Tacheles Rechtsprechungsticker KW 45/2017

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 04.09.2017 – L 2 AS 397/17 B ER – rechtskräftig

Leitsatz (Redakteur)
1. § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X vermittelt der Antragstellerin einen materiell-rechtlichen Anspruch gegenüber dem Antragsgegner als vormals örtlich zuständiger Behörde (vgl. Landessozial-gericht (LSG) Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. Januar 2015 – L 4 AS 969/13 NZB – juris, Rn. 23), gerichtet auf die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II über den Zeitpunkt ihres Wegzugs aus dem örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners hinaus, wenn auch nicht in dem von ihr geltend gemachten Umfang.

2. Denn zieht der SGB II-Leistungsempfänger aus seiner Wohnung im örtlichen Zuständigkeitsbereich einer Behörde aus, verliert er damit automatisch seinen Anspruch auf Leistungen für diese nicht mehr genutzte Wohnung nach dem § 22 SGB II, weil ein entsprechender Bedarf nicht mehr zu berücksichtigen ist (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. Januar 2015 – L 4 AS 969/13 NZB).

Leitsatz (Juris)
1. Für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage gegen einen Aufhebungsbescheid, der wegen des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit erlassen worden ist und der jedenfalls auch die von § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II erfassten Leistungen betrifft, ist das Rechtsschutzbedürfnis nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem nach dem Umzug örtlich zuständigen Jobcenter gestellt werden könnte.

2. Die Nahtlosigkeitsregelung des § 2 Abs 3 SGB X vermittelt dem Leistungsberechtigten nach dem SGB II einen materiell-rechtlichen Anspruch gegenüber dem vor einem Umzug örtlich zuständigen Jobcenter für die von § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II erfassten Leistungen.

3. Demgegenüber besteht auch nach § 2 Abs 3 SGB X keine fortgesetzte Pflicht zur Erbringung von Leistungen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 13.09.2017 – L 5 AS 603/15 ZVW – rechtskräftig

Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung – öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch

Leitsatz (Juris)
1. Bei einer Arbeitsgelegenheit besteht ein Anspruch auf Mehraufwandsentschädigung nur für einen tatsächlich angefallenen Mehraufwand. Ein solcher kann ausnahmsweise auch für Zeiträume anzunehmen sein, in denen z.B. aufgrund von Krankheit keine Arbeit verrichtet wird. Das setzt voraus, dass ein bereits vor der Krankheit angefallener Aufwand fortwirkt, etwa in Form von Kosten einer bereits angeschafften Zeitfahrkarte (Anschluss an LSG Sachsen-Anhalt, Urt v 24. Mai 2012 – L 2 AS 397/10).

2. Eine Klageerweiterung im Berufungsverfahren setzt eine zulässige Berufung voraus. Die Klageänderung darf nicht dazu führen, dass der Klagegegenstand völlig ausgetauscht wird und die Berufung nur noch den neuen Anspruch betrifft (vgl BGH, Urt v 11. Oktober 2000 – VIII ZR 321/99).

3. Rechtsgrund für die im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit erbrachte Arbeitsleistung kann eine Eingliederungsvereinbarung oder ein Verwaltungsakt sein, nicht aber eine Vereinbarung zwischen dem Leistungsbezieher und dem Maßnahmeträger.

4. Die Arbeitsleistung im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit stellt jedenfalls dann eine Mehrung fremden Vermögens dar, wenn es an der Voraussetzung der Zusätzlichkeit fehlt (vgl BSG, Urt v 13. April 2011 – B 14 AS 98/10 R; Urt v 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R). Daran fehlt es, wenn vorrangiges Ziel der Maßnahme die Förderung des Leistungsbeziehers ist und das Arbeitsergebnis nur ein “Abfallprodukt” darstellt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 05.09.2017 – L 4 AS 747/16 B – rechtskräftig

Leitsatz (Juris)
1. Bei vorläufigen Bewilligungsbescheiden hat der Leistungsbezieher vorrangig das Verfahren auf endgültige Festsetzung zu betreiben. Für ein sog Zugunstenverfahren gemäß § 44 SGB X besteht regelmäßig kein Rechtsschutzbedürfnis.

2. Bescheide, die im Rahmen der endgültigen Festsetzung der Leistungen erlassen werden, sind nicht über § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens über einen Streit der Beteiligten zu einem sog Zugunstenverfahren.

3. Hinreichende Erfolgsaussichten für eine PKH-Bewilligung sind zu bejahen, wenn es in der Hauptsache auf eine schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfrage ankommt. Eine solche Rechtsfrage stellt sich im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Verfallfrist des § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X, wenn die Überprüfung endgültiger Festsetzungs- und Erstattungsbescheide im sog Zugunstenverfahren begehrt wird.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – SG Schleswig, Beschluss vom 11.05.2017, S 2 AS 57/17 ER

Keine vorläufige Minderung von ALG II bei möglicher Sperrzeit, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

Prüft die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsplatzaufgabe ohne „wichtigen Grund“ und beantragt der Arbeitslose deswegen zunächst ALG II, darf das Jobcenter Leistungen nach dem SGB II nicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II über § 41 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Begründung vorläufig um 30 % mindern, es bestehe die Möglichkeit, dass der Arbeitslose bei vollem ALG I nicht hilfebedürftig sein könnte und bei einem Anspruch auf ergänzendes ALG II (zum ALG I) die Anspruchshöhe noch nicht klar sei.

weiter: sozialberatung-kiel.de

2.2 – Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 12. Oktober 2017 (Az.: S 186 AS 11916/17 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Ein nach § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II erlassener Eingliederungsverwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn aus dieser Verfügung keine Gültigkeitsdauer hervorgeht.
Es ist geboten, die Geltungsdauer eines Eingliederungsverwaltungsakts zeitlich zu begrenzen.
Ein entsprechender Verwaltungsakt ist inhaltlich nicht hinreichend bestimmt genug (§ 33 Abs. 1 SGB X), wenn bei fehlenden Angaben über den Gültigkeitszeitraum für den Antragsteller in keiner Weise klar ist, für welchen Zeitraum er an die ihm gegenüber dort im Einzelnen verfügten Mitwirkungsobliegenheiten (z. B. eine Teilnahme am JobCoaching) gebunden ist.
2. Der Sinn und Zweck des § 15 Abs. 3 Satz 1 SGB II, die regelmäßige Überprüfung der jeweiligen Eingliederungshilfemaßnahmen und der hieraus resultierenden Pflichten der Beteiligten zu erreichen, kann bei einer Ersetzung einer Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs. 1 SGB II) durch einen gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II erlassenen Verwaltungsakt nur dann erreicht werden, wenn die Gültigkeitsdauer dieser speziellen Verfügung von vornherein zeitlich befristet ist.

2.3 – Sozialgericht Berlin, Urt. v. 25.09.2017 – S 179 AS 6737/17 – Die Sprungrevision wird zugelassen.

(Grundsicherung für Arbeitsuchende – abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche – Anwendbarkeit des § 41a SGB 2 auf vor dem 1.8.2016 beendete Bewilligungszeiträume – Verpflichtung zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen – angemessene Fristsetzung – ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung – Berücksichtigung von Einkommensangaben im Widerspruchsverfahren)

Leitsatz (Juris)
1. § 41 SGB II findet auf die Bewilligungzeiträume, die vor dem 1. August 2016 bereits beendet waren, keine Anwendung.

2. Die Länge der nach § 41a Abs. 3 S.3 SGB II zu setzenden Frist bemisst sich nach den Einzelfallumständen. Eine Mindestfrist von 2 Monaten gilt nicht (entgegen SG Augsburg, Urteil vom 3. Juli 2017 – S 8 AS 400/17).

3. Die Rechtsfolgenbelehrung nach § 41a Abs. 3 S.3 SGB II muss auch die Angabe enthalten, dass die Nichteinreichung von Unterlagen die vollständige Rückzahlung der vorläufig bewilligten Leistungen zur Folge haben wird.

4. § 41a Abs. 3 S. 3 SGB II enthält keine Präklusionsvorschrift. Einkommensangaben der Leistungsberechtigten erst im Widerspruchsverfahren sind bei der endgültigen Festsetzung des Leistungsanspruchs zu berücksichtigen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
a. A. SG Augsburg, 03.07.2017 – S 8 AS 400/17 – Zurückverweisung an das Jobcenter wegen unzureichender Fristsetzung und Belehrung vor der abschließenden Leistungsfestsetzung

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – Sächsisches Landessozialgericht, Urt. v. 21.06.2017 – L 8 SO 15/16 – Die Revision wird zugelassen.

Denn das der Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage dienende Revisionsverfahren gegen das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18.05.2015 – L 20 SO 355/13 – hat sich wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Todes des dortigen Leistungsempfängers ohne Sachentscheidung erledigt (vgl. Terminsbericht des BSG Nr. 5/17 vom 09.03.2017 zum Verfahren B 8 SO 16/15 R).

Zum Zuschuss für die Erneuerung seines Reisepasses (ALG II- Empfänger) – § 73 SGB XII

Leitsatz (Redakteur)
1. Das SGB XII enthält keine Anspruchsgrundlage für eine zuschussweise Übernahme seiner Passbeschaffungskosten durch den zuständigen – hier örtlichen Träger der Sozialhilfe. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht als “Hilfe in sonstigen Lebenslagen” aus § 73 Satz 1 SGB XII.

2. Die Größenordnung dieser Belastung ist so gering, dass der Kläger auf eine Deckung aus dem individuell einsetzbaren Ansparanteil der Regelleistung verwiesen werden kann. d) Der Senat setzt sich insoweit auch nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 15.10.2014 – L 8 SO 99/12 – (nicht veröffentlicht), auf das sich der Kläger stützt. Denn diese Entscheidung ist noch zur früheren, bis zum 31.12.2010 geltenden Rechtslage ergangen. Seinerzeit waren Gebühren für die Beschaffung eines Ausweispapiers noch nicht in die Bemessung des Regelsatzes eingeflossen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13.06.2017 – L 7 AS 1794/15 – Die Revision wird zugelassen.

1. Die Kosten für die Neubeschaffung eines Reisepasses sind grundsätzlich als Zuschuss oder als Darlehen gemäß § 73 SGB XII zu übernehmen, weil in der Regelleistung nur die Kosten für einen Personalausweis enthalten sind.

Und Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen 8. Senat, Urteil vom 27.04.2017 – L 8 SO 234/16 – Revision zugelassen

1. § 73 SGB XII ermöglicht die Übernahme von Kosten, die Ausländern wegen der Passbeschaffung oder -verlängerung entstehen. Dies gilt auch für die Zeit nach Inkrafttreten des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) zum 1. Januar 2011 (BGBl. I 2011, 453).

2. Der Sozialhilfeträger muss eine Ermessensentscheidung nach § 73 SGB XII über die Art und Weise der Hilfegewährung (Darlehen oder Beihilfe) auch dann treffen, wenn ein Pass zwingend benötigt wird (Auswahlermessen).

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Berlin, Beschluss vom 24.10.2017- S 146 SO 1475/17 ER (noch nicht rechtskräftig)

Wieder einmal: Kein Wohngeld statt Grundsicherung
Auch in einem weiteren Verfahren hat das SG Berlin die Rechtsansicht bestätigt, dass keine Verpflichtung besteht, dass wenn man auch einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII (Grundsicherung / Sozialhilfe) hat, Wohngeld in Anspruch genommen werden muss.

Das SG folgt insofern der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (siehe: „Wahlpflicht“ zwischen Grundsicherung und Wohngeld oder: Müssen Armutsrentner noch ärmer werden?)

weiter: www.ra-fuesslein.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Asylrecht

5.1 – Sozialgericht Lüneburg, Beschluss v. 03.05.2017 – S 26 AY 8/17 ER

Leitsatz (Juris)
Streitigkeiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Es bestehen Zweifel, ob bei Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 4 AsylbLG das verfassungsrechtliche Existenzminimum noch gewährleistet ist. Im einstweiligen Rechtsschutz sind existenzsichernde Leistungen in vollem Umfang jedenfalls dann zu gewähren, wenn die Abschiebung in einen anderen EU-Staat (hier: Bulgarien) wegen einer dort drohenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK nicht möglich ist.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
vgl. Sozialgericht Lüneburg, Beschluss vom 12. September 2017 (Az.: S 26 AY 35/17 ER)

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Höhere Regelbedarfe in Grundsicherung und Sozialhilfe

Der Bundesrat hat am 03.11.2017 einer Regierungsverordnung zur Fortschreibung der Hartz-IV-Sätze zugestimmt.
Damit steigt ab Januar 2018 der Hartz-IV-Regelsatz für Einpersonenhaushalte von derzeit 409 auf 416 Euro. Für Paare erhöht sich der Satz pro Person um 6 Euro. Kleinkinder erhalten monatlich drei, Kinder und Jugendliche fünf Euro mehr als bisher. Die Fortschreibung erfolgt auf Basis eines Mischindexes aus regelbedarfsrelevanten Preisen und der Nettolohn- und -gehaltsentwicklung je Arbeitnehmer. Sie lässt Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung und Sozialhilfe an der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung teilhaben.
Mit der Zustimmung des Bundesrates kann die Verordnung nun im Bundesgesetzblatt verkündet werden und wie geplant zum 01.01.2018 in Kraft treten.

weiter: www.juris.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker, www.tacheles-sozialhilfe.de