Amtsgericht Hannover – Beschluss vom 31.03.2017 – Az.: 42 XIV 39/16 L

BESCHLUSS

In der Freiheitsentziehungssache
betreffend
xxx,
– Betroffener –

Verfahrensbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstr. 55, 37073 Göttingen

weitere Verfahrensbeteiligte: Polizeidirektion Hannover

hat das Amtsgericht – Abteilung 42 – Hannover durch die Richterin am Amtsgericht xxx am 31.03.2017 beschlossen:

1. Dem Betroffenen wird aufgrund seines Antrages vom 29.02.2016 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einhaltung der Rechtsmittelfrist gemäß § 19 Abs. 4 Nds. SOG i.V.m. § 17 Abs. 1, 2 FamFG gewährt.

2. Es wird festgestellt, dass die sich in der Zeit vom 29.02.2016 an die ab 18:20 Uhr erfolgte strafprozessuale vorläufige Festnahme anschließende bis 22:40 Uhr andauernde gefahrenabwehrrechtliche Ingewahrsamnahme des Betroffenen dem Grunde nach rechtswidrig war.

3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

4. Die Verfahrensbeteiligte trägt die notwendigen Auslagen des Betroffenen, sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen im Beschwerdeverfahren.

5. Der Gegenstandswert beträgt 5.000,– Euro.

GRÜNDE
I.
Für Montag, den 28.12.2015, in der Zeit von 19:00 Uhr bis 21:00 Uhr, wurde eine sich fortbewegende Versammlung der „PEGIDA Hannover“ unter dem Motto/Thema „Islamisierung des Abendlandes“ in Hannover angezeigt. Die Versammlung sollte mit einer Auftaktkundgebung auf dem Georgsplatz beginnen und über die Baringstraße, Osterstraße, Platz der Weltausstellung, Karmarschstraße, Kröpcke und Georgstraße zurück zum Georgsplatz führen.

Anlässlich der Versammlung ordnete der Leiter der Polizeiinspektion Mitte, PD xxx, am 21.12.2015 die Einrichtung von stationär und mobil durchzuführenden Kontrollstellen für den 28.12.2015, von 17:00 Uhr bis spätestens Ende des Einsatzes gemäß § 14 NSOG an. Die Anordnung sah die Einrichtung von stationären Kontrollstellen bei Betreten des Versammlungsortes „PEGIDA“ und bei sich ergebenden Gegenveranstaltungen in Form von Spontan-/Eilversammlungen am jeweiligen Versammlungsort vor.

Die Anordnung zur Einrichtung von Kontrollstellen wurde u.a. damit begründet, dass seit Februar 2015 durch linksautonome Gruppierungen zur Blockade von „PEGIDA“ Versammlungen aufgerufen wurde. Diese Gegendemonstrationen wurden in der Regel nicht angezeigt und hatten keinen Versammlungsleiter. Sie wurden durch die Polizei als Versammlungen eingestuft. Mehrmals kam es in der Vergangenheit nach Begehung von Straftaten aus den Gegenversammlungen heraus zur Aufhebung der Befreiung vom Vermummungsverbot. In einem Fall wurde während des Aufzuges der „PEGIDA“ versucht, deren Versammlungsplatz zu besetzen.

Seit dem 05.10.2015 haben sich die Versammlungsgegner nach den Erfahrungen der Polizeidirektion Hannover nicht mehr durchgehend zu einer Gruppe zusammengefunden, stattdessen wurde in sogenannten Kleingruppen agiert. Damit sollte mutmaßlich der Charakter einer Versammlung vermieden werden, da ohne den Versammlungscharakter auch die Möglichkeit der Aufhebung der Befreiung vom Vermummungsverbot und demzufolge die Möglichkeit der Durchführung strafprozessualer Maßnahmen entfiel. Siehe hierzu im Einzelnen die Begründung in der Kontrollstellenanordnung der Polizeidirektion Hannover vom 21.12.2015, BI. 17 ff. d. A.

Ausweislich der Kontrollstellenanordnung wurde das Mobilisierungspotential der gesamten linken Szene im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Hannover auf annähernd 180 Personen geschätzt, von denen 70 als gewaltbereit und 60 als gewaltgeneigt eingestuft werden. Die Anzahl der Versammlungsgegner belief sich im Durchschnitt auf etwa 115 Personen des linken Spektrums im gesamten Stadtgebiet (19.10.2015: 80 Personen, 02.11.2015: 65 Personen, 16.11.2015: 100 Personen, 30.11.2015: 180 Personen und am 14.12.2015: 150 Personen). Für den 28.12.2015 wurden bis zu 120 Personen des linken Spektrums als Versammlungsgegner erwartet.

Der Betroffene wurde am 28.12.2015 um 18:20 Uhr in der Georgstraße/Ecke Baringstraße von PK xxx kontrolliert. Er befand sich in einer Gruppe von ca. 6 bis 9 Personen.

Der Betroffene wurde durch PK xxx und PK xxx durchsucht. Zuvor wurde er durch PK xxx aufgefordert, alle Gegenstände, die zu einer Verletzung bei der Durchsuchung führen könnten, aus seinen Taschen zu nehmen und auf den Boden zu legen. Daraufhin gab der Betroffene an, ein Pfefferspray in der Tasche zu haben und gab dieses freiwillig heraus.

Es handelte sich um ein Tierabwehrspray (sog. Pfefferspray) der Fa. KO Jet ohne PtBKennzeichnung. Damit bestand für die Polizeibeamten zunächst der Anfangsverdacht einer Straftat nach § 3 Abs. 2 NVersG i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 NVersG; hier: Mitführen von Waffen im technischen Sinne. Unter den technischen Waffenbegriff fallen Gegenstände, die ihrer Natur, ihren Konstruktionsmerkmalen oder ihren speziellen Eigenschaften nach von vornherein dazu bestimmt sind, als Angriffswerkzeuge zu dienen; hierzu zählen auch Tränengassprühdosen (vgl. Aufzählung bei Brenneisen/Wilksen, 4. Auflage, S. 176, 177). Das von dem Betroffenen mitgeführte Pfefferspray wurde von den Polizeibeamten wie eine Tränengassprühdose bewertet.

Der Betroffene wurde durch PK xxx darüber belehrt, dass das Mitführen eines solchen Gegenstandes auf dem Weg zu einer Versammlung eine Straftat nach dem Versammlungsgesetz darstellt. Weiter wurde er durch PK xxx über seine Rechte als Beschuldigter im Strafverfahren belehrt. Zudem wurde ihm durch PK’in xxx das Merkblatt zur Belehrung von vorläufig festgenommenen Personen nach §§ 127, 127b stopp ausgehändigt, da der Betroffene zu diesem Zeitpunkt aufgrund des Anfangsverdachts einer Straftat kurzzeitig einer vorläufigen Festnahme unterlag, auch wenn es während des Zeitraumes der Anwendung des § 127 Abs. 1 StPO aller Voraussicht nach nicht zu einem Vorliegen von Haftgründen nach § 127 Abs. 2 i.V.m. § 112 ff StPO gekommen wäre.

Die Kontrollmaßnahmen richteten sich zunächst nach § 14 NSOG i.V.m. § 10 Abs. 2 NVersG. Nach dem Auffinden des Pfeffersprays bestand ein Anfangsverdacht einer Straftat nach §§ 3 Abs. 2, 20 Abs. 1 Nr. 1 NVersG. Es erfolgte eine kurzzeitige vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO, eine Identitätsfeststellung nach § 163b Abs. 1 StPO und eine Einziehung des Pfeffersprays nach § 22 NVersG i.V.m. § 74 StGB.

Im Anschluss an die strafprozessualen Maßnahmen erfolgte die Ingewahrsamnahme aus gefahrenabwehrrechtlichen Gründen gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 NSOG. Zuvor wurde dem Betroffenen gemäß § 10 Abs. 3 NVersG die Teilnahme an sämtlichen Gegenveranstaltungen für den Zeitraum der „PEGIDA“ Versammlung untersagt.

Laut Kurzbericht Nr. 149055 wurde der Betroffene um 20:10 Uhr zunächst in Gefangenenkraftwagen (lang) verbracht und um 22:26 Uhr dem Polizeigewahrsam zugeführt. Um 22:40 Uhr wurde der Betroffene aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war die „PEGIDA“ Versammlung beendet und der Abmarsch der Versammlungsteilnehmer erfolgt.

Da die Zuführung über den Gefangenentransporter, der aus Einsatzgründen weitere vorläufig festgenommene Personen transportierte, ausweislich der Stellungnahme der Polizeidirektion Hannover zum Polizeigewahrsam erst nach Ende der richterlichen Bereitschaftsdienstzeit erfolgen konnte, wurde eine grundsätzlich vorgesehene richterliche Bestätigung der Freiheitsentziehung nicht mehr eingeholt (§ 19 Abs. 1 Satz 2 NSOG).

Eine Belehrung des Betroffenen im Sinne des § 20 Abs. 1 Satz 2 NSOG erfolgte nach Aktenlage nicht, so dass der Bevollmächtigte des Betroffenen erst zum Zeitpunkt seiner Einsichtnahme in die Ermittlungsakte Kenntnis erhalten hat, dass die Ingewahrsamnahme im Anschluss an die vorläufige Festnahme aus Gründen der Gefahrenabwehr in Form des Verhinderungsgewahrsams erfolgte.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 29.02.2016 beantrage der Betroffene sodann festzustellen, dass die durch Beamte des Antragsgegners durchgeführte Freiheitsentziehung des Antragstellers am 28.12.2015 bereits dem Grunde nach rechtswidrig war.

Vorsorglich wurde zudem beantragt, dem Antragsteller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Antragsfrist von einem Monat zu gewähren.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird im Übrigen auf den Antrag des Betroffenen vom 29.02.2016 und die weiteren gewechselten Schriftsätze des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers und der Polizeidirektion Hannover verwiesen.

Mit Beschluss vom 31.05.2016 hat das Amtsgericht Wiedereinsetzung gewährt und zunächst die Rechtmäßigkeit der am 28.12.2015 anschließenden gefahrenabwehrrechtlichen Ingewahrsamnahme angeordnet. Insoweit führte das Gericht im Wesentlichen aus, dass aus der maßgeblichen ex-ante Sicht der Einsatzkräfte und aufgrund des festgestellten Pfeffersprays von einer potenziellen Unfriedlichkeit des Betroffenen ausgegangen werden konnte und damit hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme vorlagen, dass der Betroffene sich an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit PEGIDA-Anhängern beteiligen wollte. Die Ingewahrsamnahme diente dazu, den Betroffenen an der Begehung von Straftaten zu hindern.

Gegen diese Entscheidung hat der Betroffene mit Schriftsatz vom 07.06.2016 Beschwerde eingelegt und unter anderem die fehlende Vornahme einer mündlichen Anhörung gerügt. Zudem sei der Betroffene nicht auf dem Weg zu einer angemeldeten Versammlung gewesen. Die Gruppe in der er sich aufgehalten hat, sei nicht überwiegend in schwarz gekleidet gewesen. Der Betroffene habe das Tierabwehrspray freiwillig herausgegeben und habe den Dialog mit den Beamten gesucht und sei nicht renitent oder dergleichen gewesen.

Der Betroffene sei bislang nicht polizeilich in Erscheinung getreten und habe durch das bei sich Führen des Tierabwehrsprays nicht einmal eine Straftat begangen.

Der Beschwerde hat das Amtsgericht Hannover mit Entscheidung vom 11.07.2016 nicht abgeholfen und die Akten dem Oberlandesgericht Celle vorgelegt.

Am 21.11.2016 wurde der Betroffene im Rahmen des von der Staatsanwaltschaft Hannover zum Aktenzeichen 234 Cs 1141 Js 12298/16 (198/16) geführten Strafverfahren wegen eines Verstoßes gemäß § 3 Abs. 2 NVersG freigesprochen. Das Urteil ist seit dem 05.12.2016 rechtskräftig. In der Begründung wird u. a. ausgeführt: „Dieser Vorwurf des Strafbefehls konnte dem Angeklagten letztlich nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden. Er gab insoweit unwiderlegt an, dass er aufgrund bestehender Ängste diesen Gegenstand immer bei sich trage. Er habe auch nicht gewusst, dass dieser auf dem Weg zu einer Demonstration verboten sei. Insbesondere aufgrund des Eindruckes des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin war ihm diese Einlassung nicht zu widerlegen. Demzufolge war davon auszugehen, dass der Angeklagte diesen Gegenstand nicht bewusst auf dem Weg zu einer Demonstration mit sich führte.“

Mit Beschluss vom 24.01.2017 hat das Oberlandesgericht Celle die Beschlüsse des Amtsgerichts Hannover vom 31.05.2016 und 11.07.2016 aufgehoben und zur erneuten Prüfung und Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Amtsgericht Hannover zurückverwiesen, da das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, mithin der fehlenden mündlichen Anhörung.

Der Betroffene wurde sodann vom Gericht am 06.03.2017 mündlich angehört und bekundet, dass er in der Nähe von Hannover in einem Falken-Camp aufhältig war und sich mehreren Personen angeschlossen hat, nach Hannover zu fahren anlässlich der PEGIDA-Veranstaltung. Der Betroffene war an dem Tag das erste Mal in Hannover und ortsfremd. Er befand sich in einer Gruppe aus ca. 9 Personen und diese sei auf der Suche nach einer Gegenveranstaltung zur PEGIDA-Versammlung gewesen. Danach habe einer aus der Gruppe sich bei den Polizeibeamten PK xxx und PK xxx erkundigt, wo die PEGIDA-Kundgebung stattfinde. Dies sei der Anlass für die Beamten gewesen, die Gruppe anzuhalten und zu durchsuchen.

Der Betroffene gab an, ein Tierabwehrspray bei sich geführt zu haben und dies freiwillig auf Nachfrage der Beamten an diese ausgehändigt zu haben. Dieses trage er immer bei sich, weil er sich ängstlich fühle und er davon ausging, dieses auch bei sich führen zu dürfen.

Die restlichen Personen aus der Gruppe durften sodann weitergehen, nur der Betroffene musste bei den Beamten verbleiben. Eine ganze Weile war der Betroffene aufgefordert eine Polizeibeamtin zu begleiten, bis diese ihn nach Beendigung des PEGIDA-Aufmarsches zum Gefangenentransporter begleitete. Hier sei ihm zunächst mitgeteilt worden, dass er wohl nicht mehr in den Transporter einsteigen müsse, schließlich wurde er aber doch dazu aufgefordert und ins Polizeigewahrsam transportiert, wo er anschließend entlassen wurde.

An diesem Tage trug der Betroffene eine blaue Jeans, einen blauen Anorak und eine bunte (regenbogenfarbene) Mütze.

Im Anschluss an den Anhörungstermin hat das Gericht im Freibeweisverfahren telefonisch Rücksprache zu dem Vorfall mit PK xxx und PK xxx gehalten.

PK xxx teilte dem Gericht hierzu auf Nachfrage mit, dass es an dem besagten Tag eine Kontrollstellenanordnung gegeben habe, weswegen alle Kleingruppen kontrolliert worden seien. Er könne nicht sagen, ob aus der Gruppe heraus ein Polizeibeamter angesprochen worden sei, oder ob seitens eines Kollegen die Gruppe angesprochen worden sei. Aus der Gruppe heraus sei gesagt worden, dass sie auf dem Weg zu einer Gegenveranstaltung seien. Der Betroffene habe das Tierabwehrspray freiwillig herausgegeben. Es könne sein, dass er dabei gesagt habe, dass er dieses immer zu seinem Schutz bei sich habe. Der Betroffene war nicht aggressiv, hat die Durchsuchung gestattet und sich auch sonst kooperativ verhalten. Es habe eine grundsätzlich Anordnung vom Leiter der Hundertschaft gegeben, dass jeder, der einen gefährlichen Gegenstand bei sich führt, in Gewahrsam zu nehmen sei. Beim Betroffenen sei dies nach Rücksprache mit dem Gruppenführer angeordnet worden. Ob und wie lange der Betroffene anschließend bei einer Kollegin verweilen musste, dazu konnte er keine Angaben machen.

PK xxx teilte dem Gericht auf Nachfrage mit, dass er und sein Kollege direkt vor der PEGIDA-Versammlung standen. Es gab eine Kontrollstellenanordnung. Es kam eine 4 – 5 köpfige Gruppe auf sie zu. Auf die Frage wohin sie wollten, gaben sie an, dass sie zu einer Gegenveranstaltung wollten und wollten wissen, wo diese stattfindet. Die Gruppe und der Betroffene im Besonderen war nicht aggressiv und machte keine Probleme. Der Betroffene gab das Tierabwehrspray freiwillig heraus, nachdem er aufgefordert wurde, seine Sachen rauszugeben, bevor er durchsucht werde. Die Ingewahrsamnahme wurde von ganz oben angeordnet, nachdem per Funk die Mitteilung über den Fund des Tierabwehrsprays durchgegeben wurde. Die restlichen Mitglieder der Gruppe durften gehen. Ob und wie lange der Betroffene anschließend bei einer Kollegin verweilen musste, dazu konnte er keine Angaben machen.

II.
Dem im Schriftsatz vom 29.02.2016 formulierten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war stattzugeben. Dieser wurde frist- und formgerecht gestellt und die Einhaltung der Frist zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme wurde ohne Verschulden von dem Betroffenen versäumt. Der Antrag wurde gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 FamFG fristgerecht binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt. Erst durch die erfolgte Akteneinsicht in die Akte der Staatsanwaltschaft Hannover (Az. 1141 Js 12298/16) am 18.02.2016 wurde dem Verfahrensbevollmächtigten bekannt, dass nach einer strafprozessualen Ingewahrsamnahme sich eine gefahrenabwehrrechtliche Ingewahrsamnahme unmittelbar anschloss und der Betroffene hierüber nicht belehrt wurde. Insoweit erfolgte auch die Versäumung der Frist zur Überprüfung der Freiheitsentziehung unverschuldet. Die Ausschlussfrist des § 18 Abs. 4 FamFG war auch noch nicht verstrichen.

Insoweit war vorliegend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einhaltung der Rechtsmittelfrist gemäß § 19 Abs. 4 Nds. SOG i.V.m. § 17 Abs. 1, 2 FamFG zu gewähren.

Der Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung vom 29.02.2016 ist gemäß § 19 Abs. 2 NSOG zulässig, insbesondere aufgrund der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch fristgerecht beim Amtsgericht Hannover eingegangen und auch begründet.

Der Betroffene wurde mit polizeilicher Anordnung vom 28.12.2015 in der Zeit nach 18:20 Uhr bis 22:40 Uhr in Gewahrsam genommen. Bei dieser polizeilichen Anordnung handelte es sich zunächst um eine Ingewahrsamnahme nach §§ 127, 127b StPO aufgrund des Anfangsverdachts wegen einer Straftat nach §§ 3 Abs. 2, 20 Abs. 1 Nr. 1 NVersG. Im Anschluss an die strafprozessualen Maßnahmen, die nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, erfolgte die Ingewahrsamnahme aus gefahrenabwehrrechtlichen Gründen gemäß §§ 18 Abs. 1 Nr. 2, 19 NSOG, so dass für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit das Amtsgericht Hannover zuständig ist gemäß § 19 Abs. 3 Satz 2 NSOG.

Eine Ingewahrsamnahme nach dem NSOG ist eine Freiheitsentziehung im Sinne des Artikel 104 Abs. 2 GG und keine bloße Freiheitsbeschränkung im Sinne des Artikel 104 Abs. 1 GG. Eine Freiheitsentziehung liegt dann vor, wenn jemand gegen oder ohne seinen Willen durch die öffentliche Gewalt in einem bestimmten, eng umgrenzten Ort festgehalten wird. Bei einer Ingewahrsamnahme wird mithin eine bestimmte Person oder ein bestimmter Personenkreis in einem räumlich eng umgrenzten Bereich und in der Regel zu den in § 13 Abs. 2, 16 Abs. 3 oder § 18 Nds. SOG festgelegten besonderen Zweck festgehalten und auf diese Weise gehindert, sich fortzubewegen.

Dies war im hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalt betreffend den Antragsteller am 28.12.2015 beginnend ab 18:20 Uhr und endend um 22:40 Uhr der Fall.

Gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 NSOG kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um eine unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern.

Zwar waren aufgrund der sich aus der Kontrollstellenanordnung ergebenden Gefahrenprognose – wie bei den vorangegangen „PEGIDA“ Versammlungen – Ausschreitungen gegen Personen und Sachen durch Versammlungsgegner zu erwarten. Auch war die Kontrollstellenanordnung vom 21.12.2015 hinreichend bestimmt.

Die Anordnung zur Einrichtung von Kontrollstellen gemäß § 14 NSOG muss, damit die besondere Bestimmung über die Anordnungsbefugnis nicht leer läuft, ihrem Inhalt nach zumindest Angaben über den Ort, die Zeit und die Anzahl der Kontrollstellen enthalten. Diese Angaben können selbstverständlich nur so konkret sein, wie der Zweck der Kontrollstellen es zulässt. Gegebenenfalls reicht also auch schon eine großflächige Ortsbestimmung, die Angabe eines Zeitrahmens und die Bezeichnung der ungefähren Anzahl der einzurichtenden Kontrollstellen. Die Begründung der Anordnung muss sich auf die Anordnungsvoraussetzungen beziehen und die wesentlichen Ermessenserwägungen erkennen lassen (vgl. Böhrenz/Unger/Siefken, 9. Auflage, Nds. SOG, § 14 Rn. 8).

Die Einrichtung von Kontrollstellen gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 4 NSOG hat zum Ziel, schwere und schwerste Straftaten zu verhindern sowie den friedlichen Verlauf von öffentlichen Versammlungen zu sichern. Sie dienen der Verhütung von Gefahren, die von Verstößen gegen Waffen-, Schutzausrüstungs- und Vermummungsverboten ausgehen. Grundsätzlich können Kontrollstellen sowohl stationär als auch mobil eingerichtet werden. Die Anordnung von lediglich stationären Kontrollstellen an im Vorfeld festgelegten Orten würde die Polizei dahingehend beschränken, nicht mehr lagebedingt reagieren zu können. Potenzielle Störer/Gewalttäter hätten die Möglichkeit, die Kontrollstellen zu umgehen und andere Anmarschwege zu wählen. Damit würde die Anordnung ausschließlich stationärer Kontrollstellen anlässlich einer Versammlung dem Sinn und Zweck von Kontrollstellen als gefahrenabwehrende Maßnahme zuwiderlaufen.

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßgaben ist die Kontrollstellenanordnung auch nach der Auffassung des Gerichts nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der mobilen Kontrollstellen wurde deren Einrichtung auf öffentlichen Straßen und Plätzen im Stadtgebiet Hannover, insbesondere entlang der Aufzugsroute sowie auf den An- und Abmarschwegen zur Versammlung, lageabhängig auf Basis von Erkenntnissen über die Anreise und Anwesenheit potenziell gewaltbereiter Versammlungsteilnehmer sowie Teilnehmer möglicher Gegenveranstaltungen angeordnet.

Der Betroffene wurde um 18.20 Uhr in der Georgstraße/Ecke Baringstraße und damit in unmittelbarer Nähe des Versammlungsortes der Versammlung „PEGIDA“ kontrolliert. Selbige sollte um 19.00 Uhr auf dem Georgsplatz mit einer Auftaktkundgebung starten und über die Baringstraße ihren weiteren Verlauf nehmen. Die Kontrollstelle war damit von der Anordnung umfasst.

Auch erfolgte die Kontrolle des Betroffenen nach Auffassung des Gerichts im Hinblick auf die sich aus der Kontrollstellenanordnung ergebenden Gefährdungslage durchaus rechtmäßig. Der Betroffene befand sich in einer Gruppe von ca. 6 – 9 Personen, die auf dem Weg zu einer etwaigen Gegenveranstaltung zur „PEGIDA-Versammlung“ waren. Der Polizei lagen aufgrund der vorangegangenen Versammlungen von „PEGIDA“ konkrete Erkenntnisse vor, die darauf schließen ließen, dass am Einsatztag mit der Teilnahme von potenziell gewaltbereiten Versammlungsgegnern zu rechnen war und gewalttätige Ausschreitungen befürchtet werden mussten. Die Kontrolle diente daher dem legitimen Zweck, die ordnungsgemäße und gewaltfreie Durchführung der Versammlung zu gewährleisten.

Jedoch konnte aus der maßgeblichen ex-ante Sicht der Einsatzkräfte in diesem konkreten Fall nicht von einer potenziellen Unfriedlichkeit des Betroffenen ausgegangen werden. Die Personengruppe in welcher sich der Betroffene befand war friedlich. Auch konnte das Gericht nicht verifizieren, dass die Gruppe überwiegend schwarz gekleidet gewesen wäre. Mit Ausnahme des Betroffenen hatte auch kein weiteres Mitglied der Gruppe potenziell gefährliche Gegenstände bei sich. Der Betroffene hat das Tierabwehrspray auf Nachfrage freiwillig herausgegeben. Aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Betroffenen, erscheint es dem Gericht glaubhaft, dass der Betroffene das Tierabwehrspray zur eigenen Sicherheit stets bei sich führt, da er sehr ängstlich sei. Dieser Eindruck bestätigte sich offenbar auch im Strafverfahren. Auch die Einsatzkräften PK xxx und PK xxx bestätigten dem Gericht gegenüber, dass der Betroffene nicht aggressiv war und sich kooperativ verhalten hat. Weder die Personengruppe, noch der Betroffene selbst haben Anhaltspunkte zu einem etwaigen gewaltbereiten Verhalten gegeben. Infolgedessen wurden die weiteren Gruppenmitglieder auch nicht weiter festgehalten. Im weiteren Verlauf begleitete der Betroffene über eine Stunde eine weitere Beamtin im Rahmen der ausgesprochenen Ingewahrsamnahme bis er am Gefangentransporter übergeben wurde. Auch in der Zeit dazwischen, in der die PEGIDA-Versammlung abgehalten wurde, verhielt der Betroffene sich weiterhin kooperativ und versuchte sich nicht zu entziehen oder ähnliches. Unter der Berücksichtigung des konkreten Einzelfalles konnte hier allein der Fund des Tierabwehrsprays als Begründung für die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme nicht herangezogen werden, vielmehr bedarf es auch bei einer ex-ante Betrachtung der Berücksichtigung aller bekannten Tatsachen und Umstände. Insoweit war hier nach der Sicherstellung des Tierabwehrsprays mit einem unfriedlichen Verhalten des Betroffenen nicht zu rechnen, wie es sich ja auch schon während der Dauer der Verbringung zum Gefangenentransport bereits bestätigt hat.

Die Einziehung des Pfeffersprays als weniger belastende Maßnahme wäre vorliegend ausreichend, aber auch verhältnismäßig gewesen. Der Verhinderungsgewahrsam des Betroffenen erfolgte daher zu Unrecht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG i.V.m. § 3 GNotKG. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 2 GNotKG. Es entspricht unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 5 Abs. 5 EMRK billigem Ermessen, die beteiligte Polizeidirektion Hannover zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen im Verfahren und im Beschwerdeverfahren zu verpflichten.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 GNotKG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.