Tacheles Rechtsprechungsticker KW 38/2017

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 30.08.2017 – L 21 AS 743/17 B – rechtskräftig

Zur selbstbeschafften Erstausstattung der Wohnung gemäß § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 5 SGB II – Leistungen in Form einer Geldleistung statt der bewilligten Sachleistung,

Leitsatz (Redakteur)
1. Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf Gewährung dieser Leistungen in Form einer Geldleistung statt der bewilligten Sachleistung, insbesondere nicht auf Erstattung der Kosten, die ihm durch die seit Beantragung der Leistungen angeschafften Gegenstände in Höhe von 1.805,11 EUR entstanden sind.

2. Die Erstattungsleistungen in § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II können nach § 24 Abs. 3 S. 5,6 SGB II als Sach- oder Geldleistungen erbracht werden. Insofern besteht grundsätzlich nur ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Auswahlermessens bezüglich des “wie” und nicht auf eine bestimmte Art der Leistung. Ein Anspruch auf eine Geldleistung kommt nur im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null infrage (BSG Urteil vom 19.08.2010, B 14 AS 10/09 R).

3. Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ist vorliegend nicht gegeben.

4. Vielmehr hat der Beklagte sein Auswahlermessen ordnungsgemäß ausgeübt, indem er ausführt, dass er selbst Einrichtungsgegenstände in dem Sozialen Möbelservice Duisburg für die komplette Erstausstattung eines Einpersonenhaushalts (inkl. Hausratspaket) vorhält und hierfür einen Berechtigungsschein ausstellt, so dass diese dort als Sachleistung ausgegeben wird.

5. Ein Anspruch auf eine Geldleistung ist alternativ möglich bei einem Kostenerstattungsanspruch als Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens im Sozialrecht, wonach sich (bei Vorliegen der Voraussetzungen) ein Sachleistungsanspruch in einen auf Geld gerichteten Kostenerstattungsanspruch wandeln kann (BSG, a.a.O.).

6. Dies setzt jedoch voraus, dass der Leistungsträger vor der Selbstbeschaffung durch den Leistungsberechtigten mit dem Leistungsbegehren befasst war und sich bei einer umgehend zu deckenden Notsituation nicht rechtlich korrekt verhalten hat, sei es dass er die Leistung zu Unrecht abgelehnt oder nicht zeitnah darüber entschieden hat, hier verneinend, weil sich kein Hinweis bei der Beantragung auf die Erforderlichkeit einer besonders schnellen Entscheidung binnen weniger Tage sich ebenso wenig finden lässt, wie ein Hinweis darauf, dass beabsichtigt sei, diese Gegenstände in Kürze selbst anzuschaffen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 05.09.2017 – L 7 AS 1419/17 B ER, L 7 AS 1600/17 B rechtskräftig

Der Antragsteller begehrt Leistungen nach dem SGB II während der Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt (JVA), die zeitweise im offenen Vollzug durchgeführt wurde (hier verneinend).

Personen, die sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, sind auch dann nicht leistungsberechtigt, wenn sie als Freigänger einer Beschäftigung nachgehen.

Leitsatz (Redakteur)
1. Bei dem Aufenthalt in der JVA Aachen im geschlossenen Vollzug handelt es sich um einen Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, somit besteht kein Leistungsanspruch nach dem SGB II wegen § 7 Abs. 4 SGB II.

2. Auch für die Zeit ab Antragstellung, als sich der Antragsteller noch im offenen Vollzug befand, ist er gem. § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen.

3. Ein Aufenthalt in einer Einrichtung, hier der JVA, liegt auch vor, wenn die Strafhaft im offenen Vollzug erfolgte. Auch im offenen Vollzug ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II einschlägig (BSG Urteil vom 24.02.2011 – B 14 AS 81/09 R).

4. Insoweit unterscheidet sich die Strafhaft im offenen Vollzug von einer dauerhaften Beurlaubung aus dem Maßregelvollzug gem. § 18 Abs. 2 Nr. 2 MRVG NW (dazu Beschluss des Senats vom 02.03.2017 – L 7 AS 57/17 B ER).

5. Der Ausnahmetatbestand in § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II liegt nicht vor.

6. Zwar ist der Antragsteller unter den üblichen Arbeitsbedingungen mindestens 15 Stunden in der Woche erwerbstätig. Jedoch ist er nicht in einer “stationären Einrichtung” nach § 7 Abs. 4 Satz 1 untergebracht. Der Gesetzgeber hat mit der Änderung von § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II durch das Neunte Gesetz zur Änderung des SGB II – Rechtsvereinfachung (BGBl I, 1824) ab 01.08.2016 den Ausnahmetatbestand in § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II auf Einrichtungen nach Abs. 4 Satz 1 beschränkt, um entgegen der bis dahin vorherrschenden Rechtsprechung und Auffassung in der Literatur (vgl BSG Urteil vom 24.02.2011 – B 14 AS 81/09 R; Wolff-Dellen in Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl, § 7 Rn 45; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, 43. Erg-Lfg. K § 7 Rn 252) klarzustellen, dass Personen, die sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, auch dann nicht leistungsberechtigt sind, wenn sie als Freigänger einer Beschäftigung nachgehen (BT-Drs 18/8909 S. 29).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 21.08.2017 – L 19 AS 1577/17 B ER und L 19 AS 1578/17 B – rechtskräftig

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche – Unionsbürger – anderes Aufenthaltsrecht des sorgerechtsausübenden Elternteils von Kindern in Schulausbildung – Europarechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst c SGB II

Bewilligung von PKH, denn der Antragsteller verfügt aber über ein materielles Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) 492/11.

§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 c) SGB II verstößt gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV i.V.m. Art. 4 VO (EG) 883/2004, Art. 7 und 10 VO (EU) 492/11 (bejahend LSG NRW, Beschlüsse vom 12.07.2017 – L 12 AS 596/17 B ER und vom 01.08.2017 – L 6 AS 860/17 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.02.2017 – L 6 AS 11/17 B ER; Derksen, info also 6/2016; Devetzi/Janda, ZESAR 2017, 197; verneinend LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2017 – L 2 AS 127/17 B ER; siehe auch Stellungnahmen von Groth und Harich, zur Anhörung von Sachverständigen am 28.11.2016, Ausschussdrucksache 18(11)851).

Leitsatz (Redakteur)
1. Soweit und solange die regelmäßig minderjährigen Kinder eines Arbeitnehmers oder ehemaligen Arbeitnehmers für die Wahrnehmung ihrer Ausbildungsrechte aus Art. 10 VO (EU) 492/11 weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge des Elternteils bedürfen, um ihre Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können, besteht darüber hinaus in gleicher Weise für die Eltern bzw. den Elternteil, die bzw. der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt aus Art 10 VO (EU) 492/11.

2. Der Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II (in der Fassung seit dem 29. Dezember 2016) dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit europarechtswidrig sein, da dieser nicht durch eine rechtfertigende gemeinschaftsrechtliche Schrankenregelung, insbesondere nicht Art. 24 Abs. 2 RL 38/2004/EG, gedeckt sein dürfte.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 16.08.2017 – L 19 AS 1429/17 B ER/ L 19 AS 1430/17 B ER – rechtskräftig

Bewilligung von PKH, denn bei der Frage, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 c SGB II europarechtskonform ist, handelt es sich um eine schwierige, ungeklärte Rechtsfrage (einerseits LSG NRW, Beschlüsse vom 12.07.2017 – L 12 AS 596/17 B ER und vom 01.08.2017 – L 6 AS 860/17 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.02.2017 – L 6 AS 11/17 B ER; andererseits LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2017 – L 2 AS 127/17 B ER).

Durch den Wegzug des Ehemannes in die Slowakei ist der Leistungsanspruch der Antragstellerin wegen des Eingreifens des Leistungssauschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht entfallen.

Leitsatz (Redakteur)
1. Aufgrund des Wegzuges des Ehemannes ist der Leistungsanspruch der Antragstellerin wegen des Eingreifens des Leistungssauschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht entfallen. Vielmehr stellt der mit dem Wegzug des Ehemannes zusammenhängende Wegfall des Zuflusses von Alg I und die damit verbundene erhöhte Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S.v. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB II zu ihren Gunsten dar. Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II liegen nicht vor.

2. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 a) SGB II erfasst die Antragstellerin nicht, weil sie über ein (materielles) Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 4 FreizügG/EU verfügt. Diese Ausschlussregelung erfordert eine fiktive Prüfung des Grundes bzw. der Gründe für eine im streitigen Leistungszeitraum bestehende Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU, welches die Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern in nationales Recht umsetzt, darüber hinaus, ob ein Aufenthaltsrecht nach den gemäß § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU im Wege eines Günstigkeitsvergleichs anwendbaren Regelungen des AufenthG (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R) besteht.

3. Durch § 3 Abs.4 FreizügG/EU wurde das – seiner Rechtsquelle nach umsetzungsbedürftige – sich aus Artikel 12 Abs. 3 RL 2004/38/EG ergebende Freizügigkeitsrecht von Familienangehörigen eines Unionsbürgers kodifiziert (BT-Drs. 16/5065 S. 210; BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 43/15 R; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. 04.2016 – L 2 AS 37/16 B ER -; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.08.2016 – L 3 AS 376/16 B ER). Nach Art. 12 Abs. 3 RL 2004/38/EG führen der Wegzug des freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für sie tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind. Damit wurzelt das Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 4 FreizügG/EU nicht in Art 10 VO (EU) 492/11 sondern im Aufenthaltsrecht aus der Unionsbürgerrichtlinie.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.08.2017 – L 2 AS 891/17 B – rechtskräftig

Keine PKH wegen Ermittlungen aufgrund unrichtiger Angaben

Leitsatz (Redakteur)
1. Aus dem Grundsatz, dass eine objektiv erforderliche Beweisaufnahme einen Anspruch auf PKH begründet, folgt allerdings nicht, dass das Gericht in jedem Fall, in dem es Ermittlungen von Amts wegen durchführt, auch PKH zu gewähren hat. Wenn ein günstiges Ergebnis für den Antragsteller unwahrscheinlich oder die Erfolgschance nur eine entfernte ist, können die Erfolgsaussichten auch bei einer Beweiserhebung von Amts wegen verneint werden.

2. Entsprechendes gilt für den Fall, dass eine Beweisaufnahme bei rückschauender Betrachtung allein deswegen veranlasst worden ist, weil der PKH begehrende Beteiligte und sein Prozessbevollmächtigter unzutreffende oder rein ins Blaue gerichtete Angaben gemacht haben und die Ermittlungen nur dazu erforderlich waren, die Unrichtigkeit des Vortrags zu belegen. Würde man dies anders sehen, könnte sich ein Beteiligter durch das Aufstellen unrichtiger Behauptungen PKH verschaffen, die ihm tatsächlich wegen fehlender Erfolgsaussichten nicht zustehen würde (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01.07.2014 – L 15 SB 33/14).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – SG Speyer, Beschluss v. 17.08.2017 – S 16 AS 908/17 ER

Europarechtswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung

Leitsatz (Juris)
1. Die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG (Anschluss an SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 -).

2. Der von den Ausschlusstatbeständen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Die eingefügten Sonder- und Härtefallregelungen des § 23 Abs. 3 SGB XII und § 23 Abs. 3a SGB XII in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung können den Verfassungsverstoß nicht kompensieren, da sie dem verfassungsrechtlichen Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen hinreichend bestimmt selbst zu treffen (SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 12.12.2014 – S 3 AS 130/14 -, Rn. 252 ff.) nicht genügen.

3. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müssten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.1992 – 1 BvR 1028/91 -, Rn. 29).
Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II sind erfüllt, wenn die für die Leistungsbewilligung entscheidungserhebliche Vorschrift insofern einen Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG bildet, dass sie im Falle der Nichtigkeitserklärung der im engeren Sinne verfahrensgegenständlichen Vorschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit nach § 78 Satz 2 BVerfGG gleichfalls für nichtig erklärt wird. Der unter dem Aktenzeichen 1 BvL 4/16 anhängige Vorlagebeschlusses des SG Mainz vom 18.04.2016 (S 3 AS 149/16) ermöglicht die vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II deshalb auch in Fällen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung.

4. Das dem Leistungsträger grundsätzlich eingeräumte Ermessen, ob nach § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II vorläufig Leistungen zu erbringen sind, ist im Fall einer drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Ausschluss von unterhaltssichernden Leistungen auf Null reduziert (entgegen LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.05.2017 – L 11 AS 247/17 B ER -, Rn. 24).

5. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) (Anschluss an SG Mainz, Beschluss vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER -, Rn. 41 ff.; SG Mainz, Vorlagebeschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 -, Rn. 381 ff.; entgegen EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

6. Die Ausschlussregelungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) und b) SGB II sind nicht bereits deshalb als mit Art. 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.09.2015 (C-67/14) ausgesprochen hat.

Quelle: www.landesrecht.rlp.de

2.2 – SG Dortmund, Urt. v. 14.08.2017 – S 60 AS 1326/14

Leitsätze Rechtsanwalt Lars Schulte-Bräucker
Zur Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft nach einer unwirksamen Mieterhöhung; § 22 I 1 SGB II enthält keine Beschränkung der zu übernehmenden Kosten, die bereits bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu zahlen waren; Verpflichtung des SGB II-Trägers zur Übernahme der tatsächlichen Aufwendungen, sofern die Miete tatsächlich gezahlt wird; Notwendige Kostensenkungsaufforderung des SGB II-Trägers bei einer unwirksamen zivilrechtlichen Vereinbarung.

Quelle: fs5.directupload.net

2.3 – Sozialgericht Hamburg, Urt. v. 02.12.2015 – S 22 AS 3883/10 – bestätigt durch Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 23.02.2017 – L 4 AS 277/16

Zur Anrechnung einer geerbten Schadenersatzforderung.

Leitsatz (Redakteur)
1. Der durch einen Erbfall entstandene wertmäßige Zuwachs stellt Einkommen dar, wenn der Erbfall während des laufenden und ununterbrochenen Leistungsbezugs nach dem SGB II eingetreten ist (vgl. BSG, Urteil v. 25.01.2012, B 14 AS 101/11 R).

2. Der Erhalt der Zahlung ist ein auf dem Erbfall beruhender wertmäßiger Zuwachs. Die gegen das vormals behandelnde Krankenhaus gerichtete Schadenersatzforderung der Mutter des Klägers gehörte zur Erbmasse. Eine Berücksichtigung als Einkommen ist auch nicht für den Teil der Zahlung ausgeschlossen, der auf einem Schmerzensgeldanspruch der Mutter beruhte. Die Privilegierung von Zahlungen aus Schmerzensgeldansprüchen gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II a.F. greift nicht ein, da sie nur für Geschädigte selbst, nicht jedoch für deren Rechtsnachfolger greift (vgl. Geiger, LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 11a Rn. 5 m.w.N.).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 10.08.2017 – L 7 SO 2293/16

Leitsatz (Juris)
1. Ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung für einen Kostenersatz nach § 102 SGB XII ist, dass die Sozialhilfeleistungen rechtmäßig erbracht worden sind. Ein möglicherweise erfolgter Übergang von Ansprüchen des Sozialhilfeempfängers auf Schadensersatz gem. § 116 SGB X auf den Sozialhilfeträger hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung durch den Sozialhilfeträger.

2. Dem gesetzlichen Forderungsübergang nach § 116 SGB X kommt grundsätzlich kein Vorrang gegenüber der Inanspruchnahme des Erben nach § 102 SGB XII zu.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Gießen, Urt. v. 25.07.2017 – S 18 SO 160/16

Bestattungsvorsorgeverträge können Vermögensschutz unterfallen

Das SG Gießen hat entschieden, dass die angemessene finanzielle Vorsorge für den Todesfall dem Vermögensschutz des § 90 Absatz 3 SGB XII unterliegt und einer Bezieherin von Hilfe zur Pflege die Mittel zu belassen sind, die sie für eine angemessene Bestattung zurückgelegt hat.

Nach Auffassung des Sozialgerichts wird das Anliegen von Menschen, bereits zu Lebzeiten für die Zeit nach dem Tod vorzusorgen, hinsichtlich der Art und Weise der Bestattung durch Bestattungsvorsorgeverträge ermöglicht. Es sei mittlerweile hinreichend anerkannt, dass die Verwertung eines angemessenen Vermögens, das der Bestattungsvorsorge diene, als unzumutbare Härte anzusehen sei. Der Gesetzgeber habe deshalb eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für nicht erforderlich gehalten. Bestattungsvorsorgeverträge seien dann nach § 90 Abs. 3 SGB XII geschützt, wenn sie angemessen seien. Hinsichtlich der Bestattungsvorsorgeverträge sei zur Bestimmung der Angemessenheit die örtlichen Preise für eine Bestattung und die Beurteilung der Wünsche des Vorsorgenden entscheidend. Die Angemessenheit habe sich nach der Besonderheit des Einzelfalles zu orientieren (§ 9 SGB XII), insbesondere unter Berücksichtigung der persönlichen und örtlichen Verhältnisse sowie nachvollziehbare Wünsche. Zur Bestimmung der Angemessenheit einer Bestattungsvorsorge sei zunächst auf die Kosten abzustellen, die die örtlich zuständige Behörde als erforderliche Kosten der Bestattung nach § 74 SGB XII zu übernehmen habe. Dieser Grundbetrag sei bis zur Grenze der Angemessenheit zu erhöhen. Hierbei dienten die Kosten einer durchschnittlichen Bestattung als Richtschnur. Bereits die Kosten für eine einfache Bestattung beliefen sich im Bundesdurchschnitt auf ca. 5.000 Euro. Die Festlegung eines Betrages sei vor dem Hintergrund der an dem Einzelfall orientierten Definition des Begriffs der Angemessenheit, die auch die konkreten Friedhofsgebühren berücksichtigen müsse, kaum möglich, liege jedoch keinesfalls unter 5.000 Euro.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen v. 14.09.2017: www.juris.de und sg-giessen-justiz.hessen.de

5.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Asylrecht

5.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Urteil v. 18.07.2017 – L 8 AY 18/15

Keine Gewährung eines pauschalen Mehrbedarfes wegen Alleinerziehung für Asylbewerber

Leitsatz (Redakteur)
Nach § 1 Abs. 1 AsylbLG haben Leistungsberechtigte wegen Fehlens einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage keinen Anspruch auf einen pauschalen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung. Mangels Regelungslücke kann ein solcher Anspruch auch nicht aus einer analogen Anwendung von § 30 Abs. 3 SGB XII hergeleitet werden.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Im Ergebnis ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 18.12.2014 – L 20 AY 76/14 B ER, L 20 AY 77/14 B ER und LSG Nordrhein-Westfalen, 29.08.2016 – L 20 AY 54/16 B ER sowie Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.11.2014 – L 8 AY 57/14 B ER und im Schrifttum Ferichs in Schlegel/Voelzke, juris-PK- SGB XII, Stand 22.05.2017, § 6 AsylbLG, Rn. 53.1

Dazu Leitsätze aus Juris:
1 Die Differenzierung in §§ 2 und 3 AsylbLG, wonach in den ersten 15 Monaten des Aufenthalts in Deutschland primär Sachleistungen und ab dem 16. Monat Geldleistungen gewährt werden, ist verfassungskonform. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein ergänzender Rückgriff auf pauschale Leistungen nach dem SGB XII hat der Gesetzgeber nach § 9 Abs. 1 AsylbLG unmissverständlich für die Dauer des Bezugs von Leistungen nach § 3 AsylbLG ausgeschlossen; eine analoge Anwendung von § 30 Abs. 3 SGB XII scheidet daher während des Bezugs von Leistungen nach § 3 AsylbLG aus. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein dennoch bestehender Bedarf der alleinerziehenden Leistungsempfänger nach dem AsylbLG kann in dem Zeitraum während des Bezugs von Leistungen nach § 3 AsylbLG bei konkreter Darlegung über § 6 AsylbLG konkret-individuell mittels Sachleistungen gedeckt werden. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
4 Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, gebietet nicht, dass Mehrbedarfsleistungen entsprechend dem SGB XII gewährt werden. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Pressemitteilung 43/2017 vom 12. September 2017 – Keine Sperrzeit nach Altersteilzeit

Der 11. Senat hat entschieden (Aktenzeichen B 11 AL 25/16 R), dass eine Sperrzeit nicht eintritt, wenn eine Arbeitnehmerin am Ende der Altersteilzeit entgegen ihrer ursprünglichen Planung nicht sofort Altersrente in Anspruch nimmt, sondern zunächst Arbeitslosengeld beantragt, weil sie – bedingt durch eine Gesetzesänderung – zu einem späteren Zeitpunkt abschlagsfrei in Rente gehen kann.

Quelle: www.bsg.bund.de

6.2 – Anmerkung zu: BSG 14. Senat, Urteil vom 01.12.2016 – B 14 AS 21/15 R – Autor: Dr. Andy Groth, RiLSG

Verfassungsfragen beim Mehrbedarf für werdende Mütter

Leitsatz
Die Berechnung des Mehrbedarfs für werdende Mütter ausgehend von dem für die Schwangere persönlich maßgebenden Regelbedarf ist verfassungsgemäß.

Quelle: www.juris.de

6.3 – Sozialgericht Hamburg vom 14.09.2017 – S 55 R 901/17 ER

Leitsatz RA Michael Loewy
1. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid besitzen aufschiebende Wirkung. Missachtet die Verwaltung dies, kommt einstweiliger Rechtsschutz in analoger Anwendung von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG in Betracht.

2. Hierbei stellt ein „vorläufiger Einbehalt“ bis auf weiteres der Leistung eine unzulässige faktische Vollziehung dar, da der Begriff der Vollziehung so zu verstehen ist, dass die Verwaltung während des Schwebezustandes keine Maßnahmen anordnen oder vollziehen darf, die den durch den Veraltungsakt Betroffenen belasten können.

Quelle: www.anwaltskanzlei-loewy.de

Dazu RA Michael Loewy:
Die Entscheidung ist zwar zum Rentenrecht ergangen, betrifft aber das Verfahrens- und Prozessrecht (aufschiebende Wirkung einer Klage und Widerspruch und den Rechtsschutz bei Missachtung derselben) ist daher auf das Recht der Grundsicherung übertragbar.

Gilt das denn auch für den § 39 SGB II n. F.?
Dazu RA M. Loewy:
Bezüglich der Neufassung des § 39 SGB II hat lediglich die Klage und Widerspruch gegen einen Erstattungsbescheid des Jobcenters aufschiebende Wirkung (Conradis in LPK-SGB II, § 39 SGB II, Rdn. 11). Dieser darf weiterhin nicht vollzogen werden, solange er nicht rechtskräftig geworden ist. Insoweit sind die Ausführungen des SG HH übertragbar. Der Widerspruch bzw. die Klage gegen einen Aufhebungsbescheid hat nach § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung mehr.

Hierzu auch ganz instruktiv die vom SG HH zitierte Entscheidung des LSG Sachsen vom 31.08.2016 – L 3 AS 633/16 B ER: dejure.org

6.4 – Entschädigungsrecht oder eine zunehmend durchgeknallte Rechtsprechung, ein Beitrag von Herbert Masslau

Es gibt keine einheitliche Rechtsprechung hinsichtlich des Entschädigungsrechtes wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG).

weiter: www.herbertmasslau.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de