Landgericht Braunschweig – Urteil vom 09.11.2016 – Az.: 7 Ns 213/16

URTEIL

In der Strafsache
Herrn xxx,

wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte

hat die 7. kleine Strafkammer des Landgerichts in Braunschweig auf die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 21.06.2016 in der Sitzung vom 09.11.2016, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Landgericht xxx
als Vorsitzende
xxx
xxx
als Schöffen

Erster Staatsanwalt xxx als Beamter der Staatsanwaltschaft

Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, als Verteidiger

Justizhauptsekretärin xxx als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle für Recht erkannt:

Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 21.06.2016, 2 Cs 701 Js 63086/15, aufgehoben.

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

GRÜNDE
– abgekürzt gern. §§ 332, 267 Abs. 4 StPO –

A.
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 21.06.2016 wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 50,- € verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt und strebt damit einen Freispruch an. Die Berufung des Angeklagten war erfolgreich. Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

B.
I.
Dem Angeklagten war mit Strafbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 29.12.2015 vorgeworfen worden, sich in Braunschweig am 26.10.2015 gegen 21:15 Uhr eines Vergehens nach § 113 StGB schuldig gemacht zu haben. Als POK xxx ihn anlässlich der Bragida- Gegendemonstration aufgefordert habe, seine Personalien mitzuteilen, um eine möglicherweise nach dem Versammlungsgesetz begangene Straftat feststellen zu können, soll er der Aufforderung nicht nachgekommen sein und versucht haben, sich zu entfernen. Um dies zu verhindern habe POK xxx ihn an der Oberbekleidung erfasst, worauf hin der Angeklagte sich ruckartig gedreht und versucht habe sich loszureißen. Aufgrund seiner weiteren Gegenwehr sei er am Boden liegend fixiert worden, was er wiederum zu verhindern versucht habe, indem er die Arme unter den Körper gezogen und sich am Boden liegend herumgewälzt habe.

II.
Die Kammer hat abweichend davon Folgendes festgestellt:
Der Angeklagte war am Abend des 26.10.2015 Teilnehmer der spontanen Bragida-Gegendemonstration in Braunschweig. Gegen 21:00 Uhr hielt der Angeklagte sich mit weiteren Gegendemonstranten auf der Dankwardstraße auf. Mehrere Versammlungsteilnehmer, darunter der Angeklagte, blockierten den Weg der angemeldeten Bragida-Demonstration durch Unterhaken und mittels eines gelben Transparentes, welches genau vor die Köpfe der Polizeipferde gehalten wurde. Im linken Bereich wurde das Transparent unter anderem von dem Angeklagten gehalten. Es erfolgte eine Durchsage der Polizei mittels Lautsprechern, dass die Gegendemonstranten sich wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz oder wegen Landfriedensbruchs strafbar machen würden und dass damit begonnen werde, Einzelperson aus der Menge heraus zu holen. Letzteres geschah jedoch nicht. Die Versammlungsteilnehmer der Bragida-Gegendemonstration wurden sodann durch die Polizei bis auf den Bohlweg abgedrängt. Dort kam es jedoch zu einer erneuten Blockade der Bragida-Demonstration, an der auch der Angeklagte auf Seiten der Gegendemonstranten beteiligt war. Es erfolgte eine erneute Ansage durch die Polizei, dass das Verhalten der Gegendemonstranten strafbar sei.

Schließlich wurde entschieden, dass die Bragida-Demonstration ihren Aufzug auf den Bohlweg nicht fortsetzen kann und auf die Dankwardstraße zurückkehren muss. Die Gegendemonstranten folgten der abziehenden Bragida-Demonstration zurück auf die Dankwardstraße. Gegen 21:20 Uhr wurde aus der Menschenmenge der Gegendemonstranten heraus ein Böller in Richtung der Polizisten geworfen, die sich zwischen den Gegendemonstranten und den abziehenden Bragida-Demonstrationsteilnehmern befanden. Es besteht kein Tatverdacht, dass der Angeklagte etwas mit dem Böllerwurf zu tun hat. Der Böller detonierte mit einem sehr lauten Knall. Aufgrund der Detonation bildete sich eine große Lücke zwischen den Polizeibeamten und den Gegendemonstranten. In diesem Moment stand der Angeklagte alleine in 1. Reihe unmittelbar vor dem Polizeibeamten POK xxx. Der Angeklagte hatte seinen rechten Arm erhoben, um damit zu gestikulierend. Außerdem machte der Angeklagte einen Schritt auf POK xxx zu. POK xxx erkannte den Angeklagten als eine der Personen wieder, die zuvor in den Reihen der Gegendemonstranten gestanden hatte und entschied sich, den Angeklagten zur Personalienfeststellung festzuhalten. POK xxx ergriff den Angeklagten an der Jacke in Höhe des Oberarms, woraufhin der Angeklagte sich ruckartig aus dem Griff des Polizeibeamten drehte und sich dem Polizeibeamten kurzzeitig entzog. Daraufhin kam PK xxx seinem Kollegen POK xxx zur Hilfe und erfasste den Angeklagten. Auch PK xxx kam hinzu und gemeinsam mit PK xxx gelang es beiden, den Angeklagten zu erfassen und zu Boden zu bringen. Der Fixierung auf dem Boden versuchte der Angeklagte sich zu widersetzen, indem er die Arme unter seinen Oberkörper zog und so zu verhindern suchte, dass ihm die Hände auf dem Rücken festgehalten werden konnten. Unter großem Kraftaufwand gelang es den beiden Polizeibeamten schließlich, die Arme des Angeklagten auf dem Rücken zu fixieren. Der Angeklagte äußerte hierbei, dass er seine Brille verloren hätte und auch dass er keine Luft mehr bekomme, worauf hin die Polizeibeamten ihren Griff etwas lockerten. Der Angeklagte sperrte sich noch weiter gegen die Fixierung. Schließlich richteten PK xxx und PK xxxx den Angeklagten auf und wollten ihn fußläufig zur Polizeidienstelle in die Münzstraße verbringen. Nach wenigen Schritten ließ sich der Angeklagte mit seinem Eigengewicht jedoch wieder zu Boden fallen. Daraufhin entschlossen sich die Polizeibeamten, dem Angeklagten Stahlhandfesseln anzulegen. Auf dem Boden liegend sperrte sich der Angeklagte gegen das Anlegen der Stahlhandfesseln und ließ seine Arme auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht locker auf dem Rücken liegen. Erst unter Anwendung erneuten Zwangs und mit hohem Kraftaufwand gelang es PK xxx, dem Angeklagten Stahlhandfesseln anzulegen. Die Polizeibeamten richteten den Angeklagten erneut auf und verbrachten ihn zu Fuß zur Polizeidienstelle in der Münzstraße. Zur Sicherung hielten die beiden Polizeibeamten den Angeklagten links und rechts im Kreuzfesselgriff. Während des gesamten Abtransport verhielt der Angeklagte sich ruhig und kooperativ.

Erst im Innenhof des PK Mitte wurde dem Angeklagten der Tatvorwurf bezüglich des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz sowie des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte durch POK xxx, der bei der gesamten Festnahme des Angeklagten anwesend war, eröffnet. Anschließend wurde er diesbezüglich belehrt und auch durchsucht. Gegen 21:40 Uhr wurde der Angeklagte nach Feststellung seiner Personalien vor Ort entlassen.

C.
Die Kammer stützt ihre Feststellungen auf das in – Augenschein genommene Polizeivideo von der Bragida- Gegendemonstration, das insbesondere die Festnahme des Angeklagten zeigt, und auf das mit einem Handy aufgenommene Privatvideo von den Sekunden nach der Böllerexplosion und dem anschließenden Verhalten des Angeklagten sowie auf die ergänzenden Bekundungen des Zeugen xxx.

Den Angaben des Zeugen POK xxx, dass er den Angeklagten insgesamt dreimal belehrt habe, und den Angaben des Zeugen PK xxx, dass er auch noch einmal den am Boden liegenden Angeklagten belehrt habe, hat die Kammer keinen Glauben geschenkt. Diese Angaben decken sich insbesondere nicht mit den in Augenschein genommenen Videos. Auf keinem der beiden Videos ist zu sehen oder zu hören, dass POK xxx zunächst vor dem Ergreifen des Angeklagten mit diesem spricht und überhaupt Zeit hatte, ihn zu belehren, bevor er ihn am Arm erfasst. Auch während der Fixierung des Angeklagten am Boden kann man eine solche Belehrung des POK xxx auf dem Polizeivideo nicht hören, wohingegen deutlich zu hören ist, wie der Angeklagte die Polizeibeamten auf den Verlust seiner Brille hinweist. Eine Belehrung durch POK xxx beim Ergreifen des Angeklagten oder während dieser auf dem Boden lag, wurde zudem durch keinen weiteren Zeugen bestätigt, obwohl PK xxx und PK xxx sich -unmittelbar über dem Angeklagten befanden, den sie am Boden fixierten, und daher nach der Überzeugung der Kammer ein Gespräch ihres Kollegen mit dem Angeklagten hätten wahrnehmen müssen. Dass PK xxx den Angeklagten auch noch einmal zusätzlich belehrt haben will, als dieser von ihm am Boden fixiert wurde, ist so erstmals von dem Zeugen in der Berufungshauptverhandlung vorgetragen worden. Eine solche Belehrung findet sich in keinem der polizeilichen Berichte und wurde auch von keinem der Polizeibeamten so in der erstinstanzlichen Verhandlung vorgetragen. Diese Aussage des Zeugen besticht daher schon durch Inkonstanz und auch Widersprüchlichkeit. Dass das Erinnerungsvermögen von PK xxx zudem mindestens getrübt, wenn nicht sogar verfälscht ist, wird zudem dadurch deutlich, dass er behauptete, der Angeklagte hätte sich während des gesamten Abtransport zur Wache massiv mit dem Oberkörper und den Armen gegen die Fesselung und den Kreuzfesselgriff gewehrt. Demgegenüber ist auf dem Polizeivideo deutlich zu erkennen, dass der Angeklagte sich widerstandslos und ohne Gegenwehr zum PK Mitte abführen lässt, was so auch durch den Zeugen xxx beobachtet wurde.

Im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils wurde von einer weiteren Beweiswürdigung abgesehen.

D.
Das Verhalten des Angeklagten erfüllt nicht den Tatbestand des § 113 StGB.

Eine Handlung ist gemäß § 113 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar, wenn die Diensthandlung, gegen die sich der Widerstand richtet, nicht rechtmäßig ist. Dabei gilt ein strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff,-  der sich -mit dem materiell-rechtlichen-nicht deckt, sondern bei dem es grundsätzlich nicht auf die Richtigkeit der Amtshandlung, sondern nur auf ihre formale Rechtmäßigkeit ankommt, also auf das Vorliegen einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage, die sachliche und örtliche Zuständigkeit des handelnden Beamten zum Eingreifen, die gesetzlichen Förmlichkeiten, soweit solche vorgeschrieben sind, den vom zuständigen Vorgesetzten erteilten Auftrag und, soweit der Beamte nach eigenem Ermessen handelt, die Ordnungsmäßigkeit der Ermessensausübung (vgl. BGHSt 21, 363; Fischer, StGB 63. Aufl. § 113 Rn. 11 ff. m. w. N).

Da sich die Eingriffsgrundlage für polizeiliche Handlungen grundsätzlich aus strafprozessualen Vorschriften oder aus Regelungen zur Gefahrenabwehr ergeben kann (vgl. Fischer a. a. 0. Rn. 13), müssen die Urteilsfeststellungen die Diensthandlung, gegen die sich der Angeklagte zur Wehr gesetzt hat, nicht nur ihrer Art nach benennen, sondern auch konkrete Feststellungen zum Zweck, zur Ausführung und den Begleitumständen treffen (KG Beschluss vom 30.11.2005, 1 Ss 321/05; OLG München Beschluss vom 08.12.2008, 5 St RR 233/08; beide bei juris).

Nach den vorliegenden Urteilsfeststellungen kam es zu den Widerstandshandlungen, als Sekunden nach der Detonation des Böllers in unmittelbarer Nähe des Polizeibeamten xxx und dem aktiven Zugehen des Angeklagten mit erhobenem Arm auf eine Kette aus mehreren Polizeibeamten der Angeklagte überprüft und seine Personalien festgestellt werden sollten. Dies legt nahe, dass die Identitätsfeststellung der Aufklärung nicht des einige Zeit zuvor durch Lautsprecherdurchsagen der Polizei geltend gemachten Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz sondern der Aufklärung des Böllerwurfes in Richtung der Polizeibeamten diente, so dass sich die Ermächtigungsgrundlage hierzu aus § 163b Abs. 1 StGB ergäbe. Nach den Feststellungen käme allerdings auch eine Identitätsfeststellung nach § 13 Nds. SOG in Betracht, um Straftaten auf den auf die Polizeibeamten aktiv zugehenden Angeklagten zu verhindern. Da sich der Zweck der Maßnahme in der Außenperspektive und daher auch aus der Sicht des Angeklagten nicht eindeutig präventiven oder repressiven Zwecken zuordnen lässt, ist auf den Schwerpunkt der Maßnahme abzustellen (OLG München a. a. 0.). Dieser lag nach dem 

Gesamtzusammenhang der Feststellungen jedenfalls im Bereich der Strafverfolgung zumal alle drei vernommenen Polizeibeamten selbst von einer Identitätsfeststellung des Angeklagten zum Zwecke der Strafverfolgung ausgingen und dies nach eigenen Angaben beabsichtigten.

Eine wesentliche Förmlichkeit bei strafprozessualen Identifizierungsmaßnahmen ist aber gemäß § 163b Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 163a Abs. 4 StPO die Eröffnung des Tatverdachts gegenüber dem Verdächtigen, sofern nicht der Anlass offensichtlich ist oder der Zweck der Maßnahme dadurch gefährdet wird; fehlt dieses wesentliche Formerfordernis, ohne dass ein Ausnahmefall vorliegt, so ist die zur Feststellung der Identität vorgenommene Diensthandlung nicht rechtmäßig (OLG München a. a. 0.; KG StV 2001, 260; OLG Düsseldorf NJW 1991, 580).

Der Anlass des Vorgehens der Polizeibeamten gegen ihn, insbesondere auch der Identitätsfeststellung war für den Angeklagten nicht offensichtlich. In dem Moment des Ergreifen durch POK xxx war nicht offensichtlich, dass dies zur Personalienfeststellung wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz erfolgte. Ebenfalls denkbar wäre auch eine Personalienfeststellung wegen des Verdachts des Böllerwurfes gewesen. Außerdem käme auch eine vorsorgliche Maßnahme des Polizeibeamten in Betracht, weil dieser aufgrund der angeheizten Stimmung und des aktiven Zugehens des Angeklagten auf ihn mit einem Angriff oder mit Körperverletzungshandlungen durch den Angeklagten rechnete.

Vorliegend fehlt es aber vor dem Ergreifen durch POK xxx an einer Belehrung. Eine solche ist auch nicht während der Fixierung des Angeklagten auf dem Boden und seinem Abtransport zum PK Mitte erfolgt, so dass der Angeklagte sich gegen die polizeilichen Maßnahmen wehren durfte. Nach Überzeugung der Kammer wurde der Angeklagte, so wie dies auf dem polizeilichen Video dokumentiert ist, erst auf dem Innenhof des PK Mitte ordnungsgemäß über den Grund der polizeilichen Maßnahme und über sein Schweigerecht belehrt, mithin zu einem Zeitpunkt, als die Widerstandshandlung des Angeklagten längst beendet war.

Da mithin schon die formelle Rechtmäßigkeit der Identitätsfeststellung an sich nicht feststeht, gilt dies erst Recht für die zu ihrer Durchsetzung erfolgte vorläufige Festnahme.

E.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.