Landgericht Stuttgart – Beschluss vom 31.03.2017 – Az.: 19 T 230/16

BESCHLUSS

In der Gewahrsamssache
xxx,
Tübingen
– Betroffene und Beschwerdeführerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

Weitere Beteiligte:
Polizeipräsidium Reutlingen, xxx,
– Antragsteller und Beschwerdegegner –

wegen Freiheitsentziehung

hat das Landgericht Stuttgart – 19. Zivilkammer – durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht xxx, die Richterin am Landgericht xxx und den Richter am Landgericht xxx am 31.03.2017 beschlossen:

1. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Nürtingen vom 30.04.2016, Az. 513 XIV 425/16 L, die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat.

2. Die Antragstellerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

3. Der Gegenstandswert wird auf 5.000 € festgesetzt

GRÜNDE
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen einen Beschluss des Amtsgerichts Nürtingen vom 30.04.2016, mit dem die Fortdauer des polizeilichen Gewahrsams bis zum Abend des Folgetages angeordnet wurde.

Am 30.04.2016/01.05.2016 führte die Partei Alternative für Deutschland (AfD) im Bereich des Messegeländes in Stuttgart ihren Bundesparteitag durch. Es kam bereits in den frühen Morgenstunden zu Blockadeaktionen an verschiedenen Stellen. Um 6:36 Uhr erreichten mehrere Busse den Kreisverkehr bei der Messe, deren Insassen sich unangemeldet dort versammelten. Teilweise waren sie vermummt. Aus der Menge wurde Pyrotechnik gezündet. Teilnehmer errichteten Blockaden mit dort vorhandenem Baustellenmaterial. Vereinzelt wurden Leuchtraketen in Richtung der eintreffenden Polizeibeamten geschossen. Bei Eintreffen der Polizeikräfte zog die aus ca. 420 Personen bestehende Gruppe weiter in Richtung Flughafenstraße, wo sie schließlich von Polizeikräften ab ca. 7:00 Uhr umschlossen wurde. In dieser Gruppe befand sich die Betroffene. Gegen 7:12 Uhr wurde durch den Polizeiführer der Gewahrsam angeordnet. Die Gewahrsamsnahme wurde den Personen durch drei Lautsprecherdurchsagen der Besatzung eines Wasserwerfers eröffnet mit etwa folgendem Inhalt: „Aufgrund Ihrer Vermummung und der Errichtung von Barrikaden genießen sie nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts. Sie befinden sich nun in polizeilichem Gewahrsam und werden in Kürze polizeilich bearbeitet.”

Die Betroffene wurde aus der Umschließung herausgebracht und zur Gefangenensammelstelle in der Halle 9 verbracht, wo sie der Videodurchlassstelle zugeführt wurde. Die Videoaufnahme trägt das Speicherdatum 9:37 Uhr. Bei dieser Gelegenheit erhielt sie durch KHK xxx eine Beschuldigtenbelehrung, bei der ihr der Tatvorwurf des Landfriedensbruchs zur Last gelegt wurde. Die Betroffene erklärte, keine Angaben machen zu wollen.

Nach dem Einsatzprotokoll des Polizeipräsidiums wurde die letzte Störerlage um 10:00 Uhr dokumentiert, begangen durch Personen, die sich noch nicht in Gewahrsam befanden. Eine angemeldete Versammlung endete gegen 11:20 Uhr und wurden von Polizeikräften begleitet. Weitere Störungen wurden nicht protokolliert.

Die Betroffene wurde um 13:50 Uhr aus dem Abteil für Frauen der Gefangenensammelstelle abgeholt und unmittelbar danach erneut schriftlich als Beschuldigte wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs belehrt. Dabei wurde ihr erläutert, dass aus einer Personengruppe heraus, in der sie sich aufgehalten habe, Pyrotechnik auf Polizeibeamte verschossen und die Flughafenstraße blockiert worden sei. Die Betroffene entschloss sich erneut, keine Angaben zu machen. Sodann wurde sie gegen 14:00 Uhr der vor Ort befindlichen Bereitschaftsrichterin vorgeführt. Diese erhielt dabei von der Polizei einen Kurzbericht mit folgendem Inhalt:
Am 30.04.2016 kam es auf der Flughafenstraße durch eine teilweise vermummte ca. 300-köpfige Personengruppe zu Errichten von Barrikaden, Beschuss durch Pyrotechnik auf Polizei u.a. Die Personengruppe blockierte dabei die Flughafenstraße und ging geschlossen gegen die Polizeibeamten vor Ort vor. Um 7:00 Uhr wurde vom Abschnittsleiter „Intervention”, POR xxx, die Umschließung dieser Personengruppe angeordnet. Die eingeschlossenen Personen werden aufgrund des unfriedlichen Charakters dieser Gruppierung nicht als öffentliche gewertet. Eine Auflösung ist deshalb nicht notwendig. Den Personen wurde um 7:40 Uhr über Lautsprecher die vorläufige Festnahme erklärt. Die Personen werden mit Linienbussen zur GeSa transportiert — für alle festgenommenen soll ein Folgegewahrsam erwirkt werden.

Bei der richterlichen Anhörung wurde der Betroffenen der Sachverhalt des Kurzberichts vorgelesen. Sie bat um einen Anwalt. Sie erhielt Gelegenheit, mit einem ihr benannten „Ermittlungsausschuss” zu telefonieren und erklärte danach, keine Angaben zu machen.

Das Amtsgericht hat die Fortdauer des polizeilichen Gewahrsams bis zum Folgetag, dem 01.05.2016, 20:00 Uhr, mit Hilfe eines Formular-Beschlusses angeordnet. Hinsichtlich des Sachverhalts hat es auf den Polizeibericht verwiesen. Der Beschluss wurde durch Verlesen der Beschlussformel um 14:00 Uhr bekannt gegeben. Ab 16:40 Uhr desselben Tages begann die Polizei mit der Entlassung sämtlicher in Gewahrsam genommener Personen. Die Betroffene wurde zwischen 17:00 Uhr und 20:00 Uhr unter Erteilung eines Platzverweises aus dem Gewahrsam entlassen. Die Übergabe des Beschlusses ist am 10.05.2016 erfolgt.

Die Betroffene hat am 30.05.2016 durch ihren Bevollmächtigten Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 26.06.2016 näher begründet. Unter anderem wendet sie ein, dass die Fortdauer des Gewahrsams nicht erforderlich gewesen sei.

II.
1. Die gemäß § 28 Abs. 4 S. 7 PoIG BW statthafte Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts ist gemäß §§ 63, 64 FamFG form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Zwar setzt die von der Betroffenen verfolgte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme nach ihrer Erledigung gemäß § 62 Abs. 1 FamFG einen förmlichen Antrag voraus (Keidel/Budde, FamFG 19. Aufl., § 62 Rn. 10), den diese trotz Hinweises des Gerichts nicht gestellt hat. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen, wie hier der Beschwerdeeinlegung sowie der Stellungnahme, ist nicht allein der Wortlaut maßgebend. Maßgeblich ist der erklärte Wille, wie er sich aus den Begleitumständen und der Interessenlage entnehmen lässt. Hierzu sind insbesondere die Schriftsätze der Betroffenen heranzuziehen. Im Zweifel gilt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BGH, Beschluss vom 12. April 2016 — VI ZB 63/14 —, Rn. 11, juris). In ihrer Stellungnahme auf den Hinweis des Gerichts hat die Betroffene auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Überprüfung erledigter Grundrechtseingriffe verwiesen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Juni 1997 — 2 BvR 126/91 —, juris), so dass ihr Ziel auch ohne ausdrücklichen Antrag zweifelsfrei zu ermitteln und ihre Beschwerdeschrift dementsprechend auszulegen ist.

2. Die Beschwerde ist begründet, weil der Beschluss des Amtsgerichts die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat. Die Anordnung des Gewahrsams bis um 20:00 Uhr des Folgetages war unverhältnismäßig, weil sich seine Erforderlichkeit nicht feststellen lässt.

Gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann. Voraussetzung ist, dass die Person selbst Störer ist. Die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme bestimmt sich allein nach der Gefahrenlage, wie sie sich bei fehlerfreier ex ante-Prognose darstellte. Insofern steht der Polizei eine Einschätzungsprärogative zu (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 17. März 2011 — 1 S 2513/10 —, Rn. 24, juris). Hinsichtlich der richterlichen Entscheidung über die Gewahrsamsnahme gelten die gleichen Grundsätze. Es kommt nicht auf den Zeitpunkt der erstmaligen Gewahrsamnahme an, sondern auf denjenigen der Entscheidung des Gerichts (LG Freiburg, Beschluss vom 19. Januar 2017 — 4 T 10/16 —, juris), da nicht die Rechtmäßigkeit des bis dahin erfolgten polizeilichen Gewahrsams zur Überprüfung steht, sondern die Fortdauer des Gewahrsams.

Für die Annahme einer Störung durch den Betroffenen genügt es, dass sein Verhalten objektiv geeignet ist, bei Dritten den Eindruck zu erwecken, es drohe ein Schaden für ein polizeilich geschütztes Rechtsgut (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 17. März 2011 —1 S 2513/10 —, Rn. 25, juris – Anscheinsstörer). Voraussetzung für die Anordnung des Gewahrsams ist das unmittelbare Bevorstehen einer erheblichen Störung, die nicht auf andere Weise als durch Freiheitsentziehung verhindert oder beseitigt werden kann (Belz/Mußmann/Kahlert/Sander, PolG BW, 7. Aufl., § 28 Rn. 6 ff.). Damit ist die Anordnung der Gewahrsamsnahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen (Zeitler/Trurnit, Polizeirecht, 3. Aufl., Rn. 339). Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist die Freiheit der Person unverletzlich. Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, das nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf. Die Einschränkung dieser Freiheit ist stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen. Dies gilt in besonderem Maße für präventive Eingriffe, die nicht dem Schuldausgleich dienen. Sie sind nur zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Dem Freiheitsanspruch des Betroffenen ist das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit entgegenzuhalten; beide sind im Einzelfall abzuwägen (BVerfG, Beschluss vom 18. April 2016 — 2 BvR 1833/12, 2 BvR 1945/12 —, juris).

Diesen hohen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts nicht gerecht. Weder aus der dem Amtsgericht vorgelegten Polizeiakte noch aus den Ausführungen der Antragsteller lassen sich objektive Anhaltspunkte entnehmen, die den Eindruck erwecken, es drohe auch noch während der Nacht und bis zum Ende des nächsten Tages eine Störung durch die Betroffene. Zwar lag es nahe anzunehmen, dass die Betroffene in einem nahen zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an der nicht friedlichen Versammlung, die die Antragsteller durch Vorlage der Lichtbilder und der Polizeiberichte nachgewiesen hat, sich erneut an Störungen beteiligt hätte. Insbesondere zielten die Teilnehmer der Gruppe, in der sich die Betroffene nach den zweifelsfreien Angaben der Polizeibeamten und den Dokumentationen befand, auf eine gewalttätigen Störung des Beginns des Parteitages der AfD. Insofern lag es nahe, dass ein sofortiger Platzverweis gemäß § 27a Abs. 1 PoIG BW anstelle der mit der Umschließung begonnenen Gewahrsamsnahme die Fortsetzung der Störung oder die unmittelbar bevorstehende Aufnahme einer neuen Störung nicht wirksam hätte verhindern können.

Darauf kommt es aber nicht an. Mit der Gewahrsamsnahme der verschiedenen Störergruppen, die an diesem Tag das Ziel verfolgt haben, die Veranstaltung der AfD zu stören, waren die Störungen beseitigt. Nach dem Einsatzprotokoll der Polizei ergaben sich keine Störungen mehr ab 10:00 Uhr, also etwa 3 Stunden nach der Gewahrsamsnahme. Die Lage hatte sich beruhigt. Anhaltspunkte, aus denen sich hätte schließen lassen, dass die Betroffene auch noch am Folgetage Störungen unternehmen würde, hat die Antragstellerin nicht aufgezeigt. Die Betroffene ist aus Tübingen angereist. Bei ihrer Festnahme wurden keine Gegenstände festgestellt, die auf eine geplante Übernachtung vor Ort und eine Fortsetzung der Störung hätten schließen lassen. Auch fehlen Erkenntnisse zu einer möglichen Störung während der Nachtzeit nach dem Ende der an diesem Tage stattfindenden Veranstaltungen des Bundesparteitages. Es war somit mit einer Rückkehr der Betroffenen an ihren Wohnsitz zu rechnen. Angesichts des Eindrucks der konsequenten Gewahrsamsnahme bereits bei der ersten Störung lässt sich nicht feststellen, dass die Betroffene nicht aufgrund eines Platzverweises von einer erneuten Anreise am nächsten Tage abgesehen hätte. Dem entspricht auch die Einschätzung der Polizei bei der vorzeitigen Entlassung sämtlicher in Gewahrsam genommenen Personen zwischen 16:40 Uhr und 20:00 Uhr, wobei darauf geachtet wurde, diese nicht gesammelt zu entlassen, sondern an verschiedene Punkte zu bringen und in kleinere Gruppen zu unterteilen, damit eine Wiederversammlung erschwert und vermieden wird. Objektive Anhaltspunkte, die eine unterschiedliche Gefahrenprognose zwischen dem Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung gegen 14:00 Uhr und dem Zeitpunkt des Beginns der Entlassung der in Gewahrsam genommenen Personen ab 16:40 Uhr rechtfertigen, sind weder ersichtlich noch werden sie von der Antragstellerin aufgezeigt.

Der Beschluss ist insgesamt für rechtswidrig zu erklären und nicht beschränkt auf einen bestimmten Zeitraum aufrechtzuerhalten. Auf der Grundlage der Akte sowie des Vortrages der Antragstellerin lässt sich nicht mit der gebotenen Sicherheit ein Zeitraum festlegen, innerhalb dessen mit einer Wiederholung der Störung durch die Betroffene zu rechnen war. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Vorführung erst etwa 7 Stunden nach der Gewahrsamsnahme erfolgt ist und ca. 4 Stunden, nachdem sich ausweislich des Einsatzprotokolls der Polizei die Lage beruhigt hatte.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 FamFG i.V.m. § 28 Abs. 4 PolG BW, § 6a LJKG, § 2 GNotKG. Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß § 6a LJKG, § 36 GNotKG.