Sozialgericht Kassel – Urteil vom 20.11.2017 – Az.: S 3 AS 191/16


URTEIL

In dem Rechtsstreit

1. xxx,
2. xxx,
vertreten durch
xxx,
Kläger,

Prozessbevollm.:
zu 1-2: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Jobcenter Werra-Meißner vertreten durch den/die Geschäftsführer/in, Fuldaer Straße 6, 37269 Eschwege
Beklagter,

hat die 3. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2017 durch den Vorsitzenden, Direktor des Sozialgerichts xxx sowie die ehrenamtliche Richterin xxx und den ehrenamtlichen Richter xxx für Recht erkannt:

Der Bescheid vom 8. Dezember 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Bescheid vom 23. Juni 2015 insoweit aufzuheben, als er die Rückzahlung des Darlehensbetrages von 560,30 € im Wege der Aufrechnung eines monatlichen Betrages i.H.v. 39,90 € ab 1. Juli 2015 begehrt.

Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

TATBESTAND
Die Beteiligten streiten im Wege Überprüfungsverfahrens über die tilgungsfreie Auszahlung eines Mietkautionsdarlehens.

Die am xxx 1989 geborene Klägerin zu 1) und der am xxx 2010 geborene Kläger zu 2) zogen zum 1. Juli 2015 wegen der Trennung von ihrem bisherigen Partner und Vater nach xxx. Am 8. Juni 2015 beantragten sie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese wurde ihnen durch Bescheid vom 17. Juni 2015 in vorläufiger Höhe für einen Bewilligungszeitraum von Juli bis Dezember 2015 bewilligt.

Am 18. Juni 2015 schlossen die Parteien einen Darlehens- und Abtretungsvertrag, in dem sich der Beklagte verpflichtete ein Darlehen nach § 22 Abs. 3 S. 3 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) in Höhe von 566,30 € zu gewähren und die Antragsteller sich verpflichtete, dieses Darlehen in Höhe von monatlich 39,90 € ab dem 1. Juli 2015 zu tilgen. Mit Bescheid vom 23. Juni 2015 führte der Beklagte diesen Vertrag aus und rechnete den Tilgungsbetrag in Höhe von 39,90 € ab 1. Juli 2015 monatlich gegen die laufenden Leistungen auf. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Am 29. Juli 2015 beantragten die Kläger die Überprüfung dieses Bescheides.

Am 5. September 2015 beantragte die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung und führte zur Begründung aus, ein Anordnungsanspruch sei gegeben, da das Bundessozialgericht rechtliche Bedenken gegen die laufende Tilgung von Mietkautionsdarlehen äußert. Durch Beschluss vom 23. September 2015 verpflichtete das Sozialgericht Kassel den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Überprüfungsverfahrens die monatliche Aufrechnung des Mietkautionsdarlehens i.H.v. 10 % der Regelleistung auszusetzen und den für den Monat September 2015 aufgerechneten Betrag an die Antragsteller auszuzahlen (S 3 AS 174/15 ER).

Durch Bescheid vom 8. Dezember 2015 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag mit der Begründung ab, er habe bei Erlass des Ursprungsbescheides das Recht nicht unrichtig angewandt und sei auch nicht von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen.

Den hiergegen am 9. Dezember 2015 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2016 zurück. Zur Begründung führte er aus, ein Ermessen sei ihm hinsichtlich der Umsetzung der Tilgung nicht eingeräumt. Ein Absehen von der Umsetzung der Rückzahlung des Darlehens sei dem Grundsicherungsträger durch den Gesetzgeber nicht erlaubt. Die in dem angegriffenen Bescheid verfügte Aufrechnung entspreche geltendem Recht und dem Willen des Gesetzgebers und sei insoweit nicht zu beanstanden

Hiergegen richtet sich die am 24. März 2016 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage. Zur Begründung der Klage verweisen die Kläger insbesondere auf die Entscheidung des Sozialgerichts Kassel vom 23. September 2015.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid vom 8. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 23. Juni 2015 insoweit aufzuheben, als der Beklagte die Rückzahlung des Darlehensbetrages von 566,30 € im Wege der Aufrechnung eines monatlichen Betrages i.H.v. 39,90 € ab dem 1. Juli 2015 begehrt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Berufung zuzulassen.

Zur Begründung seiner Klage beruft sich der Beklagte auf die Ausführungen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens. Ergänzend führt er unter Bezug auf Ausführungen in der Rechtsprechung aus, dass er nach Gewährung eines Mietkautionsdarlehens zwingend verpflichtet ist, dieses im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften aufzurechnen. Auch der gesetzgeberische Wille sei insoweit unzweifelhaft und eindeutig.

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte; weiterhin wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Leistungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Behandlung gewesen ist.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die zulässige Klage ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage begründet. Mit der Anfechtungsklage begehren die Kläger die Aufhebung der eine Rücknahme ablehnenden Verwaltungsakte. Die Verpflichtungsklage ist auf die Erteilung von Bescheiden durch den Beklagten gerichtet, durch die dieser die begehrte Änderung der bindenden Bewilligungsbescheide bewirken soll. Mit der Leistungsklage werden schließlich höhere Leistungen für den streitbefangenen Zeitraum geltend gemacht (BSG, Urteil vom 04. April 2017 – B 4 AS 6/16 R –,SozR 4-4200 § 40 Nr 12, Rn. 12).

Der Bescheid vom 8. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2016 ist rechtswidrig. Die Kläger werden hierdurch in ihren Rechten verletzt. Der Beklagte hat den Bescheid vom 23. Juni 2015 insoweit aufzuheben, als er die Rückzahlung des Darlehensbetrages von 560,30 € im Wege der Aufrechnung eines monatlichen Betrages i.H.v. 39,90 € ab 1. Juli 2015 begehrt.

Nach § 44 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sorgfalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Im vorliegenden Fall hat der Beklagte das Recht unrichtig angewandt, als er unzutreffender Weise davon ausgegangen ist, ab dem 1. Juli 2015 das gewährte Darlehen in monatlichen Beträgen von 39,90 € aufzurechnen.

Rechtsgrundlage für die Aufrechnung ist § 42a Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung (BGBl I S 453). Solange Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen, werden nach dieser Vorschrift Rückzahlungsansprüche aus Darlehen ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung i.H.v. 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs getilgt.

Die Vorschrift ist indessen nicht anwendbar auf die Aufrechnung eines Mietkautionsdarlehens.

Schon unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist der Ausschluss des Mietkautionsdarlehens nach § 22 Abs. 6 SGB II von der Tilgung durch Aufrechnung mit dem monatlichen Regelbedarf geboten. Ansonsten drohte eine nicht mit dem Gewährleistungsrecht aus Art 1 Abs. 1 iVm Art 20 Abs. 1 GG zu vereinbarende, weil sich über einen längeren Zeitraum hinziehende Unterversorgung der Leistungsberechtigten mit existenzsichernden Leistungen, ohne dass dem Aufrechnungsbetrag ein ihrer Disposition unterliegender Gegenwert gegenüberstünde. Zwar sind Leistungen zur Existenzsicherung nach der Rechtsprechung des BVerfG nur dann evident unzureichend, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Summe keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfG vom 23.7.2014 – 1 BvL 10/12 ua – RdNr 81). Ob dies der Fall ist, hängt in erster Linie von der Bemessung der Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab, bei deren Bestimmung dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zusteht. Hat er diesen genutzt, dann kommt es für die Existenzsicherung der Leistungsberechtigten jedoch im Weiteren auch darauf an, ob die so bemessenen Mittel tatsächlich als Leistungen erbracht werden und die ggf vorgenommene Minderung dieser Mittel aufgrund der hierzu berechtigenden gesetzlichen Grundlage gleichwohl ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die Regelung des § 42a Abs. 2 S 1 SGB II stellt eine solche gesetzliche Grundlage dar, die mit der dort normierten Tilgungsverpflichtung für ein Darlehen durch Aufrechnung mit dem monatlichen Regelbedarf die Höhe des dem Leistungsberechtigten tatsächlich zur Verfügung stehenden Existenzminimums mindert. Nun sind die den Leistungsberechtigten noch insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel zwar nicht schon deshalb evident unzureichend, weil eine Darlehenstilgung zu Lasten des Regelbedarfs erfolgt. Sind Sozialleistungen in einer bestimmten Höhe existenzsichernd, so folgt hieraus nicht zugleich auch, dass diese dem Leistungsberechtigten stets in voller Höhe für laufende Ausgaben zur Verfügung stehen müssen. Vielmehr ist es aufgrund der gesetzgeberischen Konzeption der Berechnung des Regelbedarfs auf der Grundlage einer Stichprobe der berechneten Verbrauchsausgaben unvermeidlich, dass mit der Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf die Kosten für einzelne Bedarfe nicht durchgängig gedeckt sind. Nicht jede vorübergehende Unterdeckung des Existenzminimums ist indessen verfassungsrechtlich bedenklich. Die Tilgungsverpflichtung findet indessen dann ihre Grenze, wenn sie nur unter länger andauerndem Einsatz des einem Leistungsberechtigten zur Verfügung stehenden finanziellen Spielraums erfüllt werden kann, ohne dass dem Aufrechnungsbetrag ein der Disposition des Leistungsberechtigten unterliegender Gegenwert und die eigenständige Entscheidung den Bedarf zu decken gegenüber stünde. So läge der Fall bei einer Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung mit dem maßgebenden monatlichen Regelbedarf nach § 22 Abs. 6 iVm § 42a Abs. 2 S 1 SGB II.

Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der gesetzlichen Konzeption setzt zwingend voraus, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts – einschließlich der in ihnen enthaltenen Ansparreserve – eigenverantwortlich eingesetzt werden können. Werden die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht nur punktuell, sondern auf längere Zeit vermindert, ist dem Leistungsberechtigten eine eigenverantwortliche Disposition bereits aus diesem Grunde nur noch eingeschränkt möglich (vgl. Kempny/Krüger, SGb 2013, 384, 385). Die Gefahr dessen liegt gerade im Zuge der Tilgung eines Mietkautionsdarlehens auf der Hand. Denn die Höhe der Mietsicherheit darf zwar das Dreifache der Nettomonatsmiete nicht übersteigen. Damit erreicht eine Mietkaution zumeist ein Mehrfaches des monatlichen Regelbedarfs. Ihre Tilgung nimmt deshalb im Allgemeinen einen längeren Zeitraum in Anspruch – wohl häufig mehr als ein Jahr. Bei der Darlehenstilgung im Falle der „Ansparreserve“ geht das Ansparen oder die Tilgung des Darlehens jedoch mit einem “Gegenwert” einher. Es soll für die Deckung eines bis dahin ungedeckten Bedarfs angespart oder, wenn er schon gedeckt ist, die Tilgungsverpflichtung für das hierfür erbrachte Darlehen bedient werden. An einem solchen Gegenwert mangelt es aber bei der Mietkaution.

Damit ist die Anwendung des § 42a Abs. 2 S 1 SGB II nach dem Gebot einer verfassungskonformen Auslegung im Wege einer teleologischen Reduktion der Gestalt einzuschränken, dass er nicht auf Mietkautionsdarlehen anwendbar ist (so auch im Ergebnis LSG NRW v. 29.06.2017, L 7 AS 607/17, RnNr 25; aA LSG NRW v. 11.05.2017, L 6 AS 111/14, RdNr 18).

Somit ist eine Aufrechnung im vorliegenden Fall ausgeschlossen und der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zuzulassen.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.