf die (längere) Maßnahmedauer auszudehnen.

2. Eine Klausel, die auf die Übernahme von angemessenen Kosten gerichtet ist, lässt unter Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit völlig offen, ob und ggf. in welcher Höhe die Kosten erstattet werden. Der Adressat eines entsprechenden
Verwaltungsaktes wird; durch sie nicht in die Lage versetzt, die Voraussetzungen und die Höhe des ihm zustehenden Anspruchs festzustellen (vgl. LSG Niedersachsen- Bremen, Beschluss vom 04.04.2012, Az. L 15 AS 77/12 B ER).

3. Der Betroffene muss bevor die Kosten anfallen jedenfalls annähernd wissen, welche er bei Stellung eines entsprechenden Antrags ersetzt bekommt. Das Kostenrisiko für die Durchführung der erforderlichen Eigenbemühungen trägt, insbesondere im Falle der Fahrtkostenklausel, die ausdrücklich eine vorherige Antragstellung verlangt, immer der Antragsteller (vgl. LSG NSB, Beschluss vom 04.04.2012, Az. L 15 AS 77/12 B ER).

4. Aus der Rechtswidrigkeit der einzelnen Klausel folgt letztlich die Rechtswidrigkeit der hier streitigen Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt insgesamt.

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 27.06.2016 – L 2 SO 1273/16

Leitsatz (Juris)
Steht das vorhandene und grundsätzlich verwertbare Vermögen zum Zeitpunkt des Sozialhilfebedarfs auf Grund einer Willensentscheidung des zur Verwertung Verpflichteten noch nicht als “bereite Mittel” zur Verfügung, ist die Berücksichtigung des Vermögens zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 22.06.2016

Es liegt bereits kein Anordnungsanspruch vor, vielmehr greift der Ausschlusstatbestand nach § 23 Abs. 3 SGB XII. Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Aus dem Wortlaut des Tatbestandsmerkmals “um Sozialhilfe zu erlangen” ergibt sich, dass ein finaler Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe gegeben sein muss (LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 10. September 2009 – L 23 SO 117/06).

Leitsatz (Juris)
Prägend für den Zuzug eines Ausländers in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist der Sozialhilfebezug im Sinne des Ausschlusstatbestandes nach § 23 Abs. 3 SGB XII, wenn zwischen dem Zuzug ins Bundesgebiet und der Antragstellung lediglich ein Zeitraum von 13 Kalendertagen bzw. – bedingt durch Feiertage – von fünf Arbeitstagen liegt, der Ausländer erst ein Jahr zuvor bereits ins Bundesgebiet eingereist war und bereits am nächsten Tag nach dem Zuzug einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatte (sodann das Bundesgebiet allerdings wieder verlassen hatte) und schließlich der Familienangehörige (hier die Tochter), zu dem der Zuzug erfolgen sollte, selbst im Leistungsbezug nach dem SGB II steht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.3 – Sächsisches Landessozialgericht, Urteil v. 16.03.2016 – L 8 SO 10/14

Streitig ist die Übernahme von Umzugskosten, wenn dem Antragsteller keine laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 27 ff. SGB XII oder nach §§ 41 ff. SGB XII zustehen (hier ablehnend wegen Verneinung der Hilfebedürftigkeit).

Leitsatz (Redakteur)
1. Die Übernahme der Umzugskosten scheitert hier nicht an der Zustimmungsfähigkeit des Umzugs, sondern an der fehlenden Hilfebedürftigkeit des Klägers.

2. Die Unmöglichkeit des Verbleibs in der bisherigen Wohnung infolge vermieterseitiger Kündigung stellt einen zwingenden Grund für einen Wohnungswechsel dar, während die Eigenkündigung durch den Hilfebedürftigen für sich allein die Umzugsnotwendigkeit nicht rechtfertigt (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.03.2012 – L 7 AS 985/11 B ER; Beschluss vom 26.10.2015 – L 7 AS 932/15 B ER).

3. Aufgrund der vermieterseitigen Kündigung war dieser Umzug notwendig im Sinne des § 35 Abs. 2 Satz 6 SGB XII. Dem steht – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht entgegen, dass der Kläger die Kündigung möglicherweise durch mietvertragswidriges Verhalten selbst verschuldet hat. Denn Sozialhilfe wird grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Ursache der Hilfebedürftigkeit geleistet. Die Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers besteht daher selbst dann, wenn die Hilfebedürftigkeit schuldhaft herbeigeführt wurde. Die vorsätzliche oder grob fahrlässige Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit kann lediglich nach § 103 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eine Ersatzpflicht des Verursachers begründen.

4. Nur im Rahmen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung kann die sozialwidrige Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit zu einem Leistungsausschluss führen (§ 41 Abs. 4 SGB XII); dann aber käme stattdessen eine Übernahme der Umzugskosten im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt (nach § 19 Abs. 1 i.V.m. § 35 Abs. 2 Sätze 5 und 6 SGB XII) in Betracht.

5. Der Anspruch auf Übernahme von Umzugskosten hängt davon ab, dass dem Kläger überhaupt dem Grunde nach Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen (vgl. BSG, Urteil vom 06.05.2010 – B 14 AS 7/09 R).

6. § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bestimmt, dass auch eine Person, die keine laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht, vom Sozialhilfeträger Leistungen für einmalige Bedarfe erhalten kann (Wohnungsbeschaffungskosten, Mietkautionen und Umzugskosten) ; bei der Ermittlung ihrer Hilfebedürftigkeit darf allerdings nach § 31 Abs. 2 Satz 2 SGB XII das Einkommen des Entscheidungsmonats und von bis zu sechs Folgemonaten, mithin von maximal sieben Monaten, berücksichtigt werden.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – SG Gießen, Urteil v. 07.06.2016 – S 18 SO 108/14

Unzumutbare Härte bei Verwertung einer Sterbegeldversicherung

Leitsatz (Redakteur)
1. Der Einsatz einer angemessenen finanziellen Vorsorge für den Todesfall für den Leistungsberechtigten von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung stellt eine unzumutbare Härte dar, wenn die Zweckbindung verbindlich festgelegt ist.

2. Vermögenswerte, die zur Absicherung der Kosten einer angemessenen Bestattung angespart worden sind, werden durch die Härteregelung des § 90 Abs. 3 SGB XII geschützt. Diese Privilegierung ist dann gerechtfertigt, wenn sichergestellt ist, dass der angesparte Vermögenswert tatsächlich für die Bestattungskosten verwendet werde. Dies sei bei einer zweckgebundenen Sterbegeldversicherung der Fall.

3. Die bloße Absicht des Betroffenen, ein angespartes Guthaben im Falle des Todes für die Bestattungskosten zu verwenden, ohne einen entsprechenden Teil seines Vermögens aus dem übrigen Vermögen auszugliedern, genüge dagegen nicht.

4. Im Übrigen hielt das Gericht die Verwertung der Sterbeversicherung für offensichtlich unwirtschaftlich.

Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen v. 27.06.2016:  www.juris.de

Rechtstipp:
Vgl. zur Zweckbindung bei einer Sterbegeldversicherung: LSG Thüringen, Urteil vom 23.05.2012 – L 8 SO 85/11

6.   Entscheidungen aus anderen Rechtsgebieten

6.1 – OVG Lüneburg 13. Senat, Urteil vom 23.06.2016, 13 LB 144/15

Keine Einbürgerungszusicherung bei zu vertretender Inanspruchnahme von Mitteln nach dem SGB II

Leitsatz (Juris)
Eine Einbürgerungsbewerberin hat die Inanspruchnahme von Mitteln nach dem SGB II zu vertreten, wenn sie eine Arbeitsaufnahme verweigert, obgleich es ihr möglich wäre, ihrem Ehemann zumindest zeitweise die Betreuung des gemeinsamen Kindes zu überlassen, auch wenn dieses Kind das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

7.   Bundesrat am 08.07.2016: Änderungen bei Hartz-IV-Verfahren und Insolvenzrecht:

Änderungen bei Hartz-IV-Verfahren und Insolvenzrecht
Der Bundesrat hat am 8. Juli 2016 Vereinfachungen bei der Bearbeitung von Hartz-IV-Anträgen zugestimmt. Leistungsempfänger können damit künftig schneller und einfacher Klarheit über das Bestehen und den Umfang ihrer Ansprüche erhalten. Das Gesetz vereinfacht die teils sehr komplexen Verfahrensvorschriften und -abläufe für die Mitarbeiter in den Jobcentern. Dies betrifft insbesondere die zahlreichen Verknüpfungen des Sozialgesetzbuchs II mit anderen Rechtsgebieten. Betroffen sind u.a. Regelungen zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen, zu den Anspruchsvoraussetzungen sowie den Bedarfen für Unterkunft und Heizung. Auch die Schnittstelle zwischen der Ausbildungsförderung nach dem BAföG und der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde verbessert, um die Ausbildungsaufnahme zu erleichtern.

Aktive Arbeitsförderung durch Jobcenter

weiter zur Quelle: www.bundesrat.de

8.   Bundesrat will Zahl der Klagen vor den Sozialgerichten reduzieren – Änderung des SGG

Bundesrat will Zahl der Klagen reduzieren
Arbeit und Soziales/Gesetzentwurf – 04.07.2016
Berlin: (hib/CHE) Der Bundesrat will mit einer Änderung des Sozialgerichtsgesetzes erreichen, dass die Sozialgerichte entlastet werden. Dazu hat die Länderkammer einen Gesetzentwurf (18/8971) vorgelegt, in dem sie darauf verweist, dass besonders in der ersten Instanz die Belastung der Gerichte unverändert hoch sei. Allein 2014 seien bei den Sozialgerichten mehr als 370.000 Klagen in Hauptsacheverfahren eingegangen, heißt es im Entwurf. Durch Änderungen des Sozialprozessrechts soll die Belastung sinken, so die Erwartung des Bundesrates.

Quelle: www.bundestag.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de