1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 12.01.2017 – L 7 AS 913/16 B ER
Einstweiliger Rechtsschutz gegen den Eingliederungsverwaltungsakt
Leitsatz (Juris)
Im Eilverfahren sind Eingliederungsverwaltungsakte nur summarisch zu prüfen. Rechtsschutz ist dann nur zu gewähren, wenn die summarische Prüfung nicht nur Zweifel, sondern erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit ergibt. (amtlicher Leitsatz)
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
1.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 05.12.2016 – L 15 AS 257/16 B ER
Angelegenheiten nach dem SGB II
Zur Durchsetzung angemessener Unterkunftskosten nach § 22 SGB II und hiermit in Zusammenhang stehender Fragen einer durch Verwaltungsanweisung bestimmte Mietobergrenze im einstweiligen Rechtsschutzverfahren.
Hinweis Gericht:
In materieller Hinsicht hat bereits der Antrag auf Bewilligung unterhaltssichernder Leistungen nach § 16 Abs. 1 SGB I auch als anspruchsauslösender Antrag auf gleichartige Leistungen nach dem SGB XII gewirkt (BSG, Urteil vom 26. August 2008 – B 8/9b SO 18/07 R -, Rn. 22, Beschluss vom 13. Februar 2014 – B 8 SO 58/13 B).
Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de
1.3 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 09.12.2016 – L 4 AS 437/15
Kein Vertrauensschutz bei vorläufigen Bescheiden (; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.9.2016 – L 11 AS 1004/14; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26.8.2015 – L 4 AS 81/14) – keine Hilfebedürftigkeit gegeben als Selbstständiger
Leitsatz (Redakteur)
1. Bei dem „Verkauf“ der vom Kläger entwickelten Software nicht um eine reine Umschichtung von Vermögen, sodass die Erlöse als Einkommen zu betrachten sind.
2. Der Kläger verkaufte die von ihm entwickelte Software nicht etwa in dem Sinne, dass er sämtliche Nutzungsmöglichkeiten und Rechte an der Software auf einen Kunden übertragen und ihm selbst die Software in Zukunft nicht mehr zur Verfügung gestanden hätte. Vielmehr stellte er sie mehreren Abnehmern zur Nutzung zur Verfügung und erhielt hierfür ein Entgelt. Insofern ist die Verwendung des Begriffes „verkaufen“ in diesem Zusammenhang untechnisch zu verstehen. Das ihm gezahlte Entgelt ist Einkommen im Sinne des SGB II.
3. Sofern die Software als Vermögen des Klägers anzusehen wäre, wären die Einnahmen, die er als Gegenwert für die Überlassung der Software zur Nutzung erhält, Früchte dieses Vermögens im Sinne des § 99 Bürgerliches Gesetzbuch und als solche Einkommen im Sinne des SGB II.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
1.4 – Landessozialgericht Hamburg, Urteil v. 08.09.2016 – L 4 AS 564/15
Zur Anrechnung von Pflegegeld als Einkommen – Pflegegeldeinnahmen sind nur privilegiert bei der Pflege von Angehörigen
Leitsatz (Redakteur)
1. Zur Anrechenbarkeit weitergeleiteten Pflegegeldes auf die der Pflegeperson zustehenden laufenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
2. Anrechnung des Pflegegeldes bei der Pflege von nicht Familienangehörigen (§§ 3 Nr. 36 i.V.m. 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp:
Ebenso LSG Hamburg, Urteil v. 08.09.2016 – L 4 AS 567/15 u. – L 4 AS 569/15
1.5 – Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss v. 19.12.2016 – L 7 AS 1001/16 B ER – rechtskräftig
Leitsatz (Redakteur)
Im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ist davon auszugehen, dass das der Richtlinie der Stadt Leipzig vom 18.12.2014 zugrundeliegende Konzept den vom BSG aufgestellten Anforderungen an ein schlüssiges Konzept zur Angemessenheit der Aufwendungen der Kosten der Unterkunft und Heizung entspricht (Anschluss an LSG Chemnitz, Beschluss vom 29.08.2016 – L 8 AS 675/16 B ER).
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
1.6 – LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. Mai 2016 (Az.: L 11 AS 39/14 NK):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Von einem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechend § 22a SGB II zur Bestimmung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) erlassene Satzung sind materiell rechtswidrig, soweit der SGB II-Träger die dort als angemessen eingestuften Wohnflüchen jeweils abweichend von den landesrechtlichen Förderbestimmungen im sozialen Wohnungsbau festsetzte.
2. Wenn diese niedrigeren Werte Eingang in die Produktbildung zur Bestimmung der preislichen Angemessenheitsgrenze gefunden haben, muss die Festsetzung der angemessenen Bruttokaltmiete als insgesamt unwirksam aufgefasst werden.
3. Dies gilt auch dann, wenn die Ermittlung des angemessenen Quadratmeterpreises für sich betrachtet den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept im Sinne des § 22c SGB II genügt und materiell nicht beanstandet werden kann.
4. Eine Bestimmung der abstrakt angemessenen Wohnfläche für Bedarfsgemeinschaften mit einer Person auf 45 qm, mit zwei Personen auf 55 qm, mit drei Personen auf 70 qm, mit vier Personen auf 80 qm, für fünf Personen auf 90 qm und für sechs Personen auf 100 qm ist durch § 22b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht gedeckt.
5. Diese Festsetzungen entsprechen nicht den materiellen Anforderungen, die gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II an die Angemessenheit der Wohnfläche gestellt werden können.
6. Ein SGB II-Träger darf auch im Rahmen der Satzungsgebung nach § 22a SGB II die Bestimmung der Angemessenheit der Wohnfläche nicht im Wege freihändiger, kommunalpolitisch motivierter Satzungen vornehmen. Es müssen hier „belastbare Daten“ über den örtlichen Wohnungsmarkt vorliegen, um von den Flächengrenzen im sozialen Wohnungsbau abzuweichen, sowie hat die Bestimmung des für angemessen gehaltenen Quadratmeterpreises auf einem schlüssigen Konzept im Sinne des § 22c SGB II zu beruhen.
7. Den an ein schlüssiges Konzept zu stellenden Anforderungen genügt es hingegen nicht, die angemessenen Wohnflächen – ohne empirische Aussagen zu den tatsächlichen Wohn- und Lebensverhältnissen unterer Einkommensschichten vor Ort – lediglich relativ abweichend von den Flächengrenzen im sozialen Wohnungsbau festzusetzen, wenn empirische Daten lediglich die Annahme rechtfertigen, dass im Gebiet des jeweiligen kommunalen Trägers allgemein größere oder kleinere Wohnungen vorhanden sind als im Landesdurchschnitt. Die Gründe für die Wohnungsgröße in einer bestimmten Region sind vielfältig und hängen insbesondere auch mit der Haushaltsgröße und den Bevölkerungsstrukturen zusammen.
8. Wenn eine Abweichung von jeweils fünf qm nach unten von den Werten der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus vorgenommen wurde, dann ist es als methodisch unzulässig und damit konzeptionell unschlüssig aufzufassen, diesen Wert als Basiswert zugrunde zu legen und die angemessene Wohnfläche relativ abweichend vom landesweit feststellbaren Wert zu bestimmen. Ein derartiges Vorgehen beruht nicht auf einer empirisch tragfähigen und validen Datengrundlage und lassen keine Aussage darüber zu, in welchen Wohnungsgrößen Bezieher/innen unterer Einkommen in diesem Bundesland leben.
9. Solche Satzungsregelungen müssen auf hinreichend realitätsgerechten und nachvollziehbaren Erhebungen zum typischen Wohnbedarf der jeweils betroffenen Personengruppen gestützt sein, die valide Aussagen über die durchschnittliche Wohnungsgröße bestimmter Haushaltstypen tätigen, z. B. das am betr. Ort allgemein substanziell kleiner gewohnt wird als im Landesdurchschnitt. An dieser Stelle ist die durchschnittliche Wohnungsgröße in Relation zu setzen zur durchschnittlichen Zahl der Bewohner/innen einer Wohnung.
10. Eine pauschal vorgenommene Reduzierung der als angemessen aufzufassenden Wohnfläche beruht nicht auf einem tragfähigen, schlüssigen Konzept im Sinne des § 22c SGB II.
11. Eine satzungsmäßige Regelung des Inhalts, dass bei kinderlosen unter 25jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die eine eigene Wohnung beziehen dürfen, nur eine Wohnfläche von 35 qm und hieraus folgend eine Bruttokaltmiete von EUR 233,- als angemessen anerkannt wird, ist mit § 22b Abs. 3 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II unvereinbar und damit unwirksam. Die Bedarfslagen können auch hier im jeweiligen Einzelfall ganz unterschiedlich ausfallen und entziehen sich weitestgehend einer abstrakt-generellen Regelung durch Satzung.
12. Abstrakte, nicht wohnungsmarkt- und realitätsbezogene, sondern lediglich auf sozialpolitischen Wertungen beruhende Bedarfsabsenkungen sind aus verfassungsrechtlichen Gründen als unzulässig aufzufassen.
2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – SG Cottbus, Beschluss v. 12.08.2016 – S 40 AS 1768/16 ER – erstritten von RA Dr. Jens-Torsten Lehmann, Cottbus
Verspätete Bewerbung bzw. das aus den “ Augen verlieren des Vermittlungsvorschlags “ rechtfertigt nicht immer Absenkung der Regelleistung.
Unübersichtliche Rechtsfolgenbelehrung macht Sanktionsbescheid rechtswidrig, denn die Warnfunktion der Rechtsfolgenbelehrung ist nur bei ausreichender optischer Gestaltung gewährleistet.
Eine Rechtsfolgenbelehrung erfüllt ihre Warnfunktion nicht, wenn sie formal in einer Schriftgröße gehalten ist, die deutlich unterhalb der Schriftgröße des übrigen Schreibens liegt.
Leitsatz (Redakteur)
1. Der Antragsteller hat sich nicht geweigert die Arbeit aufzunehmen bzw. die Anbahnung der Arbeit verhindert.
2. Dass in einer Bewerbungsphase, selbst wenn sich die Bewerbungsaktivitäten in einem überschaubaren Rahmen halten, auch mal eine Bewerbung vergessen wird, ist nicht so unwahrscheinlich, dass man ohne weitere Anhaltspunkte davon ausgehen könnte, dass dieser Vortrag eine Schutzbehauptung wäre (
3. Für ein nur fahrlässiges Verhalten spricht auch das umgehende Nachholen der Bewerbung jedenfalls in so einer ansprechenden Form, dass der Arbeitgeber bereit war, dem Antragsteller eine Nebentätigkeit zu geben.
4. Zweifel bestehen, ob die Rechtsfolgenbelehrung so gestaltet ist, dass sie der Warnfunktion genügt.
5. Denn drucktechnisch ist die Rechtsfolgenbelehrung in einer deutlich kleineren Schrift gehalten als der Rest des Textes. Das Wort Rechtsfolgenbehrung wird dabei nicht hervorgehoben und der Text ist durch fehlende Absätze und Schriftgröße so gestaltet, dass ein flüssiges Lesen erschwert wird.
6. Um ihrer Warnfunktion zu genügen, muss eine Rechtsfolgenbelehrung auch über die inhaltliche Richtigkeit und Verständlichkeit hinaus, drucktechnisch so deutlich gestaltet sein, dass sie dem Betroffenem zum einen ohne weiteres in die Augen fällt und er zum anderen auch ohne Probleme in der Lage ist, die Belehrung zu lesen und zu erfassen.
7. Dem genügt der dem Vermittlungsvorschlag angefügte Fließtext nicht.
Rechtstipp:
SG München v. 10.08.2016 – S 13 AS 2433/14 – Eine Rechtsfolgenbelehrung erfüllt ihre Warnfunktion nicht, wenn sie formal in einer Schriftgröße gehalten ist, die deutlich unterhalb der Schriftgröße des übrigen Schreibens liegt.
2.2 – Sozialgericht Cottbus, Urteil vom 13. Oktober 2016 (Az.: S 42 AS 1914/13):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Die Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Beihilfe zum Zwecke der Anschaffung eines internetfähigen Computers durch eine bedürftige Schülerin, die die gymnasiale Oberstufe besucht, geht aus § 21 Abs. 6 SGB II hervor.
2. Dieser Bedarf in einer Höhe von EUR 350,- ist unabweisbar im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II, weil er nicht durch Zuwendungen Dritter oder über Einsparmöglichkeiten aus dem Regelbedarf gedeckt werden kann und auch seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
3. Ein Anschaffungskosten in einer Höhe von EUR 350,- verursachender PC fällt nicht unter den durchschnittlichen persönlichen Schulbedarf, der gemäß § 28 Abs. 3 SGB II bei bedürftigen Schülerinnen und Schülern in einer Höhe von insgesamt EUR 100,- pro Schuljahr, in erster Linie bestimmt für die Ergänzungs- und Ersatzbeschaffung an notwendigen Schulutensilien, festgesetzt ist.
4. Der Bedarf an einem Computer ist auch unabweisbar, wenn Schüler/innen nur hiermit den an sie permanent gestellten Anforderungen des Unterrichts entsprechen, d. h. die erforderlichen Vor- und Nachbereitungen der Unterrichtseinheiten leisten können, denn anderenfalls droht diesen Auszubildenden eine wesentliche Beschränkung in ihren Bildungsmöglichkeiten.
5. Dem Anspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II auf den begehrten Zuschuss steht auch nicht entgegen, dass diese Bestimmung nach ihrem Wortlaut auf einen laufenden – und nicht einmaligen – Bedarf abstellt.
6. Der Bedarf an einem Computer, der für die Schulausbildung über einen längeren Zeitraum hinweg benötigt wird, entspricht einer Bedarfslage, in der laufende Kosten anfallen, auch wenn die Deckung der längerfristig bestehenden Bedarfslage einmalig erfolgt. Bei einer Anmietung eines Computers würde die monatliche Miete für ein derartiges Gerät vollkommen unstreitig einen fortlaufend fällig werdenden, nach § 21 Abs. 6 SGB II anerkennungsfähigen Zusatzbedarf darstellen.
2.3 – Sozialgericht Reutlingen, Urteil v. 14.11.2016 – S 7 AS 449/16 – rechtskräftig
Leistungen für eine Wohnungserstausstattung – nicht jeder einzelne fehlende Gegenstand vom Hilfebedürftigen muss konkret bezeichnet werden – § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II
Wohnungserstausstattung ist auch zu gewähren, wenn der Kläger bereits früher über Wohnungsausstattungsgegenstände verfügt hat (nach dem Auszug aus der früheren Familienwohnung hat der Kläger über insgesamt 9 Jahre in kleinen Einzimmerwohnungen, die zum Teil bereits möbliert waren, gewohnt und seine Möbel konnte er nicht behalten.
Fahrlässiges Verhalten im Zusammenhang mit dem Verlust der Wohnungsausstattung steht dem Anspruch nicht entgegen, dem JC stehen Handlungsoptionen nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II zur Verfügung.
Leitsatz (Redakteur)
1. Vorliegend ist die Ersatzbeschaffung nach Verlust der Möbel aus dem früheren Familienleben des Klägers bedarfsauslösend im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Nach dem legislativen Konzept ist nicht allein die Erstbeschaffung erfasst, sondern auch eine Ersatzbeschaffung kann den Anspruch gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III begründen. Grundsätzlich ist zu fragen, ob die mit dem Verlust früher vorhandener Wohnungsausstattungsgegenstände verbundene Bedarfslage wertend wie eine Erstausstattung zu verstehen bzw. mit einer solchen gleichzusetzen ist. Vorwerfbares Verhalten im Zusammenhang mit dem Verlust der Wohnungsausstattung steht dem Anspruch nicht entgegen, weil der im SGB II zu deckende Bedarf grundsätzlich aktuell bestehen muss und auch aktuell vom Grundsicherungsträger zu decken ist (Bedarfsdeckungsprinzip).
2. Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip grundsätzlich unerheblich ist, das der Kläger sein Mobiliar neun Jahre vor der nun entstandenen Bedarfslage einfach aufgeben, verkaufen oder wegwerfen durfte und damit fahrlässig eine Bedarfslage herbeigeführt hat.
3. Bei einer Familie sind vier Stühle für eine Grundausstattung angemessen, damit auch einmal Gäste (und dabei nicht nur eine einzige Person) empfangen werden können.
S.a. dazu Leitsatz (Juris)
Wohnungserstausstattung – erneuter Bedarf nach zwischenzeitlichem Umzug in Einzimmerwohnung – Bedarfsdeckungsprinzip – vorwerfbares Verhalten – Vertretung der Bedarfsgemeinschaft – Individualansprüche der Mitglieder – sozialgerichtliches Verfahren
Leitsätze
1. Rechtsbehelfserklärungen dürfen nicht so ausgelegt werden, dass dem Rechtsbehelfsführer der Zugang zur Gerichtsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Wird aus dem Vorbringen eines Rechtsbehelfsführers deutlich, dass er mit Wissen und Wollen der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gemeinsame Ansprüche verfolgt, ist das Begehren als Klage sämtlicher Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auszulegen. Das gilt auch nach Ablauf der vom BSG (Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R -) auf den Zeitraum bis 30.06.2007 festgelegten Übergangsfrist.
2. Das Bedarfsdeckungsprinzip gebietet eine bedarfsorientierte Betrachtung des Anspruchs auf eine Wohnungsausstattung.
3. Der Untergang bzw. Verlust von Sachen, die der Wohnungs- und Haushaltsausstattung dienten, kann dem Grunde nach einen erneuten Anspruch auf Ausstattung auslösen, weil es den Hilfebedürftigen ermöglicht werden muss, menschenwürdig zu wohnen. Auf den Grund für den Verlust der Sachen, insbesondere vorwerfbares Verhalten der Hilfebedürftigen, kommt es nicht an. Dieser Gesichtspunkt ist erst im Rahmen eines eventuellen Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II relevant.
2.4 – SG München, Beschluss v. 05.01.2017 – S 46 AS 3026/16 ER
Fortwirkendes Aufenthaltsrecht für selbstständig erwerbstätige Unionsbürgerinnen
Leitsatz (Juris)
Wenn eine Unionsbürgerin eine zuvor mehr als ein Jahr ausgeübte selbstständige Tätigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 oder 3 FreizügG/EU wegen Schwangerschaft und Geburt des Kindes einstellt, kann ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 3 Satz 1 N r. 2 FreizügG/EU bestehen. Dann kommt der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für eine begrenzte Zeit nicht zum Tragen. (amtlicher Leitsatz)
Quelle: www.gesetze-bayern.de
2.5 – Sozialgericht für das Saarland, Urteil vom 11. Januar 2017 (Az.: S 12 AS 421/14):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Das Jobcenter hat einem bedürftigen volljährigen Schüler die Teilnahme an der offiziellen Abiturfeier seines Gymnasiums mit Überreichung des Abschlusszeugnisses durch die Schulleitung über die Übernahme der für den Besuch dieser Veranstaltung entstehenden Kosten in einer Höhe von EUR 100,- in extensiver Auslegung des § 28 Abs. 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 SGB II zu ermöglichen.
2. Das § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB II zentral zugrundeliegende Motiv, dass der Ausschluss von schulischen Gemeinschaftsveranstaltungen Jugendliche in ihrer Entwicklung besonders nachhaltig prägen und negativ beeinflussen kann, ist hier ebenfalls heranziehbar.
2.6 – Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 16. Januar 2017 (Az.: S 53 AS 17169/16 ER):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Eine Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II hat nach den in § 10 Abs. 1 und 3 SGB II normierten allgemeinen Grundsätzen zumutbar und geeignet zu sein, die Integration von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in den Arbeitsmarkt zu fördern (§ 3 Abs. 1 SGB II).
2. Wenn es einer sowohl selbstständig tätigen als auch geringfügig beschäftigten Antragstellerin, die sich auf diese Situation gut eingerichtet hat, bereits an der Motivation zur Teilnahme an einer Maßnahme zur „Aktivierung und Vermittlung mit intensiver Betreuung und Anwesenheitspflicht“ fehlt, was der zuständigen Arbeitsvermittlerin auch bekannt ist, und diese Maßnahme keine Ausrichtung darauf hat, derartige Motivationsdefizite zu verringern, dann fehlt es dieser Maßnahme an der Eignung, diese Antragstellerin in Arbeit zu bringen.
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Arbeitsförderung (SGB III)
3.1 – Hessisches Landessozialgericht, Urt. v. 16.12.2016 – L 7 AL 35/15 – Die Revision wird zugelassen
Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung einer einwöchigen Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitsuchendmeldung – § 38 SGB III n. F.
Auch für Auszubildende in überbetrieblicher Ausbildung ist eine Gleichstellung mit Personen in betrieblicher Ausbildung zu bejahen.
Leitsatz (Redakteur)
1. Keine Sperrzeit für Sozialarbeiterinnen im Anerkennungsjahr wegen nicht ausreichend frühzeitiger Arbeitsuchendmeldung.
2. Die Klägerin hat sich weder unter Einhaltung der Frist des § 37b Satz 1 noch der des § 37b Satz 2 SGB III a.F. bei der Beklagten gemeldet.
3. Ein versicherungswidriges und folglich sperrzeitbegründendes Verhalten im Sinne des § 144 Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 Nr. 7 SGB III a.F. ist für die Klägerin daraus jedoch nicht abzuleiten, da in Anwendung der Regelung des § 37b Satz 5 SGB III a.F. für sie die Pflicht zur Meldung nicht galt.
4. Denn insoweit stand das vorliegend von der Klägerin im Rahmen eines Praktikantenverhältnisses absolvierte Anerkennungsjahr einem „betrieblichen Ausbildungsverhältnis“ im Sinne des § 37b Satz 5 SGB III a.F. gleich. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift – wobei der Begriff des betrieblichen Ausbildungsverhältnisses nicht ausdrücklich definiert wird – jedenfalls aber aus dem Sinn und Zweck der Regelung.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp:
Arbeitslosengeld ohne Sperrzeit bei Anerkennungsjahr
Das LSG Darmstadt hat entschieden, dass sich Personen nicht vorzeitig arbeitsuchend melden müssen, die im Rahmen eines Praktikantenverhältnisses ein Anerkennungsjahr absolvieren.
Quelle: Pressemitteilung des LSG Darmstadt v. 24.01.2017: www.juris.de
3.2 – LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 26.01.2017 – L 1 AL 67/15 – Revision zugelassen
LSG Mainz: Kein Rotlicht bei der Arbeitsagentur
Pressemeldung 1/2017 Landessozialgericht RLP
Keine Arbeitsvermittlung in „Rotlichtbar“
Die Bundesagentur für Arbeit ist nicht verpflichtet, Arbeitsangebote für Bardamen in einer an ein Erotiketablissement angeschlossenen Bar sowie für Empfangsdamen in dem Etablissement selbst in das von ihr betriebene Online-Portal „JOBBÖRSE“ einzustellen. Dies hat der 1. Senat des Landessozialgerichts gestern durch Urteil entschieden.
Quelle: lsgrp.justiz.rlp.de
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 19.10.2016 – L 2 SO 4204/15
Der Kläger begehrt im Rahmen der Eingliederungshilfe Kraftfahrzeughilfe zur Ersatzbeschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeuges (Kfz).
Leitsatz (Juris)
Sofern andere Möglichkeiten als die Benutzung des im Rahmen der Kfz -Hilfe begehrten Kfz zum Erreichen der vom Betroffenen benannten Eingliederungsziele zur zumutbaren Nutzung zur Verfügung stehen, ist die Anschaffung eines Kfz nicht unentbehrlich.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp:
Ebenso: LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 19.10.2016 – L 2 SO 3968/15
5. Entscheidungen der Landes- und Sozialgerichte sowie Verwaltungsgerichte zum Asylrecht
5.1 – LSG Bayern, Beschluss vom 11. November 2016 (Az.: L 8 AY 28/16 B ER):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Bei einer aus dem Kosovo stammenden, vollziehbar ausreisepflichtigen Familie (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG), der Kirchenasyl gewährt wurde, kann sich die für die Umsetzung des AsylbLG zuständige Behörde nicht auf den Standpunkt stellen, der Gewährung von Leistungen für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege stünde ein Leistungsausschluss nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG entgegen.
2. Die Kirchengemeinde trägt hier zwar die für Unterkunft und Heizung entstehenden Kosten; im Rahmen des Kirchenasyls besteht aber keine rechtliche Verpflichtung der Kirchengemeinde zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts der aufgenommenen Person. Wenn die Kirche nicht die vollständige Hilfegewährung übernimmt, dann liegt keine anderweitige Bedarfsdeckung im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG vor.
3. Eine Hilfegewährung dritter Personen oder Institutionen im Vorgriff auf eine zu erwartende Leistung des öffentlichen Trägers lässt die Hilfebedürftigkeit nicht entfallen.
4. Durch die Inanspruchnahme von Kirchenasyl entziehen sich Antragsteller/innen aber faktisch dem Zugriff der staatlichen Vollstreckungsorgane, so dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von diesen Personen zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. In dieser Situation können Antragsteller/innen deshalb nur einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG (zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege) geltend machen.
5. Weitergehende Einschränkungen als die in § 1a AsylbLG vorgesehen sind einzig wegen der Inanspruchnahme eines Kirchenasyls nicht zulässig.
5.2 – VG Köln vom 26.01.2017 – 4 K 8794/16.A, 4 K 8824/16.A, 4 K 8935/16.A
Nicht jedem Asylantragsteller droht bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung
Das VG Köln hat die Klagen von syrischen Staatsangehörigen auf die Zuerkennung des umfassenden Schutzstatus eines Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention abgewiesen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hatte den Klägern, zwei alleinstehenden jungen Männern, jeweils subsidiären Schutz vor den Gefahren des Bürgerkriegs in Syrien zuerkannt. Die Kläger sind der Ansicht, sie hätten einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Status eines Flüchtlings unterscheidet sich vom subsidiären Schutzstatus vor allem durch erleichterte Bedingungen, sich unbefristet in Deutschland aufhalten zu dürfen und Familienangehörige nachzuholen. Nach Auffassung der Kläger stehe ihnen eine Aufstockung ihres Schutzstatus zu, weil der syrische Staat ihnen schon aufgrund ihrer Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und ihres längeren Auslandsaufenthalts eine regimekritische politische Gesinnung unterstelle.
Quelle: Pressemitteilung des VG Köln v. 26.01.2017: www.juris.de
6. Verschiedenes zu Hartz IV und anderen Gesetzesbüchern
SG Berlin: Rentenansprüche wegen Arbeitszeiten in Ghettos („Ghetto-Renten“)
Das SG Berlin hat in drei Fällen entschieden, unter welchen Voraussetzungen Arbeitszeiten in Ghettos Rentenansprüche gegen die Deutsche Rentenversicherung begründen.
Opfer der NS-Verfolgung klagen vor Sozialgericht – Auch 71 Jahre nach Ende der NS-Diktatur immer noch Streit um Ghetto-Renten
Pressemitteilung vom 26.01.2017: www.berlin.de
EuGH soll Unionsrechtskonformität des Visumerfordernisses beim Ehegattennachzug zu türkischen Staatsangehörigen klären
Pressemitteilung Nr. 1/2017 BVerwG 1 C 1.16 26.01.2017
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute in einem Verfahren, in dem es um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden türkischen Arbeitnehmer geht, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg zur Klärung von Fragen zur Reichweite des „Verschlechterungsverbots“ (Stillhalteklausel) im Assoziationsrecht EU/Türkei angerufen.
weiter: www.bverwg.de
Neue Broschüre: Soziale Rechte für Flüchtlinge (Migration im Paritätischen: Publikationen)
Soziale Rechte für Flüchtlinge
Herausgeber: Der Paritätische Gesamtverband
Autor: Claudius Voigt, GGUA Münster
Redaktion: Kerstin Becker, Der Paritätische Gesamtverband
Ein kostenfreier Download der Broschüre als pdf-Datei ist möglich: www.migration.paritaet.org
Übersichten zur Höhe von SGB II, SGB XII, AsylbLG -Claudius Voigt, GGUA
Eine Übersicht zur Höhe der Regelbedarfe und Mehrbedarfe im SGB II (gleiche Höhen gelten für Leistungen nach SGB XII und Analogleistungen nach § 2 AsylbLG) für 2017: www.harald-thome.de
• Eine Zusammenstellung, wie sich die Regelbedarfe nach einzelnen Abteilungen für bestimmte Bedarfe zusammensetzen (wichtig z. B. zur Prüfung der neuen gekürzten „Überbrückungsleistungen“ für bestimmte nichterwerbstätige Unionsbürger*innen; hierzu folgt in Kürze eine ausführliche Arbeitshilfe): www.harald-thome.de
• Eine Übersicht zur Höhe und Aufteilung der Regelbedarfe in den Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Diese gelten bis auf weiteres in Höhe wie 2016 weiter, bis nach Einigung im Vermittlungsausschuss eine Neuregelung in Kraft treten wird: www.fluechtlingsinfo-berlin.de
Bei der Gelegenheit noch drei Praxistipps:
• Umfassende Infos zum AsylbLG und anderen Rechtsgebieten des Flüchtlings- / Migrationsrechts gibt es auf der Seite des Berliner Flüchtlingsrats: www.fluechtlingsrat-berlin.de
• Umfassende Infos u. a. zum SGB II / SGB XII gibt es auf der Seite des Wuppertaler Vereins tacheles e.V.: tacheles-sozialhilfe.de
• Einen regelmäßigen Newsletter mit aktuellen Infos zum Recht der Existenzsicherung, neuen Gerichtsurteilen, Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung u. a. gibt es von Harald Thomé. Kann und sollte mensch hier kostenlos abonnieren: tacheles-sozialhilfe.de
Beratungshilfe: „Ausnahmsweise“ einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend – RA Helge Hildebrandt, Kiel
Mit Beschluss vom 23.01.2017 zum Aktenzeichen 7 UR II 23/16 hat das AG Kiel einen Rechtspflegebeschluss aufgehoben, mit dem ein Antrag auf Beratungshilfe mit der Begründung abgelehnt worden war, der Rechtsuchende hätte sich ohne anwaltliche Hilfe selbst um eine Lösung der Angelegenheit bemühen können, die Beantragung von Beratungshilfe sei deswegen „mutwillig“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs 3 BerHG gewesen.
Im Erinnerungsverfahren wurde nun richterlich bestätigt, dass der Rechtsuchende seine vor Aufsuchen eines Anwalts stattgehabten „Eigenbemühungen“ glaubhaft gemacht hat. Aufgrund der Dringlichkeit und der Bedeutung der Angelegenheit sowie der glaubhaft gemachten Reaktion des Gegners sei „ausnahmsweise ein einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend“ gewesen.
Anmerkungen: sozialberatung-kiel.de
Wartezeiten von mehr als 15 Minuten bei der Höhe der Terminsgebühr zu berücksichtigen
Wartezeiten eines Rechtsanwalts vor einem Termin zur mündlichen Verhandlung, welche die in der Ladung mitgeteilte Uhrzeit um mehr als 15 Minuten überschreiten und die allein der Sphäre des Gerichts zuzurechnen sind, sind bei der Bestimmung der Terminsgebühr gebührenerhöhend zu berücksichtigen Bei einer Wartezeit von 1 ½ Stunden ist die Mittelgebühr um 1/3 heraufzusetzen (Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22.11.2016, L 5 SF 91/15 B E).
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt: sozialberatung-kiel.de
Geldstrafe bei Hartz IV: Kann man als ALG-II-Empfänger auch zu einer Geldstrafe verurteilt werden?
Fachbeitrag von Rechtsanwalt Robert Binder
www.refrago.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de