Tacheles Rechtsprechungsticker KW 47/2018

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil v. 09.08.2018 – B 14 AS 1/18 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – vorrangige Sozialleistungen – Pflicht zur Beantragung vorzeitiger Altersrente mit Rentenabschlägen – Unbilligkeit bei bevorstehender abschlagsfreier Altersrente für besonders langjährig Versicherte in 4 Monaten

Orientierungssatz (Redakteur)
Bundessozialgericht: Pauschale Rentenkürzung unzulässig

Die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente mit Abschlägen sei unbillig, weil der Kläger im Sinne von § 3 Unbilligkeitsverordnung “in nächster Zukunft” eine abschlagsfreie Altersrente beziehen könne.

Kurzfassung:
Liegt zwischen der abschlagsbehafteten und der abschlagsfreien Altersrente ein Abstand von vier Monaten, ist der Verweis auf die Inanspruchnahme der geminderten Altersrente nach § 3 Unbilligkeitsverordnung unbillig, weil in diesem Sinne die Möglichkeit der abschlagsfreien Altersrente “in nächster Zukunft” besteht.

Mit der Freistellung von der Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente im Hinblick auf eine “bevorstehende abschlagsfreie Altersrente” hat der Verordnungsgeber nach seiner Regelungsintention auf das Missverhältnis zwischen der Höhe der bei vorzeitiger Inanspruchnahme hinzunehmenden Abschläge im Rentenbezug einerseits und der vergleichsweise kurzen restlichen Bezugszeit von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bis zum Beginn der abschlagsfreien Altersrente andererseits reagiert. Daran gemessen ist eine zusätzliche Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen von vier Monaten bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von gegenwärtig nahezu 20 Jahren so kurz, dass der Verweis auf eine dauerhaft geminderte Altersrente einem Leistungsberechtigten nicht zuzumuten ist

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 12.10.2018 – L 9 AS 462/18 B ER

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Der Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II (in der Fassung seit dem 29. Dezember 2016) dürfte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit europarechtswidrig sein, da dieser nicht durch eine rechtfertigende gemeinschaftsrechtliche Schrankenregelung, insbesondere nicht Art. 24 Abs. 2 RL 38/2004/EG, gedeckt sein dürfte.

2. In der Literatur wird zumindest ganz überwiegend die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss europarechtswidrig ist, weil für das Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 keine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot (Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV -, Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004) geregelt, insbesondere die Einschränkungsmöglichkeit nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG nicht anwendbar sei, weil es kein Aufenthaltsrecht sei, das der Richtlinie 2004/38/EG Unterfalle (Devetzki/Janda, ZESAR 2017, 197, 203 ff.; Oberhäuser/Steffen, ZAR 2017, 149, 150 ff.; Leopold, in: jurisPK-SGB II, § 7 Rn. 99.16, Stand: 08.01.2018; G. Becker, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 50). Auch in weiten Teilen der Rechtsprechung der Landessozialgerichte wird mit im Wesentlichen gleicher Argumentation von einer (überwiegend wahrscheinlichen) Europarechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses ausgegangen (Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 17. Februar 2017 – L 6 AS 11/17 B ER -, juris, Rn. 23 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 6. Juni 2017 – L 2 AS 567/17 B ER -, juris, Rn. 40; LSG für das Land NRW, Beschluss vom 21. August 2017 – L 19 AS 1577/17 B ER -, juris, Rn. 29 ff.; Beschluss vom 26. September 2017 – L 6 AS 380/17 B ER -, juris, Rn. 27 ff.; a. A. Thüringer LSG, Beschluss vom 1. November 2017 L 4 AS 1225/17 B ER -, juris, Rn. 28).

3. Da die Rechtsfrage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II mit europäischem Recht vereinbar ist, nach Auffassung des Senats im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH als gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) erfordert (Art. 267 AEUV), entscheidet der Senat aufgrund einer Folgenabwägung (ebenso z. B. LSG für das Land NRW, Beschluss vom 8. Juni 2018 – L 7 AS 420/18 B ER).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Leitsatz (Juris)
1.Der Beschwerde eines Leistungsträgers gegen eine einstweilige Anordnung, in der er zur vorläufigen Erbringung von Leistungen verpflichtet wurde, fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis, wenn er vorläufige Leistungen erbracht hat.

2. Zur Folgenabwägung im Eilverfahren hinsichtlich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II.

2.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 30.10.2018 – L 19 AS 1472/18 B ER – rechtskräftig

Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU. i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV

Orientierungssatz (Redakteur)
1. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG sieht vor, dass einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge – auch ohne Existenzsicherung i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (§ 28 Abs. 1 S. 2 AufenthG) – eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG findet aufgrund des in Art. 18 Abs. 1 AEUV statuierten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf minderjährige Unionsbürger, die über ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU verfügen, und ihre Eltern Anwendung (vgl. Beschlüsse des Senats vom 30.11.2015 – L 19 AS 1713/15 B ER, vom 20.01.2016 – L 19 AS 1824/15 B ER, vom 22.06.2016 – L 19 AS 924/16 B ER und vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER; Urteil des Senats vom 01.06.2015 – L 19 AS 1923/14; LSG NRW, Beschluss vom 26.09.2017 – L 6 AS 380/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2016 – L 25 AS 1331/16 B ER; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2017, § 11 FreizügG/EU, Rn. 38 f.; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2017 – L 31 AS 1000/17 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 27.07.2017 – L 21 AS 782/17 B ER; SG Berlin, Urteil vom 09.07.2018 – S 135 AS 23938/15).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Hildesheim – S 39 AS 1382/17 vom 24.10.2018

Normen: § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II – Schlagworte: Landkreis Göttingen, Analyse und Konzepte, Angemessenheitsgrenzen, Kosten der Unterkunft

Orientierungssatz (Redakteur)
Die 39. Kammer schließt sich den Ausführungen der 26. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim in dessen Urteil vom 05. April 2017 (Az. S 26 AS 504/15) an und macht sich diese zu Eigen. Darin heißt es:
„Das Konzept des Beklagten erfüllt in wesentlichen Punkten nicht die Mindestanforderungen an ein schlüssiges Konzept.

Quelle: www.anwaltskanzlei-adam.de

3.2 – SG Heilbronn, Urt. v. 11.10.2018 – S 15 AS 705/18

Kosten für Unterbringung im Frauenhaus zahlt Herkunftskommune

Das SG Heilbronn hat entschieden, dass die Herkunftskommune die Kosten für die Unterbringung und Betreuung in einem Frauenhaus zahlt, wenn eine Hilfeempfängerin vor häuslicher Gewalt in eine andere Stadt flüchten muss.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts kommt es nicht darauf an, ob der Aufenthalt im Frauenhaus in diesem Einzelfall tatsächlich bis Juli 2017 erforderlich war. Die zu Grunde liegende Vorschrift des § 36a SGB II solle eine gerechte Lastenverteilung zwischen unterschiedlichen kommunalen Trägern bewirken. Derjenige Träger, der ein Frauenhaus unterhalte und damit auch Frauen aus anderen Gemeinden und ihren Kindern Zuflucht biete, solle nicht auf den Kosten hierfür “sitzen bleiben”. Indem sich die Aufnahme einer Frau und ggf. deren Kindern aus dem Zuständigkeitsbereich eines anderen Hilfeträgers für die Betreibergemeinde weitgehend kostenneutral darstelle, werde die Bereitschaft, Frauen aus einer anderen Gemeinde aufzunehmen, erhöht. Damit diene die Vorschrift dem Schutz der leistungsberechtigten Frauen und ihrer Kinder. Dieser Schutzzweck würde aber unterlaufen, wenn in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob die Zuflucht und der anschließende Aufenthalt im Frauenhaus tatsächlich erforderlich gewesen sei.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

juris-Redaktion

Quelle: Pressemitteilung des SG Heilbronn v. 07.11.2018: www.juris.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht  (SGB III)

4.1 – Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.10.2018 – L 6 R 453/15

Zum Umfang des Erstattungsanspruchs eines Jobcenters gegen einen Rentenversicherungsträger bei einer Rentennachzahlung

Leitsatz
Für einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X ist (insoweit) kein Raum, soweit ein Träger seine Leistungen auch bei (rechtzeitiger) Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (vgl. § 104 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB X).

§ 34a SGB II (idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006, BGBl. I 1706) entbindet vom Erfordernis der Personenidentität und erweitert damit die zu erstattenden Leistungen.

Quelle: www.landesrecht.rlp.de

4.2 – SG Heilbronn, Urt. v. 16.10. 2018 – S 1 AL 3799/16

Kein Insolvenzgeld bei bereits bestehender Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers

Das SG Heilbronn hat einen Anspruch auf Insolvenzgeld abgelehnt, wenn ein Arbeitgeber bereits zu Beginn einer etwaigen betrieblichen Tätigkeit zahlungsunfähig oder überschuldet war.

Nach Auffassung des Sozialgerichts sichert die Gewährung von Insolvenzgeld nur die Nichterfüllung der Zahlungspflicht eines Arbeitgebers ab, wenn er in Vermögensverfall geraten ist. Sie komme dann nicht in Betracht, wenn ein Arbeitgeber bereits zu Beginn einer etwaigen betrieblichen Tätigkeit zahlungsunfähig oder überschuldet gewesen sei. Dies treffe hierzu:

Quelle: www.juris.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – SG Dresden, Urt. v. 03.09.2018 – S 42 SO 80/15

Kosten für Ausstellung eines russischen Passes als Werbungskosten von Rente abziehbar

Das SG Dresden hat entschieden, dass Kosten für die Ausstellung eines russischen Passes, die Lebensbescheinigung und die Unterschriftsbeglaubigung als “Werbungskosten” von den Einnahmen aus einer russischen Rente abgezogen werden können.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts sind die Kosten der Passbeschaffung nach § 82 Abs. 2 Nr. 4 SGB XII vom Einkommen aus der Rente abzusetzen. Es sei gerichtsbekannt, dass für den Bezug der russischen Rente im Ausland die jährliche Vorlage einer Lebensbescheinigung erforderlich sei; für den Erhalt der Lebensbescheinigung sei es wiederum erforderlich, sich mit einem russischen Pass auszuweisen. Die Aufwendungen der Kosten sei damit auch kausal für den Bezug der Rente erst im April 2014. Die Klägerin könne auch darauf verwiesen werden, dass die Kosten der Passbeschaffung bei der Berechnung des Regelsatzes eingestellt seien. Denn die Klägerin verfüge über einen deutschen Pass und komme damit mit diesem der Ausweisfunktion und dem Identitätsnachweis hier vor Ort nach. Der russische Pass sei allein dafür erforderlich, um regelmäßig die russische Rente zu beziehen. Die Kosten zweier Pässe seien im Regelsatz aber nicht berücksichtigt.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

juris-Redaktion

Quelle: Pressemitteilung des SG Dresden v. 09.08.2018: www.juris.de

5.2 – SG Dresden, Beschluss v. 08.10.2018 – S 42 SO 266/18 ER

Ferienbetreuung im gewohnten Umfeld kann auch bei Mehrkosten gerechtfertigt sein

Das SG Dresden hat entschieden, dass bei Hilfebedürftigen, die Leistungen der Eingliederung erhalten, eine Ferienbetreuung im gewohnten Umfeld angezeigt sein kann, auch wenn dies Mehrkosten verursacht.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts gehört die vom Antragsteller begehrte Ferienbetreuung grundsätzlich zu den Leistungen der Eingliederungshilfe. Gerade aufgrund der vorliegenden geistigen Behinderung habe der Antragsteller zumindest im Rahmen des Eilverfahrens einen Anspruch auf kontinuierliche Betreuung in der vertrauten Umgebung, weil ihm zurzeit nicht eine isolierte Ferienbetreuung in der “fremden” Schule zugemutet werden könne. Zudem sei auch nicht klar, ob durch die bisherige Ferienbetreuung überhaupt Mehrkosten gegenüber der wohnortnahen Betreuung entstünden.

Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.

juris-Redaktion

Quelle: Pressemitteilung des SG Dresden v. 09.11.2018: www.juris.de

6.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Asylrecht

6.1 – Sozialgericht Hildesheim – Az.: S 42 AY 1/18 vom 19.10.2018

Normen: § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, § 2 AsylbLG – Schlagworte: Ausbildung während Bezug von AsylbLG-Leistungen, Leistungsausschluss, unbilliger Härte hier befürwortend

Leitsatz (Redakteur)
Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport habe zwischenzeitlich am 04. Oktober 2017 einen Erlass herausgegeben, nach dem Leistungsbeziehern nach § 2 AsylbLG während einer förderungsfähigen Ausbildung als Härtefall nach § 22 Absatz 1 Satz 2 SGB XII Leistungen zu bewilligen seien. Auf den Beschluss des Landessozialgerichtes (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 13. Februar 2018 — L 8 AY 1/18 B ER — werde hingewiesen.

Quelle: www.anwaltskanzlei-adam.de

7.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 – Pflicht zur Mitwirkung: Bundestag beschließt Verschärfung des Asylgesetzes

Asylbewerber müssen künftig auch bei Widerrufs- und Rücknahmeverfahren mitwirken und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bekommt mehr Rechte im Fall einer Verweigerung.

Spätestens nach drei Jahren müsse bei einer Asyl-Entscheidung geprüft werden, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder für eine Rücknahme vorliegen. Wenn die Prüfung ergebe, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr vorliegen, müsse diese unverzüglich widerrufen beziehungsweise zurückgenommen werden.

juris-Redaktion

Quelle: Newsletter Bundesregierung aktuell v. 09.11.2018

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker