Tacheles Rechtsprechungsticker KW 52/2018

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.11.2018 – L 15 AS 55/1

Leitsatz (Juris)
1. Eine für Ratsmitglieder und Mitglieder des Verwaltungsausschusses gezahlte Aufwandsentschädigung, die sowohl dem Ersatz von Aufwendungen als auch dem Ersatz von Verdienstausfall dient, ist als Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 S.1 SGB II zu berücksichtigen.

2. An einer Zweckbindung im Sinne von § 11a Abs. 3 SGB II fehlt es jedenfalls dann, wenn das Ratsmitglied nach der Entschädigungssatzung weder tatsächlich noch rechtlich gehindert ist, die gezahlte Aufwandsentschädigung zur Deckung von Bedarfen nach dem SGB II einzusetzen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

1.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.09.2018 – L 11 AS 1124/15

Leitsatz (Juris)
1. Dem kommunalen Träger steht aus § 44a Abs 6 Satz 4 SGB II ein Klagerecht zu. Richtige Klageart ist die Feststellungsklage gem. § 55 Abs 1 Nr 1 SGG gerichtet auf die gerichtliche Feststellung des Umfangs der Hilfebedürftigkeit in konkreten Einzelfällen der Leistungsgewährung.

2. Die abstrakte Überprüfung der Fachlichen Hinweise der Agentur für Arbeit an das Jobcenter für die SGB II-Fallbearbeitung kann nicht zulässiger Gegenstand einer Klage nach § 44a Abs 6 Satz 4 SGB II sein. Eine solche Überprüfung verwaltungsinterner Vorschriften kennt das SGG nicht.

3. Ergibt sich die Beanstandung des kommunalen Trägers einzig aus nach seiner Auffassung unzutreffenden Fachlichen Hinweisen, kann ein Feststellungsinteresse für eine Klage nach § 44a Abs 6 Satz 4 SGB II unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Präjudizialität angenommen werden.

4. Soweit § 31a Abs 2 Satz 1 SGB II – erste Stufe der Sanktion bei unter 25jährigen Personen – sowohl dahingehend ausgelegt werden kann, dass Einkommen und Vermögen auf die KdUH-Bedarfe nach Eintritt des Sanktionsereignisses anzurechnen sind, als auch dahingehend, dass die KdUH unverändert in der vor dem Eintritt des Sanktionsereignisses festgestellten Höhe zu erbringen sind, ist wegen des Ausnahmecharakters von Sanktionen als Eingriff in das grundgesetzlich geschützte Existenzminimum die für den Hilfeempfänger günstigere Auslegungsmöglichkeit zu wählen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

1.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 05.12.2018 – L 7 AS 977/18 B ER

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Die Verweigerung einer Identitätsfeststellung führt nicht automatisch dazu, dass es sich um einen unzulässigen Antrag handelt (vgl. aber BSG Beschluss vom 06.02.2018, B 5 1/17 BH Rz. 5 zu der Mindestanforderung eines Antrags im gerichtlichen Verfahren). Vielmehr muss eine Behörde bei wirksamer Antragsstellung trotz verweigerter Identitätsfeststellung gegebenenfalls Leistungen versagen (so auch der Sachverhalt in den Entscheidungen LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.05.2018, L 7 AS 4682/17 und LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 15.04.2014, L 31 AS 762/14 B ER). Hierzu ist von der Behörde ein ordnungsgemäßes Verfahren zum Erlass eines Versagensbescheids durchzuführen, bei der der Bf. nochmals Gelegenheit hat, die angeforderten Unterlagen vorzulegen.

2. Der Bf. wird seinen Identitätsnachweis führen müssen, damit der Bg. die Identität des Bf. prüfen (zur Bedeutung der Identitätsfeststellung für die Leistungserbringung vgl. BSG Beschluss vom 06.02.2018, B 5 12/17 BH einerseits, zur Notwendigkeit von Leistungen “in Höhe des unabweisbar Gebotenen” bei fehlender Identitätsfeststellung BSG Urteil vom 12.05.2017, B 7 AY 1/16 R andererseits; vgl. auch LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.05.2018, L 7 AS 4682/17 Rz 37 zur Verweigerung von Leistungen im Rahmen der erstmaligen Identitätsfeststellung und Rz 38 ff, wenn letztlich keine Zweifel an der Identität eines Antragsstellers bestehen).

Leitsatz (Juris)
1. Die Nichtvorlage eines Identitätsnachweises kann die Versagung von Leistungen nach dem SGB II zur Folge habe
2. Das Jobcenter kann die Vorlage einer Meldebescheinigung fordern, um seine örtliche Zuständigkeit prüfen zu können.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 19.10.2016 – L 4 AS 736/15 – rechtskräftig

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Wohngeldnachzahlung für mehrere Monate – keine analoge Anwendung von § 11a Abs 1 Nr 1 SGB 2

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Beim Wohngeld handelt es sich um eine Einnahme in Geld im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

2. Eine Sonderkonstellation im Sinne von § 11a SGB II, in der ein tatsächlich erzieltes Einkommen gleichwohl nicht zu berücksichtigen wäre, ist nicht gegeben.

Leitsatz (Juris)
Die Rechtsprechung des BSG (Urt v 25. Juni 2015, B 14 AS 17/14 R) zur analogen Anwendung von § 11a Abs 1 Nr 1 SGB II auf Leistungen nach dem AsylbLG ist auf (Nach-)Zahlungen von Leistungen nach dem WoGG nicht übertragbar.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.5 – Sächsisches Landessozialgericht, Urt. v. 08.11.2018 – L 7 AS 1086/14

Orientierungssatz (Redakteur)
Zur Rechtsfrage, ob Einnahmen aus Straftaten als Einkommen oder Vermögen auf den Bedarf des SGB II-Leistungsempfängers angerechnet werden dürfen, hier bejahend.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Auch als Einkommen sehend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 31.08.2017 – L 31 AS 1462/17 B ER, vgl. auch Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 82 SGB XII Rn 25.2

Ob in der Sozialhilfe rechtswidrig oder gar durch strafbares Verhalten erlangte Einnahmen Einkommen darstellen, ist in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.

1.6 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 03.12.2018 – L 18 AS 1712/17

Orientierungssatz (Redakteur)
Hat der Hilfebedürftige allerdings bereits Heizmaterial vor der Antragstellung auf SGB II-Leistungen gekauft und bezahlt, kann er diese Kosten nicht nach § 22 Abs. 1 SGB II vom Grundsicherungsträger erstattet bekommen, weil es sich hierbei nicht um aktuelle tatsächliche Aufwendungen handelt und ein Anspruch auf Ersatz bereits vor Antragstellung getätigter Aufwendungen nicht besteht. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II in der seit 1. Januar 2011 geltenden und hier anwendbaren Fassung werden SGB II-Leistungen nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.7 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.11.2018 – L 25 AS 3043/14

Orientierungssatz (Redakteur)
Kein Mehrbedarf für Ernährung hier bei Laktoseintolerenz.

Es reichte hier im Einzelfall insoweit eine Vollkosternährung unter Vermeidung von nicht verträglichen Nahrungsmitteln aus.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.8 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 11.10.2018 – L 7 AS 1331/17

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten – grob fahrlässige Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit – Belastungswirkung eines Grundlagenbescheides

Keine Rückforderung von Arbeitslosengeld II nach Ausbildungsabbruch

Orientierungssatz (Redakteur)
Keine Ersatzpflicht des Hilfebedürftigen i. S. d. § 34 SGB II, denn Dem Regelungskonzept des § 34 SGB II ist eine Befugnis zum Erlass eines Grundlagenbescheides nicht zu entnehmen (abweichend i. Erg. LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 22.04.2013 – L 19 AS 1303/12).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

S.a. dazu:
Keine Rückforderung von Arbeitslosengeld II nach Ausbildungsabbruch

Das LSG Essen hat entschieden, dass der Verlust eines Ausbildungsplatzes durch außerordentliche Kündigung eine Leistungskürzung rechtfertigen kann, nicht jedoch eine Pflicht zum Ersatz von SGB II-Leistungen.

weiter: www.juris.de

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Berlin, Urt. v. 21.09.2018 – S 64 AS 7585/16

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Eingliederungsvereinbarung – Abbruch einer vereinbarten Bildungsmaßnahme – Rechtmäßigkeit des Schadensersatzanspruchs des Grundsicherungsträgers

Leitsatz
Aus § 15 Abs 3 SGB 2 a.F. folgt kein Schadensersatzanspruch des Jobcenters gegen den Leistungsempfänger wegen Abbruchs einer Maßnahme aus der Eingliederungsvereinbarung, wenn die darin getroffenen Schadensersatzregelungen in sich widersprüchlich sind.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – SG Köln, Urt. v. 03.12.2018 – S 43 AS 874717

SG Köln vom 03.12.2018: Das von Rödl & Partner vorgelegte Konzept zu den angemessenen Unterkunftskosten im Rhein-Erft- Kreis ist nicht schlüssig

Quelle: RA Hötte, ES 50, Roderburgmühle 4, 52222 Stolberg

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Arbeitsförderung (SGB III)

3.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16.11.2018 – L 11 AL 140/18 B ER

Bewilligung von Berufsausbildungsbeihilfe für einen Ausländer (ablehnend hier)

Leitsatz (Juris)
Die Erwartung eines rechtmäßigen und dauerhaften Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland (als Voraussetzung für einen Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe gemäß §§ 56ff., 132 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB III) setzt bei Asylsuchenden voraus, dass aus ex-ante-Sicht eine überwiegend wahrscheinliche Aussicht darauf besteht, dass die jeweilige Person den Status als Flüchtling (§§ 3ff. AsylG) oder einen subsidiären Schutz (§ 4 AsylVfG) erlangen wird.

Eine solche positive Bleibeperspektive kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht bejaht werden, wenn die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für das betreffende Herkunftsland berechnete sog. Gesamtschutzquote 35,6 % beträgt und auch keine individuellen Umstände glaubhaft gemacht worden sind, die eine hiervon abweichende Erwartung rechtfertigen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 14.06.2018 – L 18 SO 86/18 B ER

Orientierungssatz (Redakteur)
Zur Übernahme der Schulden bei der Vermieterin nach § 36 Abs. 1 S. 1 bzw. nach § 67 SGB XII, hier verneinend.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

5.1 – Arbeitshilfe: Familiennachzug zu subsidiär Geschützten von RA Robert Stuhr, Stand: November 2018, Deutscher Caritasverband e.V.

Familiennachzug zu subsidiär Geschützten
Erläuterungen und Beratungshinweise
Autor: Robert Stuhr, Rechtsberater und Leiter des Bildungsprojekts Recht und Migration (Erding)
Stand: November 2018

Inhalt
I Familiennachzug nach § 36a AufenthG
Einleitende Anmerkungen
§ 36a Absatz 1: Personenkreis, Voraussetzungen und Ermessen
§ 36a Absatz 2: Humanitäre Gründe und Kontingentierung
§ 36a Absatz 3: Ausschlussgründe
§ 36a Absatz 4 und 5: Verweisungen auf andere Vorschriften
Hinweise zum Verwaltungsverfahren
Wie kann man als Berater(in) unterstützen?

II Familiennachzug sonstiger Familienangehöriger
Familiennachzug über § 36 Absatz 2 AufenthG
Familiennachzug über § 22 Absatz 1 AufenthG
Urteil des VG Berlin vom 07.11.2017 zur Anwendung des § 22.1 AufenthG
Verhältnis von § 36a zu § 22 Abs. 1 und § 36 Abs. 2

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5.2 – Jobcenter als Disziplinierungsinstitutionen – “Folgsamkeit der Klienten als Ressource”

Interview mit Bettina Grimmer über Jobcenter als Disziplinierungsinstitutionen

Wir wünschen allen Lesern ein friedliches und besinnliches Weihnachtsfest.

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker