Tacheles Rechtsprechungsticker KW 18/2019

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 09.04.2019 – L 7 AS 2024/18

Orientierungssatz (Redakteur)
Die Verwertung einer nicht selbst genutzten Immobilie ist dann nicht offensichtlich unwirtschaftlich, wenn der erzielbare Verkaufspreis (Verkehrswert) 80 Prozent des Sachwerts beträgt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 27.03.2019 – L 7 AS 27/19 B

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II in der seit 29. Dezember 2016 geltenden Fassung ist verfassungsgemäß.

Orientierungssatz (Redakteur)
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hat der Senat trotz der entsprechenden Vorlage des Sozialgerichts Mainz (Beschluss vom 18. April 2016, S 3 AS 149/16) zum Bundesverfassungsgericht (dortiges Aktenzeichen 1 BvL 4/16) in Übereinstimmung mit der gefestigten Rechtsprechung der Landessozialgerichte nicht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 07.12.2018 – L 6 AS 503/18 B ER – rechtskräftig

Orientierungssatz (Redakteur)
Bulgarische Antragstellerin hat Anspruch im einstweiligen Rechtsschutz auf ALG II, denn bereits bei einem Verdienst von mehr als 160,00 EUR netto monatlich kann nicht mehr von einer unwesentlichen Tätigkeit mit völlig untergeordneter Bedeutung ausgegangen werden (LSG Essen, 23.12.2015 – L 12 AS 2000/15 B ER).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 08.04.2019 – L 2 AS 1812/18 NZB – rechtskräftig

Orientierungssatz (Redakteur)
Der Leistungsberechtigte wird dazu verpflichtet einen Sozialleistungsantrag zu stellen, wenn er die Rundfunkgebührenbefreiung erhalten möchte. Tut er dies nicht, wird ein Härtefall nicht anerkannt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – SG Stralsund, Urteil vom 10.04.2019 – S 7 AS 147/17

Leitsatz (Juris)
Eingeschränkte Berücksichtigung von Elterngeld bei Arbeitslosengeld II nach § 10 Abs. 5 Satz 2 BEEG.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

2.2 – SG Stralsund, Urteil vom 10.04.2019 – S 7 AS 468/17

Leitsatz (Juris)
Eingeschränkte Anrechnung von Elterngeld als Einkommen nach § 10 Abs. 5 Satz 2 BEEG auch nach ergangenem Schätzungsbescheid des Finanzamts bei selbstständiger Erwerbstätigkeit.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

2.3 – Sozialgericht Stuttgart, Urt. v. 28.03.2019 – S 12 AS 4117/18

Berücksichtigung kostenloser Verpflegung als Einkommen. Für die Berechnung des Einkommens ist es unerheblich, ob der Kläger die ihm zustehende Verpflegung tatsächlich in Anspruch genommen hat.

Pauschale Anrechnung von Betriebsverpflegung auf Einkommen. § 2 Abs. 5 ALG II-V ist rechtmäßig (entgegen SG Berlin, Urteil vom 23. März 2015 – S 175 AS 15482/14).

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellte kostenlose Verpflegung ist als Einkommen der Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen.

2. Für die Berechnung des Einkommens ist es unerheblich, ob der Kläger die ihm zustehende Verpflegung tatsächlich in Anspruch genommen hat (ebenso Strnischa, in: Oestreicher/Decker, SGB II/SGB XII, 85. EL Okt. 2018, § 11 SGB II Rn. 92). Aus diesem Grund bedurfte es auch keiner Ermittlungen, ob dies tatsächlich der Fall war. Eine andere Auslegung lässt der eindeutige Wortlaut des § 2 Abs. 5 ALG-II-VO (“bereitgestellt”) nicht zu (anders Geiger, in: Münder, LPK-SGB II, 6. Aufl., § 11 Rn. 45). Eine einschränkende Auslegung, wie vom SG Berlin befürwortet (Urteil vom 23. März 2015 – S 175 AS 15482/14), übersteigt die Wortlautgrenze und ist darum unzulässig.

3. Schließlich greift § 2 Abs. 5 ALG-II-VO nicht in rechtswidriger Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Leistungsberechtigten ein (so aber SG Berlin, Urteil vom 23. März 2015 – S 175 AS 15482/14 –,  mit der Begründung, die Vorschrift führe dazu, den einzelnen Leistungsberechtigten zu einer bestimmten Ernährung anzuhalten, da er durch die mit der Einkommensanrechnung verbundenen Leistungskürzung eine eigene Entscheidung über seine Verpflegung während der Arbeitszeit nur unter Einsatz zusätzlicher finanzieller Aufwendungen treffen und umsetzen könne).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – Sozialgericht Stade, Urteil v. 28.03.2019 – S 39 AS 67/18

Zur Auslegung von § 7 Abs. 6 Nr. 2 b SGB II.

Orientierungssatz (Redakteur)
Jobcenter muss Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II weiter gewähren auch nach Ablehnung eines BAföG-Antrages während des diesbezüglich noch laufenden Widerspruchsverfahrens.

Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt (Bundestag Drucksache 18/8041 Seite 29), sollen durch diese Regelung mögliche Zahlungslücken aufgrund der Bearbeitungsdauer im Bereich der Berufsausbildungsbeihilfe vermieden werden, damit der Beginn der Berufsausbildung nicht erschwert oder gefährdet wird. Da bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens beim zuständigen BAföG-Amt noch nicht sicher ist, ob BAföG-Leistungen von der zuständigen Stelle gewährt werden, würde bei einer Nichtberücksichtigung des Widerspruchsverfahrens erneut eine Zahlungslücke auftreten, die die Berufsausbildung erschweren oder gefährden kann. Eine wirksame Verhinderung von Zahlungslücken bei einer möglicherweise noch erfolgenden Bewilligung von BAföG, kann nur dadurch verhindert werden, dass auch während des laufenden Widerspruchsverfahrens weiterhin ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II besteht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – SG Kassel, Urt. v. 27.02.2019 – S 7 AS 29/19

Leitsatz (Juris)
1. Die Grundsätze des § 73 Abs. 6 SGG gelten auch im Rahmen der Vollmachtsvorlage im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Die Behörde kann das Vorlegen einer Vollmacht des tätig gewordenen Rechtsanwaltes gem. § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB X nur bei sachlich oder zeitlich gerechtfertigten Zweifeln an ihrer Wirksamkeit verlangen.

2. Es fehlt an der Sachentscheidungsbefugnis des Gerichtes bei rechtswidrig als unzulässig verworfenen Widerspruch. Die Behörde ist auf eine hilfsweise zur Leistungsklage erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1, 2 SGG) unter isolierter Aufhebung des Widerspruchsbescheides zur Bescheidung in der Sache zu verpflichten.

Quelle: www.lareda.hessenrecht.hessen.de

2.6 – SG Marburg, Beschl. v. 15.03.2019 – S 10 SF 54/17 E

Leitsatz (Juris)
1. Die Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf eine Verfahrensgebühr tritt bereits mit der Entstehung der betroffenen Gebühren ein; auf die Erfüllung der anwaltlichen Vergütungsforderung kommt es hierfür nicht an.

2. Gleichwohl können beide Gebühren in voller Höhe geltend gemacht werden, solange insgesamt nicht mehr als die um den Anrechnungsbetrag verringerte Summe verlangt wird.

3. Für die Vergütungsfestsetzung des im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts gelten insoweit dieselben Regeln wie für den abgelösten Anspruch gegen den Auftraggeber.

4. Bis zum Erreichen der Kappungsgrenze wirkt sich der Zufluss einer Teilzahlung auf die Geschäftsgebühr nicht auf die Durchsetzung des Anspruchs auf die volle Verfahrensgebühr gegen die Staatskasse aus.

Quelle: www.lareda.hessenrecht.hessen.de

2.7 – Sozialgericht Düsseldorf, Urt. v. 19.03.2019 – S 29 AS 4963/16, S 29 AS 1734/16, S 29 AS 4623/16 u. S 29 AS 4648/17

Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft

Orientierungssatz (Redakteur)
Ein reines Angebotsmietenkonzept genügt nicht den Anforderungen an eine realitätsnahe Ermittlung des gesamten Wohnungsmarkts.

Das Konzept ist zusammengefasst von der Ansicht getragen, dass sich im Vergleich beider Datenquellen nur zeigt, wie viele Leistungsempfänger unangemessen teuer wohnen. Einen definierten Mechanismus für einen Rückschluss von den Bestandsmieten auf die Festlegung der angemessenen Mietkosten gibt es nicht. Es besteht zwar Methodenfreiheit, aber diese beinhaltet nicht, dass ein Teil der notwendigerweise erhobenen Daten keinen entscheidenden Einfluss auf die Ermittlung der Angemessenheitsgrenze haben kann.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 08.04.2019 – L 10 AL 23/19 B ER

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Zahlung von Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) für äthiopische Staatsangehörige, hier ablehnend.

2. Gegenbenfalls könnte die Antargstellerin Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG iVm dem SGB XII erhalten, sofern in ihrem Fall eine besondere Härte angenommen werden könnte (§ 22 Abs 1 Satz 2 SGB XII – vgl dazu auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.02.2018 – L 8 AY 1/18 B ER ; dagegen aber LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.02.2018 – L 20 AY 4/18 B ER).

Leitsatz (Juris)
1. Beim Vorliegen einer Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines Asylverfahrens und einer negativen Prognose zur Erwartung eines dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland kommen Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe an Ausländer nicht in Betracht.

2. Auch die ungewisse Erwartung, dass nach Abschluss des Asylverfahrens eine Duldung bis zur Beendigung der Berufsausbildung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG und daran anschließend für eine Beschäftigung für weitere zwei Jahre eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18a Abs. 1a AufenthG erteilt werden könnte, führt alleine nicht zu einer positiven Prognose.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Sächsisches LSG, Beschluss v. 22.05.2018 – L 8 SO 121/17 B ER

Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – stationäre Pflege – Bereitstellung von Mitteln zur Andickung von Getränken – Hilfe zum Lebensunterhalt – notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen – darin erbrachter Lebensunterhalt – Versorgungsvertrag nach § 72 SGB 11 iVm Rahmenvertrag nach § 75 SGB 11 – weiterer notwendiger Lebensunterhalt

Zur Gewährung eines Mehrbedarfs für Ernährung für einen Heimbewohner.

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Vorläufige Übernahme der Kosten für ein Mittel zum Andicken von Getränken im Rahmen von Leistungen nach dem SGB XII.

2. Im vorliegenden Fall kommt eine Übernahme der Kosten für das Dickungspulver als weiterer notwendiger Lebensunterhalt nach § 27b Abs. 2 SGB XII in Betracht, weil es nach Maßgabe des Leistungserbringungsrechts im Pflegeheim des Beigeladenen nicht als notwendiger Lebensunterhalt im Sinne des § 27b Abs. 1 SGB XII zu erbringen ist.

3. Dem Anordnungsanspruch kann der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII (dazu BSG, Urteil vom 30.06.2016 – B 8 SO 7/15 R; Urteil vom 19.05.2009 – B 8 SO 32/07 R –) schon deshalb nicht entgegengehalten werden, weil keine vorrangige Leistungspflicht der beigeladenen Krankenkasse besteht.

5.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

5.1 – VG Greifswald 2. Kammer, Beschluss vom 17.04.2019, 2 B 361/19 HGW

Verteilung von Asylbewerbern; Änderung einer Wohnsitzauflage

Leitsatz (Juris)
1. Bei der Anwendung des § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG sind die Vorgaben des Art. 18 Abs. 6 der Richtlinie 2013/EU zu beachten. Danach haben die Mitgliedsstaaten und damit die für sie handelnden Ausländerbehörden dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller auf internationalen Schutz nur dann in eine andere Einrichtung verlegt werden, wenn dies notwendig ist.

2. Diese EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33 hat seit Juli 2015 eine unmittelbare Rechtswirkung, da sie bis Juli 2015 nicht ins innerdeutsche Recht umgesetzt wurde, d.h., sie kann vor jedem Gericht durchgesetzt werden.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

5.2 – SG Berlin verurteilt JobCenter: Kostenübernahme für private Haftpflicht- und Hausratversicherungen, ein Beitrag von Rechtsanwalt Martin Felske,

Kurth Rechtsanwälte & Fachanwälte

Rechtstipp vom 18.04.2019
Ich hatte den nachfolgenden Fall – wohl mit anhaltender Relevanz – zu bearbeiten, den ich aufgrund meines sozial- und versicherungsrechtlichen Schwerpunkts übernahm.

Unser Mandant erhielt Leistungen des JobCenters in gesetzlicher Höhe. Durch den Mietvertrag war er u. a. verpflichtet, zu Beginn des Mietverhältnisses eine private Haftpflichtversicherung und private Hausratversicherung abzuschließen und für die Dauer des Mietverhältnisses aufrechtzuerhalten; dies tat er auch.

Erfolgslos argumentierte das JobCenter mit angeblicher Unwirksamkeit der Klausel und Hinweis an unseren Mandanten, er könne dagegen verstoßen und eine darauf gestützte Kündigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter wäre unwirksam. Dieses zivilrechtliche und im Hinblick auf die Wohnungsknappheit in Berlin „schwierige“ Argument drang nicht durch. Das Sozialgericht folgte unserer Argumentation und verurteilte das JobCenter zur Erstattung der Prämien als Kosten der Unterkunft – mit dauerndem Erfolg auch für die nachfolgenden Jahre.

Die hier besprochene Entscheidung: Sozialgericht Berlin, Urteil vom 24.07.2017 – S 109 AS 25036/15.

Quelle: www.anwalt.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker