Tacheles Rechtsprechungsticker KW 21/2017

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 12.10.2016 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 12.10.2016, B 4 AS 1/16 R

Sozialgerichtliches Verfahren – Berufung – Berufungsschrift in elektronischer Form ohne qualifizierte elektronische Signatur – Anforderungen an die Schriftform – Unterschrift – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – gerichtliche Mitteilungspflicht – Zeitpunkt der richterlichen Erstbearbeitung – Erkennbarkeit und Beurteilung des Fehlens der qualifizierten elektronischen Signatur

Leitsatz (Juris)
Wird eine Datei, die eine Berufungsschrift enthält, ohne erforderliche qualifizierte elektronische Signatur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach übermittelt, entspricht ihr Ausdruck durch das Gericht, unabhängig davon, ob diese Datei eine Unterschrift enthält oder auf welche Weise diese Unterschrift generiert wurde, nicht den Anforderungen an die Schriftform einer Berufungsschrift.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

1.2 – BSG, Urteil vom 12.10.2016, B 4 AS 37/15 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Anforderungen an einen Überprüfungsantrag – Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung in Überprüfungsverfahren auf ein Jahr auch bei wiederholtem Überprüfungsantrag – Verfassungsmäßigkeit des § 40 Abs 1 S 2 SGB 2 – sozialgerichtliches Verfahren – Unzulässigkeit der Nichtigkeitsfeststellungsklage – Nichtvorliegen von Nichtigkeitsgründen

Leitsatz (Juris)
Die Regelung zur rückwirkenden Erbringung von Leistungen nach dem SGB II in Überprüfungsverfahren längstens für einen Zeitraum bis zu einem Jahr findet auch Anwendung, wenn die bindende Ablehnung einer Überprüfungsentscheidung betroffen ist.

Quelle: juris.bundessozialgericht.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 23.02.2017 -  L 4 AS 135/15

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Mietkaution -  Rechtswidrigkeit der Darlehenstilgung durch Aufrechnung – atypischer Fall

LSG Hamburg: Leistungsträger muss atypische Ausnahmen prüfen bei der Mietkautionsgewährung, denn es ist nicht ausreichend allein auf die Frage der Zumutbarkeit einer Belastung mit (weiteren) Schulden abzustellen.
Im Einzelfall kann nicht bzw. nicht nur die Belastung mit weiteren Schulden, sondern auch die Tilgung des Darlehens durch Aufrechnung mit dem Leistungsanspruch unzumutbar sein.
Monatliches Abstottern eines Mietkautionsdarlehens kann im Einzelfall unzumutbar sein.

Leitsatz (Redakteur)
1. Der Darlehensbescheid ist rechtswidrig, weil das Jobcenter bei der Entscheidung über die Form der Kautionsgewährung kein Ermessen ausgeübt hat, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre, denn in atypischen Fällen hat der Leistungsträger ein Ermessen hinsichtlich der Form der Gewährung der Kaution.
2. Die Mietkaution war aufgrund eines atypischen Falls nicht in Höhe von monatlich 10% zu tilgen, denn die Lebenssituation der Klägerin war in körperlicher, seelischer und sozialer Hinsicht von besonderen Schwierigkeiten geprägt. Diese bestanden insbesondere in der Abhängigkeitserkrankung, der körperlichen Minderbelastbarkeit mit Mobilitätseinschränkungen sowie der über lange Zeit prekären Wohnungssituation (Obdachlosigkeit bzw. öffentlich-rechtliche Unterbringung oder Unterkunft in sozialen Projekten). Es bestand erheblicher Unterstützungsbedarf, der zwischenzeitlich bis zur Einrichtung einer Betreuung ging.
3. Leistungsträger dürfen von notleidenden Hilfebedürftigen nach dem SGB II nicht pauschal verlangen, dass sie ein erhaltenes Mietkautionsdarlehen jahrelang von ihrem Arbeitslosengeld II abstottern. In atypischen Ausnahmefällen muss die Behörde auch andere Alternativen der Mietkautionsgewährung in Betracht ziehen, wie z. Bsp. die Gewährung eines Darlehens ohne Tilgung durch Aufrechnung ((so auch das LSG Nordrhein-Westfallen, urt. v. 23.04.2015 – L 7 AS 1451/14), wobei die nähere Ausgestaltung (z.B. Fälligkeit erst bei Auszug aus der Wohnung, Sicherung durch Abtretung des Anspruchs aus Kautionsrückzahlung gegen den Vermieter) dem Ermessen des Leistungsträgers überlassen bleibt.

Hinweis Gericht
1. Ein atypischer Fall ist dann anzunehmen, wenn sich die Situation des Betroffenen deutlich von derjenigen anderer Leistungsberechtigter unterscheidet und es deshalb nicht gerechtfertigt erscheint, ihn mit den typischen Folgen eines Darlehens zu belasten. Dabei ist es zur Überzeugung des Senats nicht ausreichend, allein auf die Frage der Zumutbarkeit einer Belastung mit (weiteren) Schulden abzustellen (so aber Fachanweisung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) zu § 22 Abs. 6 und 8 SGB II – Gewährung und Rückforderung kommunaler Darlehen vom 14. September 2011 (Gz.: SI 233/111.10-3-8-1).
2. Zum einen kann im Einzelfall nicht bzw. nicht nur die Belastung mit weiteren Schulden, sondern auch die Tilgung des Darlehens durch Aufrechnung mit dem Leistungsanspruch unzumutbar sein. Die Aufrechnung führt im Ergebnis dazu, dass der Leistungsberechtigte jeden Monat einer Kürzung seiner Leistungen um 10% des Regelbedarfs ausgesetzt ist und dies – je nach Höhe der Mietkaution – u.U. für einen Zeitraum von mehreren Jahren. Diese Kürzung der laufenden Leistung mag zwar im Regelfall hinzunehmen sein, doch ist zu prüfen, ob sie aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls unzumutbar ist. Durch eine Einbeziehung dieser Überlegungen in die Prüfung des atypischen Falls kann zugleich den Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität des § 42a SGB II in Hinblick auf Mietkautionen (vgl. hierzu Conradis, in: LPK-SGB II, § 42a Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2013 – L 10 AS 1793/13 B PKH; Thüringer LSG, Beschluss vom 2.1.2014 – L 9 AS 1089/13 B; SG Berlin, Beschluss vom 30.9.2011 – S 37 AS 24431/11 ER; auch das BSG hat in seinem Beschluss vom 29.6.2015 – B 4 AS 11/14 R Zweifel daran geäußert, ob Mietkautionsdarlehen bedingungslos der Regelung des § 42a SGB II unterfallen; keine verfassungsrechtlichen Bedenken sehen hingegen das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 12.3.2015 – L 20 AS 261/13 und das LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.9.2013 – L 3 AS 5184/12) Rechnung getragen werden.
3. Zum anderen ist die Beschränkung der Annahme eines atypischen Falls auf Konstellationen, in denen sich die Unzumutbarkeit allein aus der Belastung mit (weiteren) Schulden ergibt, offensichtlich vor dem Hintergrund erfolgt, dass als mögliche Alternative zum Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung allein ein Zuschuss („Beihilfe“) in Betracht gezogen wurde. Diese Beschränkung der möglichen Alternativen ist jedoch nicht zwingend. Wie bereits das LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 23. April 2015 (L 7 AS 1451/14) ausgeführt hat, steht eine Beschränkung der Wahlmöglichkeiten auf die Alternativen „Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung“ und „Zuschuss“ nicht in Einklang mit dem Grundsatz, dass eine Vermögensbildung durch SGB II-Leistungen nicht stattfinden soll (dazu BSG, Urteil vom 7.7.2011 – B 14 AS 79/10 R m.w.N.). Die Gewährung der Mietkaution als Zuschuss ist in den Fällen, in denen die Unzumutbarkeit nicht auf der Belastung mit (weiteren) Schulden als solche, sondern auf der Kürzung der laufenden Leistung durch die Aufrechnung zum Zwecke der Tilgung beruht, auch nicht erforderlich und würde über das Ziel der Vermeidung unzumutbarer Belastungen hinausgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, weitere Alternativen der Kautionsgewährung zuzulassen. In Betracht kommt insbesondere die Gewährung eines Darlehens ohne Tilgung durch Aufrechnung (so auch das LSG Nordrhein-Westfallen, a.a.O.), wobei die nähere Ausgestaltung (z.B. Fälligkeit erst bei Auszug aus der Wohnung, Sicherung durch Abtretung des Anspruchs aus Kautionsrückzahlung gegen den Vermieter) dem Ermessen des Leistungsträgers überlassen bleibt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. April 2017 (Az.: L 9 AS 234/17 B ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Wird eine Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II von mehreren Personen bewohnt, sind die Aufwendungen im Regelfall unabhängig vom Alter und der Nutzungsintensität sowie davon, ob die betr. Personen Mitglieder einer (gemeinsamen) Bedarfsgemeinschaft sind, anteilig pro Kopf aufzuteilen.

2. Die nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu bildende Angemessenheitsgrenze ist anhand der Anzahl der Bewohner der Unterkunft zu bestimmen. Ohne Auswirkungen ist es hier, wenn einer der Bewohner keine Leistungen nach dem SGB II bezieht.

2.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 13. Senat, Urteil vom 03.05.2017 – L 13 AS 5/14

Grundsicherung für Arbeitsuchende – sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts – hinreichende Bestimmtheit des Verwaltungsakts – keine Heilungsmöglichkeit im Klageverfahren

Leitsatz (Juris)
Die fehlende hinreichende Bestimmtheit eines Verwaltungsakts, die nicht spätestens durch den Widerspruchsbescheid hergestellt worden ist, kann im Klageverfahren nicht geheilt werden (Anschluss an BSG vom 13.7.2006 – B 7a AL 24/05 R – und LSG Niedersachsen Bremen vom 10.8.2011 – L 15 AS 1036/09).

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.4 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 30.03.2017 – L 32 AS 2146/16 B PKH – rechtskräftig

Bundesfreiwilligendienst – Sozialversicherungspflicht – Beitragszahlung – Aufforderung zur Rentenantragstellung rechtswidrig

Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Verfahren, in welchem sich die Antragstellerin gegen den Bescheid und die damit erfolgte Aufforderung zur Rentenantragstellung wendet – sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Bundesfreiwilligendienst bejahend

Ausschluss einer Pflicht des Grundsicherungsberechtigten zur Beantragung einer Rente.

Leitsatz (Redakteur)
Die Erfüllung der Unbilligkeitstatbestände nach § 4 UnbilligkeitsVO schließt eine ermessengerechte Aufforderung zur Rentenantragstellung aus. Auf die Höhe des Einkommens kommt es nach dieser Regelung nicht an, sofern die Beschäftigung sozialversicherungspflichtig ist und sie den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Eine Beschäftigung von 21 Wochenstunden wie im Falle der Antragstellerin nimmt den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch. Ein Bundesfreiwilligendienst gegen ein Taschengeld von 200 EUR monatlich ist sozialversicherungspflichtig.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 20.04.2017 – L 32 AS 1945/15

Monatsweise Anrechnung von schwankendem Arbeitsentgelt

Leitsatz Juris)
Nach Verteilung eines Einmal-Zuflusses (hier: Steuererstattung) auf den Sechsmonatszeitraum keine fiktive Einkommensanrechnung, wenn Einkommen kein bereites Mittel im späteren Leistungsmonat ist, hier durch Tilgung des Konto-Solls.

Quelle: tinyurl.com

Rechtstipp:
Vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 12.03.2015 – L 3 AS 360/14 – Die Anrechnung von fiktivem Einkommen ist nicht zulässig, denn das Guthaben aus der Steuererstattung stand dem Antragsteller zu keinem Zeitpunkt im Verteilungszeitraum als bereites Mittel zur Verfügung. Eine als Einkommen zu berücksichtigende Steuererstattung ist dann – kein bereites Mittel zur Deckung des Lebensunterhaltes, wenn das Finanzamt die Auszahlung auf Wunsch des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen auf ein ihm nicht zugängliches Konto eines Dritten vorgenommen hat.

Hinweis:
Seit 01.08.2016 § 24 Abs. 4 SGB II: „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts können als Darlehen erbracht werden, […] Satz 1 gilt auch, soweit Leistungsberechtigte einmalige Einnahmen nach § 11 Absatz 3 Satz 4 vorzeitig verbraucht haben“.

2.6 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 12.04.2017 – L 11 AS 245/17 NZB

Nichtzulassungsbeschwerde wird als Berufung fortgeführt.

Leitsatz (Redakteur)
1. Streitig ist, ob die für das Sterbevierteljahr gezahlte Witwenrente in vollem Umfang als Einkommen auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß dem SGB II anzurechnen ist. Trotz anderslautender fachlicher Weisungen der Bundesagentur (11.84) hat der Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung bzw. wegen Abweichung des Sozialgerichts Nürnberg (SG) von der obergerichtlichen Rechtsprechung (hier Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.12.2012 – L 4 SO 340/12 B) erhoben.

2. Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II

3.1 – Sozialgericht Köln, Beschluss vom 28. April 2017 (Az.: S 25 AS 1170/17 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Zur Ableitung eines aufgrund des Schulbesuchs der minderjährigen Kinder einer bulgarischen Antragstellerin aus Art. 10 der Verordnung (EU) 492/2011 abgeleiteten Aufenthaltsrecht und zur Europarechtswidrigkeit der aktuell aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c) SGB II hervorgehenden Ausschlussnorm.

2. Das diesbezügliche Aufenthaltsrecht soll gerade nicht von einem Bestehen ausreichender Existenzmittel abhängig gemacht werden.

3. Dies gilt gerade dann, wenn sich der Schulbesuch der beiden Kinder seit vier Jahren bereits langjährig verfestigt hat, und wenn es bei der Mutter aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung eher unwahrscheinlich ist, dass sie zu einer Rückreise in ihr Heimatland überhaupt in der Lage ist.

3.2 – Sozialgericht Reutlingen, Beschluss vom 28. April 2017 (Az.: S 7 AS 770/17 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein nach § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II erlassener Eingliederungsverwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn er auch Sanktionsdrohungen an Verpflichtungen des Antragstellers knüpft, unzumutbare bzw. nicht hinreichend konkret bestimmter Obliegenheiten zu erfüllen, wie z. B. die Nutzung der „App-Jobbörse“ und nicht näher bezeichnete „Web-Sides“. Die Nutzung entsprechender IT-Techniken setzt eine spezielle Ausstattung sowie besondere Fachkenntnisse des Antragstellers voraus, was ein Jobcenter nicht undifferenziert voraussetzen kann.

3.3 – Sozialgericht Magdeburg, Urteil vom 5. April 2017 (Az.: S 16 AS 2544/13):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Selbst wenn es sich bei einer Zahlung von Mutterschaftsgeld nach § 24i SGB V um eine Leistung für zwei zurückliegende Monate gehandelt hat und wenn weitere entsprechende Zuwendungen nicht erfolgt sind, dann handelt es sich bei dieser Leistung um eine Zahlung laufender Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 2 SGB II.

2. Laufende Einkünfte sind solche, die auf demselben Rechtsgrund beruhen und regelmäßig erbracht werden.

3. Bei einmaligen Einnahmen im Sinne des § 11 Abs. 3 SGB II erschöpft sich das Geschehen in einer einzigen Leistung.

4. Mutterschaftsgeld stellt eine Leistung dar, die von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung regelmäßig monatlich zu erbringen ist.

5. Der hier jeweils eingehende Betrag ist in dem Monat bedarfsmindernd zu berücksichtigen, in dem die betr. Summe zufließt (§ 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

3.4 – Sozialgericht Bremen, Beschluss vom 10. März 2017 (Az.: S 41 AS 130/17 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Das Ziel von Meldeaufforderung (§ 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II) besteht nicht darin, über eine hohe Anzahl von Meldeversäumnissen den Anspruch der meldepflichtigen Personen auf Arbeitslosengeld II zu mindern oder gar zu beseitigen.

2. Es handelt sich bei den §§ 31 bis 32 SGB II nicht um Strafvorschriften, nach denen aufgrund eines bestimmten schuldhaften Verhaltens bestimmte Strafen „verhängt“ werden, sondern um die gesetzlichen Folgen von Obliegenheitsverletzungen, weil von den Jobcentern die Durchsetzung einer Meldeaufforderung nicht mit den Mitteln des Verwaltungszwangs vollstreckt werden darf.

3. Wenn das Jobcenter bereits beim Erlass eines auf § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II gestützten Minderungsbescheids davon auszugehen hatte, das das Ziel, das mit einem solchen Bescheid erreicht werden sollte – nämlich die Bewirkung der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – nicht (mehr) erreicht werden konnte, dann ist von einer Rechtswidrigkeit dieses Minderungsbescheids auszugehen.

3.5 – SG Landshut, Urt. v. 18.04.2017 – S 7 AS 465/1

Arbeitsloser Leistungsempfänger muss Bewerbung beweisen

Ein Leistungsempfänger muss beweisen, dass er sich auf eine vom Jobcenter vorgeschlagene Stelle beworben hat, ansonsten droht ihm eine Leistungskürzung des Arbeitslosengeldes.

Hinweis Gericht
Der Leistungsbezieher müsse den Zugang der Bewerbung sicherstellen und nachweisen. Dies sei etwa möglich durch den Versand der Bewerbung mittels Einwurf-Einschreiben oder durch telefonische Nachfrage beim potenziellen Arbeitgeber, ob die Bewerbung dort eingegangen sei. Der bloße Versand mit einfachem Brief sei dagegen nicht ausreichend.

Quelle: Pressemitteilung des SG Landshut v. 15.05.2017: www.juris.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urteil v. 30.03.2017 – L 4 SO 40/16

Leitsatz (Redakteur)
Antragsteller hat keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen im Alter nach dem 4. Kapitel des SGBX II, denn die Vermögensgrenze war überschritten. Angespartes Vermögen aus Sozialleistungen stellt keinen Härtefall nach § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 21.11.2014 – L 8 SO 5/14 – Auch Einkommen, das auf nicht verbrauchte Sozialhilfeleistungen zurückzuführen ist, muss nach dem Grundsatz des Nachrangs und der nur als ultima ratio gewährten Sozialhilfe (§ 2 SGB XII) für den aktuellen Lebensunterhalt eingesetzt werden.

4.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 05.04. 2017 – L 15 SO 353/16 B ER rechtskräftig

EU-Bürger – Leistungsausschluss – Fünfjahresfrist – Glaubhaftmachung

Leitsatz (Juris)
Bei dem fünfjährigen Aufenthalt gem. § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II im Bundesgebiet muss es sich nicht um einen erlaubten Aufenthalt handeln.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Asylrecht

5.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urteil v. 13.04.2017 – L 4 AY 4/16

Nach § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 SGB XII könnten Leistungen erst ab Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen gewährt werden.

Leitsatz (Redakteur)
1. Gemäß § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB XII setzen Leistungen nach dem AsylbLG erst dann ein, wenn dem Leistungsträger bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Für die Zeit vor Kenntniserlangung besteht damit kein Leistungsanspruch.

2. Kenntnis i.S.v. § 18 Abs. 1 SGB XII setzt die positive Kenntnis aller Tatsachen voraus, die den Leistungsträger in die Lage versetzen, die Leistung zu erbringen. Es ist nicht erforderlich, dass der Leistungsträger bereits Kenntnis der konkreten Höhe oder vom genauen Umfang der Leistung hat (vgl. BSG, Urteil vom 2.2.2012 – B 8 SO 5/10 R). Für das Einsetzen der Leistung genügt es, wenn er Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem hat, d.h. ihm erstens der Bedarf und zweitens die Hilfebedürftigkeit bekannt werden (vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.8.2014 – L 9 SO 28/14 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 18/10 R). Die Kenntnis muss sich auf den konkreten Einzelfall beziehen und wird nicht allein dadurch vermittelt, dass die Entstehung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs in bestimmten Situationen „üblich“ ist (vgl. LSG NRW aaO; Sächsisches LSG, Urteil vom 6.3.2013 – L 8 SO 4/10).

3. Die Kenntnis des Beklagten ist schließlich nicht im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu fingieren. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung, verletzt hat (zu den Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs BSG, Urteil vom 15.4.2008 – B 14 AS 27/07 R und Urteil vom 18.1.2011 – B 4 AS 99/10 R). Hier liegen keine Anhaltspunkte für eine solche Pflichtverletzung vor.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – OVG Lüneburg 8. Senat, Beschluss vom 04.04.2017, 8 PA 46/17

Ende der Fortgeltung der Wohnsitzauflage zu einer Aufenthaltserlaubnis gemäß AufenthG 2004 § 51 Abs 6)

Leitsatz (Juris)
Die zu einer Aufenthaltserlaubnis erteilte und nach Ablauf der Gültigkeitsdauer dieser Aufenthaltserlaubnis gemäß § 51 Abs. 6 AufenthG fortgeltende wohnsitzbeschränkende Auflage (Wohnsitzauflage) wird regelmäßig dadurch konkludent aufgehoben, dass eine nachfolgend verlängerte oder neu erteilte Aufenthaltserlaubnis erneut mit einer Wohnsitzauflage versehen wird.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

6.2 – „Unterrichtsbedingte Fahrten zu außerschulischen Lernorten“ seien keine Schulfahrten – rechtswidrig sagt das SG Hildesheim – Jobcenter muss Klassenfahrt zahlen

Das Jobcenter Northeim muss einer 19-jährigen Schülerin eine Klassenfahrt nach Barcelona bezahlen. Dazu hat das Sozialgericht Hildesheim die Northeimer Behörde verurteilt. Die Schülerin einer Gesamtschule hatte darauf geklagt, dass das Amt die Kosten in Höhe von 575 Euro übernimmt – und damit vor Gericht gewonnen.

weiter: www.goettinger-tageblatt.de

6.3 – Hartz-IV-Empfänger haben einem Zeitungsbericht zufolge gute Karten vor den Sozialgerichten.

Fast 40 Prozent der Klagen im Zusammenhang mit der Grundsicherungsleistung gingen 2016 entweder ganz oder teilweise zu ihren Gunsten aus, wie die „Saarbrücker Zeitung“ am Samstag unter Berufung auf Zahlen des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage von Linken-Chefin Katja Kipping berichtete. 2016 wurden demnach knapp 121.000 Klagen abschließend entschieden, davon 39,9 Prozent im Sinne der Leistungsempfänger. Dies entspricht dem Niveau des Vorjahres.

weiter: www.freenet.de

6.4 – Jobcenter müssen aushelfen – Immer mehr Hartz-IV-Bezieher nutzen Kredite

Das Hartz-IV-Geld reicht für viele Menschen in Deutschland kaum zum Leben. Für Anschaffungen wie Kleidung oder einen neuen Kühlschrank müssen sie deswegen ein Darlehen aufnehmen. Die Linke kritisiert diese Praxis scharf.

weiter: www.n-tv.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de