1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 10.08.2016 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – BSG, Urteil v. 10.08.2016 – B 14 AS 58/15 R
Zählen die durch einen Umzug, zu dem der Grundsicherungsträger die vorherige Zusicherung erteilt hat, veranlassten Kosten für die Umstellung des Telefon- und Internetanschlusses und für einen Postnachsendeauftrag zu den berücksichtigungsfähigen unmittelbaren Umzugskosten gemäß § 22 Abs 6 SGB 2? (grundsätzlich ja)
Wenn Hartz-IV-Empfänger umziehen müssen, muss das Jobcenter auch für die Bereitstellungskosten eines neuen Telefon- und Internetanschlusses sowie die Kosten eines Nachsendeauftrags bei der Post aufkommen.
Leitsatz (Redakteur)
Durch einen Umzug, zu dem der Grundsicherungsträger die vorherige Zusicherung erteilt hat, veranlassten Kosten für die Umstellung des Telefon- und Internetanschlusses und für einen Postnachsendeauftrag zählen zu den berücksichtigungsfähigen unmittelbaren Umzugskosten gemäß § 22 Abs 6 SGB 2.
Hinweis Gericht
Umzugskosten sind, wie die von den allgemeinen Unterkunftskosten in § 22 Abs 1 SGB II abweichende Sonderregelung in § 22 Abs 6 SGB II zeigt, die Kosten, die einmalig durch die besondere Bedarfslage „Umzug“ verursacht werden. Dabei ist zwischen einem Umzug, der vom Jobcenter veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist, und anderen Umzügen zu unterscheiden, wie das dem Jobcenter eingeräumte Ermessen hinsichtlich der Erteilung einer Zusicherung für die Kostenübernahme zeigt.
Bei einem vom Jobcenter – wie vorliegend – aufgrund der Trennungssituation zu Recht als notwendig anerkannten Umzug mit einer entsprechenden Zusicherung hinsichtlich der Umzugskosten gehören zu den als Bedarf zu berücksichtigenden Umzugskosten heutzutage auch die Kosten für einen Telefon- und Internetanschluss sowie die für einen Nachsendeantrag. Denn beides ist notwendig, um nach einem Umzug die Kommunikation mit anderen Menschen, Behörden usw aufrecht zu erhalten, die, wie die Aufnahme der Abteilung 8 (Nachrichtenübermittlung) in die Ermittlung der Regelbedarfe zeigt, ein vom Gesetzgeber anerkanntes Grundbedürfnis darstellt (vgl §§ 5 f RBEG). Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG, das die Höhe der dem Kläger hinsichtlich der zwei Streitpunkte entstandenen Kosten genau ermittelt hat, Feststellungen zu deren Angemessenheit nachzuholen haben.
Quelle: juris.bundessozialgericht.de
1.2 – BSG, Urteil v. 10.08.2016 – B 14 AS 51/15 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommens- oder Vermögensberücksichtigung – Überschussanteile und Bewertungsreserve aus einer Kapitallebensversicherung bei Auszahlung während des Leistungsbezugs
Sind Überschussanteile und Bewertungsreserven aus einer zum Schonvermögen zählenden Kapitallebensversicherung bei Auszahlung und Zufluss während des Leistungsbezugs gem § 11 SGB 2 als Einkommen zu berücksichtigen? (nein)
Leitsatz (Redakteur)
Überschussanteile und Bewertungsreserven aus einer zum Schonvermögen zählenden Kapitallebensversicherung sind bei Auszahlung und Zufluss während des Bezuges von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dem Vermögen gem § 12 SGB 2 zuzuordnen und nicht gem § 11 SGB 2 als Einkommen zu berücksichtigen.
Hinweis Gericht
Wertsteigerungen der einheitlichen Lebensversicherung nach Antragstellung bewirken keinen Einkommenszufluss, sondern sind Steigerungen des Verkehrswerts von zuvor vorhandenem Vermögen nach Antragstellung. Dies unterscheidet sie von Zinsen auf Kapitalvermögen, die nach Antragstellung gesondert zufließen. So bestehen bei einem Darlehen zwei verschiedene Hauptpflichten des Darlehensnehmers, nämlich auf Rückzahlung des Darlehensbetrags und auf Zahlung der Zinsen (§ 488 Abs 1 Satz 2 BGB), denen evtl verschiedene Gläubiger gegenüberstehen können.
Durch die Auszahlung der Lebensversicherung während des Alg II-Bezugs hat sich an ihrer Einordnung als Vermögen nichts geändert.
Quelle: juris.bundessozialgericht.de
Rechtstipp:
Ebenso Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 18.02.2015 – L 8 AS 1229/12 – rechtskräftig; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.11.2013 – L 13 AS 5234/08 und Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 13.11.2014 – L 9 AS 678/12
1.3 – BSG, Urteil v. 10.08.2016 – B 14 AS 23/15 R
Zum Anspruch auf Abschluss einer Leistungserbringervereinbarung; hier: Schuldnerberatung nach § 16a SGB II (verneinend)
Hinweis Gericht
Der Kläger keinen Anspruch auf Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages mit der Beklagten über die Erbringung von Leistungen der entgeltlichen Schuldnerberatung.
Die Beklagte hat zumindest das ihr hinsichtlich der qualitativen Anforderungen an die Personen, die für die unmittelbare Erbringung dieser Leistung gegenüber den Leistungsberechtigten bei ihren Vertragspartnern zuständig sind, eingeräumte Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Insbesondere ist angesichts der einleitenden Zielbeschreibung in § 16a SGB II „zur Verwirklichung einer ganzheitlichen und umfassenden Betreuung und Unterstützung bei der Eingliederung in Arbeit“ nicht zu beanstanden, dass sie eine rein rechtliche Beratung als unzureichend ansieht und darüber hinaus eine spezifische Beratungskompetenz durch eine Beratungsausbildung oder die Zusatzqualifikation „Schuldnerberatung“ auch von einem Volljuristen fordert.
Quelle: juris.bundessozialgericht.de
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – LSG Mecklenburg- Vorpommern, Urteil v. 24.02.2016 – L 10 AS 461/12 – Revision anhängig BSG Az.: B 14 AS 13/16 R
Ist eine Betriebskostennachzahlung für eine nicht mehr bewohnte Unterkunft als Unterkunftsbedarf im Fälligkeitsmonat gem § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 zu berücksichtigen, wenn sowohl im Entstehungszeitraum der Betriebskosten als auch im Fälligkeitszeitpunkt der Nachforderung ein Leistungsbezug vorlag und der Umzug nach Trennung vom Lebenspartner mit vorheriger Zusicherung gem § 22 Abs 4 SGB 2 erfolgte?
Leitsatz (Juris)
Eine Betriebskostennachzahlung für eine nicht mehr bewohnte Unterkunft ist als aktueller Bedarf im Fälligkeitsmonat gem § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 zu berücksichtigen, wenn sowohl im Entstehungszeitraum der Betriebskosten als auch im Fälligkeitszeitpunkt der Nachforderung ein Leistungsbezug vorlag und der Umzug in die neue Unterkunft gem § 22 Abs 4 SGB 2 mit vorheriger Zusicherung des Grundsicherungsträgers erfolgt.
Rechtstipp:
BSG, Urteil vom 20.12.2011 – B 4 AS 9/11 R – eine Übernahme einer Betriebskostenabrechnung für eine nicht mehr bewohnte Wohnung ist dann zu übernehmen, wenn der Leistungsberechtigte sowohl zur Zeit des Entstehens der Betriebskosten wie auch zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Betriebskostenabrechnung im Leistungsbezug stand und der Umzug aufgrund einer Kostensenkungsaufforderung des Leistungsträgers erfolgte.
2.2 – LSG Halle, Urteil v. 26.02.2016 – L 4 AS 159/12 – Revision anhängig beim BSG unter dem Az. B 14 AS 15/16 R
Ist die vom Arbeitgeber eingeräumte Möglichkeit der privaten Nutzung eines Dienstfahrzeugs entsprechend der steuerrechtlichen Bewertung nach § 8 Abs 2 S 2 iVm § 6 Abs 1 Nr 4 S 2 EStG als zu berücksichtigendes Einkommen iS des § 11 SGB 2 anzusehen?
(Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Einnahmen in Geld oder Geldeswert – Überlassung eines Dienstwagens durch den Arbeitgeber auch zur privaten Nutzung durch den Arbeitnehmer – steuerrechtlicher geldwerter Vorteil – keine geldwerte Einnahme iS § 11 SGB 2 – fehlender Marktwert – keine Minderung des pauschalierten Regelbedarfs)
Leitsatz (Juris)
Bei einem in der Lohnbescheinigung bei den Bruttobezügen aufgeführten Betrag von rund 230 Euro für die Kraftfahrzeug-Gestellung, bei dem es sich um einen steuerrechtlich zu berücksichtigenden wirtschaftlichen Vorteil aus der privaten Dienstwagennutzung handelt, der aber nicht tatsächlich zufließt, handelt es sich weder um eine Einnahme in Geld noch um eine Einnahme in Geldeswert, die gem § 11 SGB 2 als Einkommen zu berücksichtigen ist.
2.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil v. 20.07.2016 – L 11 AS 861/15
Mehrbedarf Ernährung – Fettstoffwechselstörung
Kein Mehrbedarf bei Histaminintoleranz
Leitsatz (Redakteur)
Die vom Regelbedarf umfasste ausgewogene Vollkost ist die geeignete Ernährungsform und entspricht auch den Empfehlungen der DGE, die bereits die Erkenntnisse zur Prävention und Therapie u.a. von Fettstoffwechselstörungen berücksichtigt hat (vgl auch BayLSG, Urteil vom 21.11.2014 – L 8 SO 128/12). Nicht nachvollziehbar ist, weshalb Geflügelfleisch generell teurer sein soll, als Schweinefleisch. Allein die Vorlage von Kassenbelegen für den Kauf von Schweinefleisch einerseits und Geflügelfleisch andererseits, kann dies nicht belegen. Es erscheint zudem nicht zwingend nachvollziehbar, dass die vom Regelbedarf umfasste gesunde Vollkost alleine Schweinefleisch beinhaltet bzw. dieses gewichtsmäßig eins zu eins durch Geflügelfleisch ersetzt werden müsste.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
2.4 – Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss v. 19.07.2016 – L 3 AS 611/16 B PKH – rechtskräftig
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Wohnungswechsel; Zusicherung der Übernahme der Unterkunftskosten; Zulässigkeit einer Feststellungsklage über das Erfordernis eines Umzugs
Keine Bewilligung von PKH, da im Falle der Klägerin bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung die von ihr anzumietende Wohnung vergeben war, fehlte der Klage von Anfang an das Rechtsschutzbedürfnis.
Leitsatz (Redakteur)
1. Bei einer Zusicherung im Sinne von § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II handelt es sich um einen auf eine Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.
2. Da im Falle der Klägerin bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung die von ihr anzumietende Wohnung vergeben war, fehlte der Klage von Anfang an das Rechtsschutzbedürfnis.
3. Die Kläger trägt dafür, dass sie gleichwohl die Klage betreibt, vor, dass der Beklagte den Antrag auf Erteilung der Zusicherung mit der fehlenden Notwendigkeit des Umzugs begründet habe, und dass die Ablehnung neuer Zusicherungsanträge mit eben dieser Begründung zu erwarten sei.
4. Die Klage mit diesem Rechtsschutzbegehren kann nur Erfolg haben, wenn die Klägerin einen Anspruch auf isolierte Feststellung dieser Anspruchsvoraussetzung hat. Ob eine solche sogenannte Elementenfeststellungsklage zulässig ist, wird von den Senaten des Bundessozialgerichtes unterschiedlich beantwortet (vgl. die Nachweise bei Sächs. LSG, Beschluss vom 18. Mai 2016 – L 3 AS 167/16 B ER – juris Rdnr. 23).
5. Ohne zur Zulässigkeit einer solchen Klage dem Grund nach Stellung zu nehmen, hat der 4. Senat in Bezug auf die Zusicherung zum Umzug die Möglichkeit einer abstrakten Feststellung der Erforderlichkeit eines Umzuges verneint (vgl. BSG, Urteil vom 6. April 2011 – B 4 AS 5/10 R). Denn der Streit zwischen den Beteiligten habe jedenfalls nicht durch die gerichtliche Feststellung über ein einzelnes Element eines Rechtsverhältnisses vollständig ausgeräumt werden können, weil zu den Aufwendungen für eine bestimmte neue Unterkunft keine Angaben vorgelegen hätten und die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft im Vergleichsraum auch vom Zeitpunkt der Anmietung einer neuen Wohnung abhänge. Dieser Entscheidung haben sich das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 10. Mai 2011 – L 19 AS 629/11 B ER) und das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. März 2015 – L 19 AS 2347/14 B ER, L 19 AS 2348/14 B) angeschlossen.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
3.1 – SG München, Beschluss v. 21.03.2016 – S 40 AS 555/16 ER
Orientierungssätze von Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht & Fachanwalt für Sozialrecht Mathias Klose:
1. Fehlende finanzielle Mittel, um einen Meldetermin beim Jobcenter wahrzunehmen, können einen wichtigen Grund darstellen, der den Eintritt einer Sanktion verhindert.
2. Auch wenn Fahrtkosten grundsätzlich zunächst aus dem Regelbedarf zu bestreiten sind, muss dem Hilfebedürftigen das wirtschaftliche Existenzminimum verbleiben.
Quelle: www.ra-klose.com
3.2 – SG Leipzig, Urteil v. 18.05.2016 – S 22 AS 3350/12, n. v.
Leitsatz (Redakteur)
1. Ein Mehrbedarf für Alleinerziehende kommt auch für eine Person unter 25 Jahren in Betracht, wenn sie mit einem minderjährigen Kind und einem eigenen Elternteil zusammenlebt.
2. Denn allein die (potentielle) Möglichkeit des Rückgriffs auf andere Personen oder Einrichtungen führt nicht zum Anspruchsausschluss (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 23.8.2012 – B 4 AS 167/11 R).
3. Eine nachhaltige Entlastung der Klägerin durch die Betreuung ihres Sohnes in den Unterrichtszeiten durch ihre Mutter ist zwar nicht ausgeschlossen. Jedoch ist der Argument der Klägerin zum Vergleich mit einer Fremdbetreuung gewichtig. Denn die Klägerin hätte ihren Sohn zumindest ab Vollendung dessen dritten Monats in den Unterrichtszeiten ebenso in einer Kindertagesstätte betreuen lassen können. Dies würde dem Mehrbedarf für Alleinerziehende nicht entgegenstehen. Schließlich waren die vom BSG sozialpolitischen und wirtschaftlichen Gründe für die pauschalierte Leistung für alleinerziehende Elternteile (vgl. Urteil vom 11.2.2015 – B 4 AS 26/14 R, Rn. 15 f.) zu beachten.
3.3 – Sozialgericht Duisburg, Urteil v. 27.06.2016 – S 49 AS 2974/15 – rechtskräftig
Arbeitslosengeld II – Höhe des Regelbedarfs – gemischte Bedarfsgemeinschaft mit einem volljährigen Bezieher von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG – analoge Anwendung des § 20 Abs 2 S 1 SGB 2, solange keine Besserstellung gegenüber § 20 Abs 4 SGB 2 eintritt
Leitsatz (Redakteur)
Auch für Zeiträume nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (Az: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) hat ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger, der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt nach dem SGB 2 bezieht und in Bedarfsgemeinschaft mit einem nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigten lebt, zunächst weiterhin Anspruch auf Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung des Regelbedarfs aus § 20 Abs 2 Satz 1 SGB 2. Eine analoge Anwendung von § 20 Abs 4 SGB 2 ist in diesen Fällen nicht gerechtfertigt.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3.4 – Sozialgericht Dortmund, Urteil v. 20.07.2016 – S 32 AS 3037/16 ER
Verpflichtung des Jobcenters zur Erbringung von Regelleistungen nach dem SGB II für bulgarische Antragsteller
Leitsatz (Juris)
1. Leitet das Jobcenter nach § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I einen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gerichteten Antrag eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der EU-Staatsangehöriger und nach Auffassung des Jobcenters von dem Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB II erfasst ist, an den Sozialhilfeträger weiter und informiert den Antragsteller über diese Auffassung und die Weiterleitung, so ergibt sich daraus ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG gegen das Jobcenter. Dies gilt jedenfalls dann, wenn erkennbar ist, dass der Sozialhilfeträger der Rechtsprechung des BSG in Bezug auf §§ 21, 23 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 3 SGB XII nicht folgen und keine Sozialhilfeleistungen erbringen wird, und unabhängig von der Frage, ob § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I auf derartige Konstellationen überhaupt Anwendung findet.
2. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 (vormals: Art 12 VO (EWG) 1612/68) stellt ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches „allein aus dem Zweck der Arbeitsuche“ i. S. d. Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der derzeit geltenden Fassung dar (entgegen LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.01.2016 – L 15 AS 226/15 B ER -; Anschluss an LSG Hamburg, Beschluss vom 27.05.2016 – L 4 AS 160/16 B ER -; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 29.04.2016 – L 4 AS 182/16 B ER – und vom 13.04.2016 – L 2 AS 37/16 B ER -; LSG NRW, Beschluss vom 27.01.2016 – L 19 AS 29/16 B ER -; BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 43/15 R -).
3. Eine Übertragung eines Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 auf volljährige Geschwister, die selbst nicht die Voraussetzungen von Art. 10 VO (EU) 492/2011 erfüllen, findet nicht statt. Diese sind auch nicht freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 3 FreizügG/EU (aus einem anderen Grund als dem der Arbeitssuche). Das ergibt sich daraus, dass Inhaber des Aufenthaltsrechts aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 nicht Unionsbürger i. S. d. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind. Der Anwendungsbereich von § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist auch nicht im Wege einer erweiternden Analogie dahingehend auszulegen, dass er auch für Familienangehörige von Unionsbürgern, die ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 besitzen, gilt. Auch aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU i. V. m. §§ 27 ff. AufenthG oder § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i. V. m. Art. 6 GG ergibt sich für solche Geschwister kein Aufenthaltsrecht.
4. Eine einstweilige Anordnung über die vorläufige Verpflichtung zur Gewährung vorläufiger Leistungen nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III wegen des durch den Vorlagebeschluss des SG Mainz vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 – eingeleiteten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 GG bei dem BVerfG kommt nicht in Betracht, weil der Kläger sich im dortigen Fall nicht auf eine Freizügigkeitsberechtigung als Unionsbürger berufen kann sondern Angehöriger eines Drittstaats und Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG ist. Die aufenthaltsrechtliche Situation ist insofern eine grundlegend andere, so dass sich jedenfalls zum Teil andere verfassungsrechtliche Fragen stellen.
5. Eine Rechtsprechung des BSG erzeugt, auch wenn sie gefestigt ist, keine „Quasi-Bindung“ der Instanzgerichte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren – etwa aufgrund einer Folgenabwägung -, wenn das erkennende Instanzgericht sich bei geklärtem Sachverhalt abschließend eine entgegenstehende Auffassung über das (Nicht-)Bestehen des Anordnungsanspruchs gebildet hat. Eine solche Abweichung im Eilverfahren von der BSG-Rechtsprechung verstößt auch nicht gegen Art. 1, 20 GG und Art. 19 Abs. 4 GG, wenn diese Rechtsprechung nicht sowohl verfassungsrechtlich geboten als auch zulässig ist. Beides ist hier nicht der Fall (entgegen LSG NRW, Beschlüsse vom 18.04.2016 – L 6 AS 2249/15 B ER, L 6 AS 21/16 B – und vom 21.04.2016 – L 6 AS 389/16 B ER -).
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3.5 – SG Dortmund, Urteil v. 01.08.2016 – S 31 AS 3579/14
Zu Fahrt – bzw. Übernachtungskosten für eine Fahrt nach Bochum zur Wohnungsbesichtigung (hier bejahend)
Der Grundsicherungsträger ist zur Zusicherung der Fahrt – bzw. Übernachtungskosten als Wohnungsbeschaffungskosten verpflichtet, denn er hat durch seine Kostensenkungsaufforderung die Klägerin dazu veranlasst, die bisherige Wohnung zu kündigen und umzuziehen.
Leitsatz (Redakteur)
1. Zu den Wohnungsbeschaffungskosten i. S. d. § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II gehören auch die Kosten zur Anfahrt nach Bochum und einer Übernachtung, weil diese Aufwendungen für das Anmieten der neuen Wohnung notwendig gewesen sind.
2. Die Zusicherung dieser Kosten ist vom Jobcenter abgelehnt worden, so dass nunmehr die Klägerin ihre Klage unmittelbar auf die Übernahme der tatsächlich entstandenen Kosten richten kann.
Quelle: Rechtsanwältin Ruth Nobel, Südring 23, 44787 Bochum
3.6 – Sozialgericht Stade, Gerichtsbescheid v. 20.06.2016 – S 6 AS 515/13 – rechtskräftig
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bei weniger als einjährigem Zusammenleben
Auch bei einem Zusammenleben von kürzerer Dauer als einem Jahr kann eine Einstandsgemeinschaft bestehen.
Leitsatz (Redakteur)
1. Hier zur Annahme einer Einstandsgemeinschaft und damit einer Bedarfsgemeinschaft.
2. Auch wenn die Klägerin mit ihrem Partner noch kein Jahr zusammengelebt habe, sei in Anbetracht der Gesamtumstände davon auszugehen, dass eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft vorliegt.
3. Die Vermutung eines Einstands- und Verantwortungswillens besteht bei einem Zusammenleben der Partner von mehr als einem Jahr. Die Ein-Jahres-Frist ist für die Anwendung der Vermutungsregel eine Mindestfrist. Es ist der Zeitraum, den das Gesetz Partnern zubilligt, um herauszufinden, ob man füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen will, bevor dies (widerleglich) unterstellt wird. Bei einem Zusammenleben von kürzerer Dauer als einem Jahr ist daraus nicht automatisch der Schluss zu ziehen, dass keine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft besteht. Stattdessen fehlt es lediglich an der gesetzlichen Vermutung eines Einstandswillens. Es kann und darf aber sowohl von Behörden als auch Gerichten festgestellt werden, dass bei Vorliegen entsprechender Tatsachen dennoch ein Einstandswille gegeben ist.
4. Bei Partnern, die kürzer als ein Jahr zusammenwohnen, können allerdings nur gewichtige Gründe die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft begründen. Herangezogen werden können etwa die Indizien, aus denen auch sonst indiziell auf das Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft geschlossen wird. Hierfür trägt das Jobcenter die objektive Beweislast (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08. Juli 2009 – L 7 AS 606/09 B ER).
Rechtstipp:
Ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 25.05.2010 – L 25 B 1070/08 AS PKH
3.7 – SG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 17.06.2016 – S 24 AS 6353/14
Das Jobcenter muss die Schülerbeförderungskosten zu einer „islamfreundlicheren“ Privatschule nicht übernehmen, wenn der Besuch der nächstgelegenen staatlichen Schule zumutbar ist.
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. April 2016 (Az.: L 23 SO 46/16 B ER):
Begrenzung der Dauer von Leistungen der Sozialhilfe bei deren Bewilligung durch einstweiligen Rechtsschutz (Verpflichtung für lediglich drei Monate)
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Auch einer nichtdeutschen Person, die dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII unterfällt, haben vom zuständigen Sozialhilfeträger Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Ausübung von Ermessen gewährt werden, soweit es im Einzelfall gerechtfertigt ist.
2. Diese bedürftigen Personen können ebenfalls einen sich aus dem garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Leistungsanspruch geltend machen.
3. Die anwendbare Rechtsgrundlage folgt hier aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII.
4. Anderes gilt nur dann, wenn die tatsächlichen Lebensumstände eines bedürftigen Unionsbürgers darauf schließen lassen, dass er nicht auf Dauer im Inland verweilen wird, oder wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hat.
5. In diesem Sachzusammenhang kann auch Berücksichtigung finden, ob der Betroffene in der Vergangenheit bereits seinen Aufenthalt im Inland für längere Zeit unterbrochen hat. Weiterhin können bei der Ermessensentscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ebenfalls Selbsthilfemöglichkeiten (§ 2 Abs. 1 SGB XII) zu berücksichtigen sein.
4.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil v. 04.08.2016 – L 7 SO 1394/16
Leitsatz (Juris)
1. Das Vermögen i.S. des § 90 Abs. 1 SGB XII umfasst die Summe aller aktiven Vermögenswerte; eine Saldierung aller Aktiva und Passiva erfolgt grundsätzlich nicht.
2. Eine Beratungspflicht dahingehend, durch den Verbrauch zumutbar verwertbaren Vermögens möglichst rasch Hilfebedürftigkeit herbeizuführen, besteht nicht. Es ist nicht möglich, einen Antragsteller nach den Grundsätzen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Wege einer Amtshandlung so zu stellen, als hätte er bereits zu einem früheren Zeitpunkt das über der Vermögensfreigrenze liegende Vermögen tatsächlich verwertet.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
5. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
5.1 – SG Gießen, Beschluss v. 25.07.2016 – S 18 SO 93/16 ER
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Privilegierung der Einnahmen aus nebenberuflicher Tätigkeit im Bereich der Unterrichtung an einer Volkshochschule – Anrechnung der Honorareinkünfte als Einkommen nach § 82 SGB XII (verneinend)
Leitsatz (Redakteur)
Einkünfte aus einer nebenberuflicher Tätigkeit als Dozent an einer Volkshochschule dürfen nicht als Einkommen im Rahmen der Sozialhilfe angerechnet werden.
Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen v. 10.08.2016: sg-giessen-justiz.hessen.de
5.2 – Sozialgericht Aachen, Urteil v. 09.08.2016 – S 20 SO 156/15
Zur Frage, ob der Kläger der Regelbedarfsstufe 1 oder der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen ist (hier der Regelbedarfsstufe 3 zuzuordnen) – entgegen BSG, Urteil vom 23.07.2014 – B 8 SO 14/13 R; Urteil vom 24.03.2015 – B 8 SO 5/14 R
Leitsatz (Redakteur)
Leben mehr als zwei Personen – wie im vorliegenden – Fall zusammen, ohne zu den Personen nach der Regelbedarfsstufe 2 zu gehören, und beteiligen sie sich an der Haushaltsführung, so führen diese weiteren Personen – nicht einen „eigenen Haushalt“ (so aber: BSG, Urteil vom 23.07.2014 – B 8 SO 14/13 R; Urteil vom 24.03.2015 – B 8 SO 5/14 R). Vielmehr führen die zusammenlebenden Personen – wie die Personen der Regelbedarfsstufe 2 – einen „gemeinsamen Haushalt“.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
5.3 – SG Nürnberg, Endurteil v. 30.06.2016 – S 20 SO 109/15
Zur Frage der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Leistungen der Sozialhilfe für EU-Bürger
Leitsatz (Juris)
1. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 SGB XII verstößt nicht gegen höherrangiges EU-Primär- oder Sekundärrecht. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Anwendung des § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 SGB XII verstößt aber gegen das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 (EFA), wenn und solange sich der Bürger eines EFA-Signatarstaates erlaubterweise im Gebiet der BRD aufhält. (redaktioneller Leitsatz)
3. Die im EFA geregelte „formale“ Betrachtungsweise bei der Aufenthaltserlaubnis ist inzwischen überholt; abzustellen ist auf das materielle Aufenthaltsrecht bzw. die materielle Freizügigkeitsberechtigung eines Unionsbürgers. (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 SGB XII schließt nur Anspruchsleistungen nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII, nicht hingegen Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII aus (ebenso BSG BeckRS 2016, 67701). (redaktioneller Leitsatz)
5. Nach sechs Monaten faktischer Duldung entsteht ein verfestigter tatsächlicher Aufenthalt und reduziert sich das Ermessen (§ 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII) auf Null, so dass Leistungen wie bei einem Inländer zu erbringen sind (ebenso BSG BeckRS 2016, 67701). (redaktioneller Leitsatz)
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de